Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Stand der Arbeiterbewegung
1886 51,8 Pfennige
1887 53,6
1889 61,7
1890 67,9
1891 77,9

Es ist nicht zu verkennen, daß bei diesen Preisen die niedrig gelohnten Ar¬
beiter bei starker Familie Mühe haben, mit ihren: Verdienst auszukommen.
Diese Preissteigerilngen gaben der von svzialdemokratischer Seite seit Jahren
betriebenen Agitation gegen die bestehenden Kornzölle neue Nahrung. Auf
Veranlassung der Parteileitung wurden im Laufe des Juni in allen größern
Städten Volksversammlungen veranstaltet, in Berlin allein an einem Tage
acht. Diese waren von Tausenden besucht. Es wurde" Resolutionen ange¬
nommen, die verlangten, die Kornzölle zeitweise aufzuheben und zuletzt ganz zu
beseitige,?. Gleichzeitig demonstrirte auch der Freisinn lebhaft gegen die Korn¬
zölle und gab damit diesem Teile der Bewegung eine über die Kreise der
Sozialdemokratie hinausgehende Bedeutung. Auch diese Agitation hat ihr
Ziel uicht erreicht. Bekanntlich hat sich die Regierung nicht zu überzeugen
vermocht, daß eine Suspension der Kornzölle imstande sein werde, die Brot¬
preise sofort zu ermüßigen. Doch wird eine dauernde Ermäßigung von dem
demnächst abzuschließenden österreichischen Handelsvertrag erwartet.

Neben diesen Streiks und Demonstrationen hat es im verflossenen Halb¬
jahre, wie bisher, auch nicht an jener Agitation gefehlt, dnrch die für die
Sozialdemokratie die noch abseits stehenden Arbeitermassen gewonnen werden
sollen, und nicht weniger sind die Anstrengungen fortgesetzt worden, die Or¬
ganisation der Partei zu vervollständigen.

Den geringsten Anhang besitzt die Svzialdemokrntie noch immer unter
der ländlichen Bevölkerung. Um diese zu bearbeiten, sind im Rheinland, in
Westfalen, Sachsen, Hannover besondre Agitationskvmitecs eingesetzt worden.
Diese haben massenhaft unter dem ländlichen Gesinde sozialdemokratische Bro¬
schüren verbreitet. Um sich leichter Eingang zu verschaffen, wurde insbesondre
für die Aufhebung der Gesindevrduung agitirt und auch die Stellung der
ländlichen Betriebe unter staatliche Aufsicht -- mit Bezug auf Gesundheit und
Leben der Arbeiter -- als nächstes zu erstrebendes Ziel hingestellt. sozial¬
demokratische Versammlungen, meist zum erstenmale und gut besucht, haben
ferner stattgefunden in Bonn, Kirchdetmold (bei Kassel), Ellrich (bei Nord-
Hansen), Duderstadt, Wolfenbüttel, Alt-Götzen (bei Kalau), Prenzlau, Freien-
Walde, Grünberg in Schlesien, Volpersdvrf, Kuuzendorf und Schlegel (bei
Neurode). Die Versammlungen haben gewöhnlich zur Bildung eines allge¬
meinen Arbeitervereins in den betreffenden Ortschaften geführt, die mich als
Vvlksvereinc oder Arbeiterbildnngsvereine bezeichnet werden. Die Flagge soll
selbstverständlich die Ware decken. In Schleswig-Holstein und Württemberg


Der Stand der Arbeiterbewegung
1886 51,8 Pfennige
1887 53,6
1889 61,7
1890 67,9
1891 77,9

Es ist nicht zu verkennen, daß bei diesen Preisen die niedrig gelohnten Ar¬
beiter bei starker Familie Mühe haben, mit ihren: Verdienst auszukommen.
Diese Preissteigerilngen gaben der von svzialdemokratischer Seite seit Jahren
betriebenen Agitation gegen die bestehenden Kornzölle neue Nahrung. Auf
Veranlassung der Parteileitung wurden im Laufe des Juni in allen größern
Städten Volksversammlungen veranstaltet, in Berlin allein an einem Tage
acht. Diese waren von Tausenden besucht. Es wurde» Resolutionen ange¬
nommen, die verlangten, die Kornzölle zeitweise aufzuheben und zuletzt ganz zu
beseitige,?. Gleichzeitig demonstrirte auch der Freisinn lebhaft gegen die Korn¬
zölle und gab damit diesem Teile der Bewegung eine über die Kreise der
Sozialdemokratie hinausgehende Bedeutung. Auch diese Agitation hat ihr
Ziel uicht erreicht. Bekanntlich hat sich die Regierung nicht zu überzeugen
vermocht, daß eine Suspension der Kornzölle imstande sein werde, die Brot¬
preise sofort zu ermüßigen. Doch wird eine dauernde Ermäßigung von dem
demnächst abzuschließenden österreichischen Handelsvertrag erwartet.

