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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der Stand der Arbeiterbewegung

trat eine Spaltung ein. Die evangelischen Bergnrbeitervereine protestirten
gegen jeden Streik, und unerwarteterweise kam auch der andre Teil der
Belegschaften dem Beschlusse der Delegirten uicht nach. So blieb es
denn bei jenen Teilausständcn, sie zogen sich noch bis zum 4. Mai hin,
da erklärte auch der Vorstand des Vcrgarbeitcrverbandes den Streik für
erloschen.

Der Lohnansfall, den die in deu Streik eingetretenen erlitten haben,
ist ans mehrere hunderttausend Mark zu schätzen. Die Zahl der Aus¬
gesperrten wird auf 2000 angegeben. Die Wiedereinnähme zu vermitteln
lehnten die Behörden wegen des von den Belegschaften begangenen Kontrakt¬
bruchs ab. Doch soll die Mehrzahl inzwischen wieder Arbeit gefunden
haben.

Ob die Bewegung als überwunden anzusehen ist, muß die Zukunft lehren.
Es hat den Anschein, als ob die Agitation nachließe und die Führer an Ein¬
fluß eingebüßt hätten. In der letzten Zeit haben noch zwei Bergarbeiter-
Versammlungen stattgefunden. Auf einer zu Camen ist man den Agitatoren
krüstig entgegengetreten.

Außer diesen Aufständen fallen in das verflossene Halbjahr Demonstra¬
tionen der Arbeitslosen, die wiederkehrende Feier des "Weltfeiertages" und
ein allgemeiner Ansturm gegen die Getreidezölle.

In einigen Geschäftszweigen fehlte es seit Beginn des Jahres an Auf¬
trägen. Wenn um auch infolgedessen Arbeiterentlassnngen in größerm Um¬
fange nicht vorgekommen sind, so wurde es doch denen, denen ans irgend
einem Grunde gekündigt worden war, schwer, wieder Arbeit zu finden. Dazu
kam uoch, daß die Bauthätigkeit erst später als gewöhnlich aufgenommen
werden konnte. In den größern Städten fing daher gegen Schluß des Winters
die Zahl der Arbeitslosen merklich an zu steigen und erhielt zugleich durch
den nie versiegenden Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte eine stete Vermehrung.
Die sozialdemokratische Parteileitung beutete diese Verhältnisse sofort in agita¬
torischer Weise aus. In Berlin, Dresden, Chemnitz, Magdeburg, Hamburg
und Köln wurden Versammlungen von Arbeitslosen einberufen, und es fanden
sich auch Tausende zusammen. Die herrschende Arbeitslosigkeit wurde als die
ausschließliche Folge der kapitalistischen Produktionsweise und des jetzt gelten¬
de" Lohnsystems hingestellt. Die Zahl der Arbeitslosen wurde in Berlin auf
62000, in Köln auf 12500 und in Dresden auf 18000 angegeben. In
Petitionen an den Reichstag und an die Behörden wurde eine allgemeine
Verkürzung der Arbeitszeit, Darlehen an die Arbeitslosen bis zu 50 Mark,
Speisung ihrer Kinder in den Schulen, auch ein Notgesetz verlangt, das den
Hausbesitzern verbieten sollte, die beschäftiguugsloseu Arbeiter, die die Miete
schuldig blieben, anszuqnartiercn. Hierauf wurden von den Regierungen in
Berlin und Dresden sorgfältige Ermittlungen über deu Umfang der Arbeits-


Der Stand der Arbeiterbewegung

trat eine Spaltung ein. Die evangelischen Bergnrbeitervereine protestirten
gegen jeden Streik, und unerwarteterweise kam auch der andre Teil der
Belegschaften dem Beschlusse der Delegirten uicht nach. So blieb es
denn bei jenen Teilausständcn, sie zogen sich noch bis zum 4. Mai hin,
da erklärte auch der Vorstand des Vcrgarbeitcrverbandes den Streik für
erloschen.

Der Lohnansfall, den die in deu Streik eingetretenen erlitten haben,
ist ans mehrere hunderttausend Mark zu schätzen. Die Zahl der Aus¬
gesperrten wird auf 2000 angegeben. Die Wiedereinnähme zu vermitteln
lehnten die Behörden wegen des von den Belegschaften begangenen Kontrakt¬
bruchs ab. Doch soll die Mehrzahl inzwischen wieder Arbeit gefunden
haben.

Ob die Bewegung als überwunden anzusehen ist, muß die Zukunft lehren.
Es hat den Anschein, als ob die Agitation nachließe und die Führer an Ein¬
fluß eingebüßt hätten. In der letzten Zeit haben noch zwei Bergarbeiter-
Versammlungen stattgefunden. Auf einer zu Camen ist man den Agitatoren
krüstig entgegengetreten.

Außer diesen Aufständen fallen in das verflossene Halbjahr Demonstra¬
tionen der Arbeitslosen, die wiederkehrende Feier des „Weltfeiertages" und
ein allgemeiner Ansturm gegen die Getreidezölle.

