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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Über soziale Differenzirung. Soziologische und psychologische Untersuchungen von
G. Simmel. (Band X der von Schmoller herausgegebenen Staats-und Sozialwissenschaftlichen
Forschungen.) Leipzig, Duncker und Humblot, 1890

Herbart hatte die Gesetze, nach denen sich das Netzwerk der Vorstellungen
in der Seele bildet und ändert, auf das Gewebe von Staat und Gesellschaft an¬
zuwenden versucht. Schiiffle betrachtete sodann den Aufbau der menschlichen Gesell¬
schaft als eine Fortsetzung desselben Naturprozesses, der nach darwinischen Gesetzen
die Organismen bildet, sodaß der Gesellschaftskörper nnr als ein erweiterter und
vervollkommneter Mensch erscheint, wie der Mensch nichts als ein höheres Tier
ist. Simmel vereinigt beides, indem er das Seelenleben des Einzelnen und das
Leben der Gesellschaft als zwei gleichzeitig und in Wechselwirkung sich aufwachsende
Seiten desselben Wesens betrachtet. Eine formale Einheit stiftet er zwischen seinen
vielumfassenden Betrachtungen dadurch, daß er sie an das Wort Differenzirung
anknüpft, womit gemeint ist, daß mit dem wachsenden Inhalt in der Seele die
Zahl verschiedner Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen, in der Gesellschaft
die Zahl verschiedner Gruppen, Einrichtungen, Interessen und Beziehungen wächst.
Das Endergebnis seiner Untersuchungen besteht in der Anerkennung jenes Wider¬
spruches, der, wie wir alle empfinden, mit jedem weiter" Kulturfortschritt immer
unerträglicher wird: einen je größern Reichtum von Wissensschätzen, Gesellschafts-
einrichtnngen und Beziehungen der Kulturfortschritt aufhäuft, desto leichter kann
natürlich auch der einzelne Menschengeist dadurch reich werden, daß er alle diese
Dinge in sich aufnimmt. Aber je reicher ein Geist ist, desto weniger taugt er sür
die heutige Gesellschaft, die bei der feinen Verzweigung ihrer Thätigkeit in Spezial-
fächer nur noch einseitige Virtuosität gebrauchen kann. Natürlich kommt Simmel
bei dieser Gelegenheit auch auf die Schule zu sprechen, er hätte aber noch deut¬
licher und kräftiger hervorheben können, wie innig das Schülerelend mit der
(hoffentlich bloß vorläufigen) Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zusammenhängt.
Soll der Schüler ein wirklich gebildeter Maun werden, so muß er von allen Be¬
standteile" unsrer heutigen Bildung einen Begriff bekommen. Lernt er aber von
allem etwas, dann lernt er von keinem so viel, als sein zukünftiges Fach oder
zunächst die Fachschule fordert.

Durch die Fülle scharfsinniger Beobachtungen und geistreicher Verknüpfungen,
die das Buch darbietet, wirkt es ungemein anregend auf den spekulirenden Theore¬
tiker. Ob es dem praktischen Pädagogen, Staatsmann und Sozialpolikiker mehr
nützen oder mehr schaden wird, mag dahingestellt bleiben; die Gefahr, daß es gar
zu vielen Praktikern die Blässe des Gedankens ankränteln könnte, ist glücklicherweise
dnrch die schwer verständliche gelehrte Sprache oder, wenn das höflicher klingt,
durch die streng wissenschaftliche Darstellung ausgeschlossen. Was die Ergebnisse
anlangt, so stimmen wir in den meisten mit dem Verfasser überein; nicht so in
Beziehung auf die Auffassung der seineu Untersuchungen zu Grnnde liegenden
Thatsachen, die uns hie und da ungenau beobachtet zu sein scheinen. Einige Fälle
wollen wir doch anführen.


Litteratur

Über soziale Differenzirung. Soziologische und psychologische Untersuchungen von
G. Simmel. (Band X der von Schmoller herausgegebenen Staats-und Sozialwissenschaftlichen
Forschungen.) Leipzig, Duncker und Humblot, 1890

