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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der Stand der Arbeiterbewegung

zu Verhandeln und verlangten, daß die Bergleute etwaige Beschwerden einzeln
vorbringen möchten. Sie wiesen nach, daß die Errechnung der Ein- und
Allsfahrt in die achtstündige Schicht eine Minderung der Produktion um
15 Prozent zur Folge haben würde, und behaupteten, daß das Wagennullen
im Interesse der Disziplin nicht zu entbehren sei. Der Abzug der Füllkvhlen
wurde dagegen zustimmend für eine veraltete Maßregel erklärt und deren
Beseitigung, soweit sie noch bestehen sollte, zugesagt. Da die Haltung der
Zechen den Forderungen der Bergleute gegenüber in den wesentlichsten Punkten
ablehnend war, schien ein größerer Aufstand nach Ablauf der erwähnten Frist
unvermeidlich. Doch stellte sich bald heraus, daß der Zeitpunkt für einen
Streik schlecht gewählt war. An einen Erfolg war nicht zu denken. Industrie
und Eisenbahnverwaltimg hatten sich seit langen auf einen neuen Streik vor¬
bereitet und waren reichlich mit Kohlen versehen. Die in Berlin zu dieser
Zeit versammelten Abgeordneten der westfälischen Wahlkreise und die sozial-
demokratischen Parteiführer Singer und Auer reisten daher in das Revier,
um die Arbeiter vor einem unbesonnenen Schritte zu warnen. Zuletzt rieten
auch die Delegirten selbst von einem Streik ab. Den Bergleuten wurde ge¬
sagt, sie sollten zunächst ihre Organisation besser ausbauen. So wurde denn
schließlich die Ruhe nicht gestört.

Aber eine Beruhigung der Arbeiter war damit nicht eingetreten. Das sollte
sich bald zeigen. Am 17. April legte plötzlich die Belegschaft der Zeche Ein¬
tracht-Tiefbau die Arbeit nieder. Die äußere Ursache soll der Verschluß eines
von den Arbeitern zur Ausfahrt benutzten Schachtes abgegeben haben. Dem
gegebenen Beispiele folgten viele Arbeiter der benachbarten Zechen Zentrum,
Maria-Anna, Steinbeck, Fröhliche Morgensonne, Holland III, General-Erb¬
stollen, Hannover II u. s. w. Im ganzen hatten, wie gesagt, 42 Zechen
unter diesen Teilausständen zu leiden. Die Zahl der Ausständigen nahm
bald zu, bald ab. Die höchste Ziffer von 18 895 wurde am 24. April er¬
reicht. Alle Belegschaft"" machten sich wieder des Kvntraktbrnches schuldig.
Die meisten verließen ohne Angabe irgend eines Grundes die Arbeit. Die
Zechen verlangten bis spätestens zum 27. April die Wiederaufnahme der Arbeit
und erklärten den, der bis dahin dieser Aufforderung nicht Folge leisten würde,
für entlassen. Er habe dann zugleich die von der Zeche ihm vermietete Woh¬
nung zu räumen. Außerdem bestimmte der Vorstand des Knappschaftsvereins,
daß alle Genossen dritter Klasse, die ohne Einhaltung der Kündigungsfrist
die Arbeit eingestellt hätten und sie nicht sofort wieder aufnahmen, als aus
dem Verein ausgeschieden cmzuseyeu seien. Damit verloren sie ihre sämtlichen
Einzahlungen und Ansprüche.

Es schien zum äußersten kommen zu sollen. Eine Versammlung von
274 Delegirten, die am 26. April stattfand, und auf der 106 Schächte vertreten
waren, proklamirte den allgemeinen Aufstand. Die Lage war kritisch. Doch


Der Stand der Arbeiterbewegung

zu Verhandeln und verlangten, daß die Bergleute etwaige Beschwerden einzeln
vorbringen möchten. Sie wiesen nach, daß die Errechnung der Ein- und
Allsfahrt in die achtstündige Schicht eine Minderung der Produktion um
15 Prozent zur Folge haben würde, und behaupteten, daß das Wagennullen
im Interesse der Disziplin nicht zu entbehren sei. Der Abzug der Füllkvhlen
wurde dagegen zustimmend für eine veraltete Maßregel erklärt und deren
Beseitigung, soweit sie noch bestehen sollte, zugesagt. Da die Haltung der
Zechen den Forderungen der Bergleute gegenüber in den wesentlichsten Punkten
ablehnend war, schien ein größerer Aufstand nach Ablauf der erwähnten Frist
unvermeidlich. Doch stellte sich bald heraus, daß der Zeitpunkt für einen
Streik schlecht gewählt war. An einen Erfolg war nicht zu denken. Industrie
und Eisenbahnverwaltimg hatten sich seit langen auf einen neuen Streik vor¬
bereitet und waren reichlich mit Kohlen versehen. Die in Berlin zu dieser
Zeit versammelten Abgeordneten der westfälischen Wahlkreise und die sozial-
demokratischen Parteiführer Singer und Auer reisten daher in das Revier,
um die Arbeiter vor einem unbesonnenen Schritte zu warnen. Zuletzt rieten
auch die Delegirten selbst von einem Streik ab. Den Bergleuten wurde ge¬
sagt, sie sollten zunächst ihre Organisation besser ausbauen. So wurde denn
schließlich die Ruhe nicht gestört.