Neben diesen Streiks und Demonstrationen hat es im verflossenen Halb¬
jahre, wie bisher, auch nicht an jener Agitation gefehlt, dnrch die für die
Sozialdemokratie die noch abseits stehenden Arbeitermassen gewonnen werden
sollen, und nicht weniger sind die Anstrengungen fortgesetzt worden, die Or¬
ganisation der Partei zu vervollständigen.

Den geringsten Anhang besitzt die Svzialdemokrntie noch immer unter
der ländlichen Bevölkerung. Um diese zu bearbeiten, sind im Rheinland, in
Westfalen, Sachsen, Hannover besondre Agitationskvmitecs eingesetzt worden.
Diese haben massenhaft unter dem ländlichen Gesinde sozialdemokratische Bro¬
schüren verbreitet. Um sich leichter Eingang zu verschaffen, wurde insbesondre
für die Aufhebung der Gesindevrduung agitirt und auch die Stellung der
ländlichen Betriebe unter staatliche Aufsicht — mit Bezug auf Gesundheit und
Leben der Arbeiter — als nächstes zu erstrebendes Ziel hingestellt. sozial¬
demokratische Versammlungen, meist zum erstenmale und gut besucht, haben
ferner stattgefunden in Bonn, Kirchdetmold (bei Kassel), Ellrich (bei Nord-
Hansen), Duderstadt, Wolfenbüttel, Alt-Götzen (bei Kalau), Prenzlau, Freien-
Walde, Grünberg in Schlesien, Volpersdvrf, Kuuzendorf und Schlegel (bei
Neurode). Die Versammlungen haben gewöhnlich zur Bildung eines allge¬
meinen Arbeitervereins in den betreffenden Ortschaften geführt, die mich als
Vvlksvereinc oder Arbeiterbildnngsvereine bezeichnet werden. Die Flagge soll
selbstverständlich die Ware decken. In Schleswig-Holstein und Württemberg