In einigen Geschäftszweigen fehlte es seit Beginn des Jahres an Auf¬
trägen. Wenn um auch infolgedessen Arbeiterentlassnngen in größerm Um¬
fange nicht vorgekommen sind, so wurde es doch denen, denen ans irgend
einem Grunde gekündigt worden war, schwer, wieder Arbeit zu finden. Dazu
kam uoch, daß die Bauthätigkeit erst später als gewöhnlich aufgenommen
werden konnte. In den größern Städten fing daher gegen Schluß des Winters
die Zahl der Arbeitslosen merklich an zu steigen und erhielt zugleich durch
den nie versiegenden Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte eine stete Vermehrung.
Die sozialdemokratische Parteileitung beutete diese Verhältnisse sofort in agita¬
torischer Weise aus. In Berlin, Dresden, Chemnitz, Magdeburg, Hamburg
und Köln wurden Versammlungen von Arbeitslosen einberufen, und es fanden
sich auch Tausende zusammen. Die herrschende Arbeitslosigkeit wurde als die
ausschließliche Folge der kapitalistischen Produktionsweise und des jetzt gelten¬
de» Lohnsystems hingestellt. Die Zahl der Arbeitslosen wurde in Berlin auf
62000, in Köln auf 12500 und in Dresden auf 18000 angegeben. In
Petitionen an den Reichstag und an die Behörden wurde eine allgemeine
Verkürzung der Arbeitszeit, Darlehen an die Arbeitslosen bis zu 50 Mark,
Speisung ihrer Kinder in den Schulen, auch ein Notgesetz verlangt, das den
Hausbesitzern verbieten sollte, die beschäftiguugsloseu Arbeiter, die die Miete
schuldig blieben, anszuqnartiercn. Hierauf wurden von den Regierungen in
Berlin und Dresden sorgfältige Ermittlungen über deu Umfang der Arbeits-


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[0061] Der Stand der Arbeiterbewegung trat eine Spaltung ein. Die evangelischen Bergnrbeitervereine protestirten gegen jeden Streik, und unerwarteterweise kam auch der andre Teil der Belegschaften dem Beschlusse der Delegirten uicht nach. So blieb es denn bei jenen Teilausständcn, sie zogen sich noch bis zum 4. Mai hin, da erklärte auch der Vorstand des Vcrgarbeitcrverbandes den Streik für erloschen. Der Lohnansfall, den die in deu Streik eingetretenen erlitten haben, ist ans mehrere hunderttausend Mark zu schätzen. Die Zahl der Aus¬ gesperrten wird auf 2000 angegeben. Die Wiedereinnähme zu vermitteln lehnten die Behörden wegen des von den Belegschaften begangenen Kontrakt¬ bruchs ab. Doch soll die Mehrzahl inzwischen wieder Arbeit gefunden haben. Ob die Bewegung als überwunden anzusehen ist, muß die Zukunft lehren. Es hat den Anschein, als ob die Agitation nachließe und die Führer an Ein¬ fluß eingebüßt hätten. In der letzten Zeit haben noch zwei Bergarbeiter- Versammlungen stattgefunden. Auf einer zu Camen ist man den Agitatoren krüstig entgegengetreten. Außer diesen Aufständen fallen in das verflossene Halbjahr Demonstra¬ tionen der Arbeitslosen, die wiederkehrende Feier des „Weltfeiertages" und ein allgemeiner Ansturm gegen die Getreidezölle. In einigen Geschäftszweigen fehlte es seit Beginn des Jahres an Auf¬ trägen. Wenn um auch infolgedessen Arbeiterentlassnngen in größerm Um¬ fange nicht vorgekommen sind, so wurde es doch denen, denen ans irgend einem Grunde gekündigt worden war, schwer, wieder Arbeit zu finden. Dazu kam uoch, daß die Bauthätigkeit erst später als gewöhnlich aufgenommen werden konnte. In den größern Städten fing daher gegen Schluß des Winters die Zahl der Arbeitslosen merklich an zu steigen und erhielt zugleich durch den nie versiegenden Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte eine stete Vermehrung. Die sozialdemokratische Parteileitung beutete diese Verhältnisse sofort in agita¬ torischer Weise aus. In Berlin, Dresden, Chemnitz, Magdeburg, Hamburg und Köln wurden Versammlungen von Arbeitslosen einberufen, und es fanden sich auch Tausende zusammen. Die herrschende Arbeitslosigkeit wurde als die ausschließliche Folge der kapitalistischen Produktionsweise und des jetzt gelten¬ de» Lohnsystems hingestellt. Die Zahl der Arbeitslosen wurde in Berlin auf 62000, in Köln auf 12500 und in Dresden auf 18000 angegeben. In Petitionen an den Reichstag und an die Behörden wurde eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, Darlehen an die Arbeitslosen bis zu 50 Mark, Speisung ihrer Kinder in den Schulen, auch ein Notgesetz verlangt, das den Hausbesitzern verbieten sollte, die beschäftiguugsloseu Arbeiter, die die Miete schuldig blieben, anszuqnartiercn. Hierauf wurden von den Regierungen in Berlin und Dresden sorgfältige Ermittlungen über deu Umfang der Arbeits-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/61>, abgerufen am 26.08.2024.