Aber eine Beruhigung der Arbeiter war damit nicht eingetreten. Das sollte
sich bald zeigen. Am 17. April legte plötzlich die Belegschaft der Zeche Ein¬
tracht-Tiefbau die Arbeit nieder. Die äußere Ursache soll der Verschluß eines
von den Arbeitern zur Ausfahrt benutzten Schachtes abgegeben haben. Dem
gegebenen Beispiele folgten viele Arbeiter der benachbarten Zechen Zentrum,
Maria-Anna, Steinbeck, Fröhliche Morgensonne, Holland III, General-Erb¬
stollen, Hannover II u. s. w. Im ganzen hatten, wie gesagt, 42 Zechen
unter diesen Teilausständen zu leiden. Die Zahl der Ausständigen nahm
bald zu, bald ab. Die höchste Ziffer von 18 895 wurde am 24. April er¬
reicht. Alle Belegschaft«» machten sich wieder des Kvntraktbrnches schuldig.
Die meisten verließen ohne Angabe irgend eines Grundes die Arbeit. Die
Zechen verlangten bis spätestens zum 27. April die Wiederaufnahme der Arbeit
und erklärten den, der bis dahin dieser Aufforderung nicht Folge leisten würde,
für entlassen. Er habe dann zugleich die von der Zeche ihm vermietete Woh¬
nung zu räumen. Außerdem bestimmte der Vorstand des Knappschaftsvereins,
daß alle Genossen dritter Klasse, die ohne Einhaltung der Kündigungsfrist
die Arbeit eingestellt hätten und sie nicht sofort wieder aufnahmen, als aus
dem Verein ausgeschieden cmzuseyeu seien. Damit verloren sie ihre sämtlichen
Einzahlungen und Ansprüche.

Es schien zum äußersten kommen zu sollen. Eine Versammlung von
274 Delegirten, die am 26. April stattfand, und auf der 106 Schächte vertreten
waren, proklamirte den allgemeinen Aufstand. Die Lage war kritisch. Doch


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[0060] Der Stand der Arbeiterbewegung zu Verhandeln und verlangten, daß die Bergleute etwaige Beschwerden einzeln vorbringen möchten. Sie wiesen nach, daß die Errechnung der Ein- und Allsfahrt in die achtstündige Schicht eine Minderung der Produktion um 15 Prozent zur Folge haben würde, und behaupteten, daß das Wagennullen im Interesse der Disziplin nicht zu entbehren sei. Der Abzug der Füllkvhlen wurde dagegen zustimmend für eine veraltete Maßregel erklärt und deren Beseitigung, soweit sie noch bestehen sollte, zugesagt. Da die Haltung der Zechen den Forderungen der Bergleute gegenüber in den wesentlichsten Punkten ablehnend war, schien ein größerer Aufstand nach Ablauf der erwähnten Frist unvermeidlich. Doch stellte sich bald heraus, daß der Zeitpunkt für einen Streik schlecht gewählt war. An einen Erfolg war nicht zu denken. Industrie und Eisenbahnverwaltimg hatten sich seit langen auf einen neuen Streik vor¬ bereitet und waren reichlich mit Kohlen versehen. Die in Berlin zu dieser Zeit versammelten Abgeordneten der westfälischen Wahlkreise und die sozial- demokratischen Parteiführer Singer und Auer reisten daher in das Revier, um die Arbeiter vor einem unbesonnenen Schritte zu warnen. Zuletzt rieten auch die Delegirten selbst von einem Streik ab. Den Bergleuten wurde ge¬ sagt, sie sollten zunächst ihre Organisation besser ausbauen. So wurde denn schließlich die Ruhe nicht gestört. Aber eine Beruhigung der Arbeiter war damit nicht eingetreten. Das sollte sich bald zeigen. Am 17. April legte plötzlich die Belegschaft der Zeche Ein¬ tracht-Tiefbau die Arbeit nieder. Die äußere Ursache soll der Verschluß eines von den Arbeitern zur Ausfahrt benutzten Schachtes abgegeben haben. Dem gegebenen Beispiele folgten viele Arbeiter der benachbarten Zechen Zentrum, Maria-Anna, Steinbeck, Fröhliche Morgensonne, Holland III, General-Erb¬ stollen, Hannover II u. s. w. Im ganzen hatten, wie gesagt, 42 Zechen unter diesen Teilausständen zu leiden. Die Zahl der Ausständigen nahm bald zu, bald ab. Die höchste Ziffer von 18 895 wurde am 24. April er¬ reicht. Alle Belegschaft«» machten sich wieder des Kvntraktbrnches schuldig. Die meisten verließen ohne Angabe irgend eines Grundes die Arbeit. Die Zechen verlangten bis spätestens zum 27. April die Wiederaufnahme der Arbeit und erklärten den, der bis dahin dieser Aufforderung nicht Folge leisten würde, für entlassen. Er habe dann zugleich die von der Zeche ihm vermietete Woh¬ nung zu räumen. Außerdem bestimmte der Vorstand des Knappschaftsvereins, daß alle Genossen dritter Klasse, die ohne Einhaltung der Kündigungsfrist die Arbeit eingestellt hätten und sie nicht sofort wieder aufnahmen, als aus dem Verein ausgeschieden cmzuseyeu seien. Damit verloren sie ihre sämtlichen Einzahlungen und Ansprüche. Es schien zum äußersten kommen zu sollen. Eine Versammlung von 274 Delegirten, die am 26. April stattfand, und auf der 106 Schächte vertreten waren, proklamirte den allgemeinen Aufstand. Die Lage war kritisch. Doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/60>, abgerufen am 23.07.2024.