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0063" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289831"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Stand der Arbeiterbewegung</fw><lb/>
          <list>
            <item> 1886 51,8 Pfennige</item>
            <item> 1887 53,6</item>
            <item> 1889 61,7</item>
            <item> 1890 67,9</item>
            <item> 1891 77,9</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_191" prev="#ID_190"> Es ist nicht zu verkennen, daß bei diesen Preisen die niedrig gelohnten Ar¬<lb/>
beiter bei starker Familie Mühe haben, mit ihren: Verdienst auszukommen.<lb/>
Diese Preissteigerilngen gaben der von svzialdemokratischer Seite seit Jahren<lb/>
betriebenen Agitation gegen die bestehenden Kornzölle neue Nahrung. Auf<lb/>
Veranlassung der Parteileitung wurden im Laufe des Juni in allen größern<lb/>
Städten Volksversammlungen veranstaltet, in Berlin allein an einem Tage<lb/>
acht. Diese waren von Tausenden besucht. Es wurde» Resolutionen ange¬<lb/>
nommen, die verlangten, die Kornzölle zeitweise aufzuheben und zuletzt ganz zu<lb/>
beseitige,?. Gleichzeitig demonstrirte auch der Freisinn lebhaft gegen die Korn¬<lb/>
zölle und gab damit diesem Teile der Bewegung eine über die Kreise der<lb/>
Sozialdemokratie hinausgehende Bedeutung. Auch diese Agitation hat ihr<lb/>
Ziel uicht erreicht. Bekanntlich hat sich die Regierung nicht zu überzeugen<lb/>
vermocht, daß eine Suspension der Kornzölle imstande sein werde, die Brot¬<lb/>
preise sofort zu ermüßigen. Doch wird eine dauernde Ermäßigung von dem<lb/>
demnächst abzuschließenden österreichischen Handelsvertrag erwartet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_192"> Neben diesen Streiks und Demonstrationen hat es im verflossenen Halb¬<lb/>
jahre, wie bisher, auch nicht an jener Agitation gefehlt, dnrch die für die<lb/>
Sozialdemokratie die noch abseits stehenden Arbeitermassen gewonnen werden<lb/>
sollen, und nicht weniger sind die Anstrengungen fortgesetzt worden, die Or¬<lb/>
ganisation der Partei zu vervollständigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193" next="#ID_194"> Den geringsten Anhang besitzt die Svzialdemokrntie noch immer unter<lb/>
der ländlichen Bevölkerung. Um diese zu bearbeiten, sind im Rheinland, in<lb/>
Westfalen, Sachsen, Hannover besondre Agitationskvmitecs eingesetzt worden.<lb/>
Diese haben massenhaft unter dem ländlichen Gesinde sozialdemokratische Bro¬<lb/>
schüren verbreitet. Um sich leichter Eingang zu verschaffen, wurde insbesondre<lb/>
für die Aufhebung der Gesindevrduung agitirt und auch die Stellung der<lb/>
ländlichen Betriebe unter staatliche Aufsicht &#x2014; mit Bezug auf Gesundheit und<lb/>
Leben der Arbeiter &#x2014; als nächstes zu erstrebendes Ziel hingestellt. sozial¬<lb/>
demokratische Versammlungen, meist zum erstenmale und gut besucht, haben<lb/>
ferner stattgefunden in Bonn, Kirchdetmold (bei Kassel), Ellrich (bei Nord-<lb/>
Hansen), Duderstadt, Wolfenbüttel, Alt-Götzen (bei Kalau), Prenzlau, Freien-<lb/>
Walde, Grünberg in Schlesien, Volpersdvrf, Kuuzendorf und Schlegel (bei<lb/>
Neurode). Die Versammlungen haben gewöhnlich zur Bildung eines allge¬<lb/>
meinen Arbeitervereins in den betreffenden Ortschaften geführt, die mich als<lb/>
Vvlksvereinc oder Arbeiterbildnngsvereine bezeichnet werden. Die Flagge soll<lb/>
selbstverständlich die Ware decken.  In Schleswig-Holstein und Württemberg</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0063] Der Stand der Arbeiterbewegung 1886 51,8 Pfennige 1887 53,6 1889 61,7 1890 67,9 1891 77,9 Es ist nicht zu verkennen, daß bei diesen Preisen die niedrig gelohnten Ar¬ beiter bei starker Familie Mühe haben, mit ihren: Verdienst auszukommen. Diese Preissteigerilngen gaben der von svzialdemokratischer Seite seit Jahren betriebenen Agitation gegen die bestehenden Kornzölle neue Nahrung. Auf Veranlassung der Parteileitung wurden im Laufe des Juni in allen größern Städten Volksversammlungen veranstaltet, in Berlin allein an einem Tage acht. Diese waren von Tausenden besucht. Es wurde» Resolutionen ange¬ nommen, die verlangten, die Kornzölle zeitweise aufzuheben und zuletzt ganz zu beseitige,?. Gleichzeitig demonstrirte auch der Freisinn lebhaft gegen die Korn¬ zölle und gab damit diesem Teile der Bewegung eine über die Kreise der Sozialdemokratie hinausgehende Bedeutung. Auch diese Agitation hat ihr Ziel uicht erreicht. Bekanntlich hat sich die Regierung nicht zu überzeugen vermocht, daß eine Suspension der Kornzölle imstande sein werde, die Brot¬ preise sofort zu ermüßigen. Doch wird eine dauernde Ermäßigung von dem demnächst abzuschließenden österreichischen Handelsvertrag erwartet. Neben diesen Streiks und Demonstrationen hat es im verflossenen Halb¬ jahre, wie bisher, auch nicht an jener Agitation gefehlt, dnrch die für die Sozialdemokratie die noch abseits stehenden Arbeitermassen gewonnen werden sollen, und nicht weniger sind die Anstrengungen fortgesetzt worden, die Or¬ ganisation der Partei zu vervollständigen. Den geringsten Anhang besitzt die Svzialdemokrntie noch immer unter der ländlichen Bevölkerung. Um diese zu bearbeiten, sind im Rheinland, in Westfalen, Sachsen, Hannover besondre Agitationskvmitecs eingesetzt worden. Diese haben massenhaft unter dem ländlichen Gesinde sozialdemokratische Bro¬ schüren verbreitet. Um sich leichter Eingang zu verschaffen, wurde insbesondre für die Aufhebung der Gesindevrduung agitirt und auch die Stellung der ländlichen Betriebe unter staatliche Aufsicht — mit Bezug auf Gesundheit und Leben der Arbeiter — als nächstes zu erstrebendes Ziel hingestellt. sozial¬ demokratische Versammlungen, meist zum erstenmale und gut besucht, haben ferner stattgefunden in Bonn, Kirchdetmold (bei Kassel), Ellrich (bei Nord- Hansen), Duderstadt, Wolfenbüttel, Alt-Götzen (bei Kalau), Prenzlau, Freien- Walde, Grünberg in Schlesien, Volpersdvrf, Kuuzendorf und Schlegel (bei Neurode). Die Versammlungen haben gewöhnlich zur Bildung eines allge¬ meinen Arbeitervereins in den betreffenden Ortschaften geführt, die mich als Vvlksvereinc oder Arbeiterbildnngsvereine bezeichnet werden. Die Flagge soll selbstverständlich die Ware decken. In Schleswig-Holstein und Württemberg

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/63
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/63>, abgerufen am 26.08.2024.