Herbart hatte die Gesetze, nach denen sich das Netzwerk der Vorstellungen
in der Seele bildet und ändert, auf das Gewebe von Staat und Gesellschaft an¬
zuwenden versucht. Schiiffle betrachtete sodann den Aufbau der menschlichen Gesell¬
schaft als eine Fortsetzung desselben Naturprozesses, der nach darwinischen Gesetzen
die Organismen bildet, sodaß der Gesellschaftskörper nnr als ein erweiterter und
vervollkommneter Mensch erscheint, wie der Mensch nichts als ein höheres Tier
ist. Simmel vereinigt beides, indem er das Seelenleben des Einzelnen und das
Leben der Gesellschaft als zwei gleichzeitig und in Wechselwirkung sich aufwachsende
Seiten desselben Wesens betrachtet. Eine formale Einheit stiftet er zwischen seinen
vielumfassenden Betrachtungen dadurch, daß er sie an das Wort Differenzirung
anknüpft, womit gemeint ist, daß mit dem wachsenden Inhalt in der Seele die
Zahl verschiedner Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen, in der Gesellschaft
die Zahl verschiedner Gruppen, Einrichtungen, Interessen und Beziehungen wächst.
Das Endergebnis seiner Untersuchungen besteht in der Anerkennung jenes Wider¬
spruches, der, wie wir alle empfinden, mit jedem weiter» Kulturfortschritt immer
unerträglicher wird: einen je größern Reichtum von Wissensschätzen, Gesellschafts-
einrichtnngen und Beziehungen der Kulturfortschritt aufhäuft, desto leichter kann
natürlich auch der einzelne Menschengeist dadurch reich werden, daß er alle diese
Dinge in sich aufnimmt. Aber je reicher ein Geist ist, desto weniger taugt er sür
die heutige Gesellschaft, die bei der feinen Verzweigung ihrer Thätigkeit in Spezial-
fächer nur noch einseitige Virtuosität gebrauchen kann. Natürlich kommt Simmel
bei dieser Gelegenheit auch auf die Schule zu sprechen, er hätte aber noch deut¬
licher und kräftiger hervorheben können, wie innig das Schülerelend mit der
(hoffentlich bloß vorläufigen) Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zusammenhängt.
Soll der Schüler ein wirklich gebildeter Maun werden, so muß er von allen Be¬
standteile» unsrer heutigen Bildung einen Begriff bekommen. Lernt er aber von
allem etwas, dann lernt er von keinem so viel, als sein zukünftiges Fach oder
zunächst die Fachschule fordert.

Durch die Fülle scharfsinniger Beobachtungen und geistreicher Verknüpfungen,
die das Buch darbietet, wirkt es ungemein anregend auf den spekulirenden Theore¬
tiker. Ob es dem praktischen Pädagogen, Staatsmann und Sozialpolikiker mehr
nützen oder mehr schaden wird, mag dahingestellt bleiben; die Gefahr, daß es gar
zu vielen Praktikern die Blässe des Gedankens ankränteln könnte, ist glücklicherweise
dnrch die schwer verständliche gelehrte Sprache oder, wenn das höflicher klingt,
durch die streng wissenschaftliche Darstellung ausgeschlossen. Was die Ergebnisse
anlangt, so stimmen wir in den meisten mit dem Verfasser überein; nicht so in
Beziehung auf die Auffassung der seineu Untersuchungen zu Grnnde liegenden
Thatsachen, die uns hie und da ungenau beobachtet zu sein scheinen. Einige Fälle
wollen wir doch anführen.


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[0535] Litteratur Über soziale Differenzirung. Soziologische und psychologische Untersuchungen von G. Simmel. (Band X der von Schmoller herausgegebenen Staats-und Sozialwissenschaftlichen Forschungen.) Leipzig, Duncker und Humblot, 1890 Herbart hatte die Gesetze, nach denen sich das Netzwerk der Vorstellungen in der Seele bildet und ändert, auf das Gewebe von Staat und Gesellschaft an¬ zuwenden versucht. Schiiffle betrachtete sodann den Aufbau der menschlichen Gesell¬ schaft als eine Fortsetzung desselben Naturprozesses, der nach darwinischen Gesetzen die Organismen bildet, sodaß der Gesellschaftskörper nnr als ein erweiterter und vervollkommneter Mensch erscheint, wie der Mensch nichts als ein höheres Tier ist. Simmel vereinigt beides, indem er das Seelenleben des Einzelnen und das Leben der Gesellschaft als zwei gleichzeitig und in Wechselwirkung sich aufwachsende Seiten desselben Wesens betrachtet. Eine formale Einheit stiftet er zwischen seinen vielumfassenden Betrachtungen dadurch, daß er sie an das Wort Differenzirung anknüpft, womit gemeint ist, daß mit dem wachsenden Inhalt in der Seele die Zahl verschiedner Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen, in der Gesellschaft die Zahl verschiedner Gruppen, Einrichtungen, Interessen und Beziehungen wächst. Das Endergebnis seiner Untersuchungen besteht in der Anerkennung jenes Wider¬ spruches, der, wie wir alle empfinden, mit jedem weiter» Kulturfortschritt immer unerträglicher wird: einen je größern Reichtum von Wissensschätzen, Gesellschafts- einrichtnngen und Beziehungen der Kulturfortschritt aufhäuft, desto leichter kann natürlich auch der einzelne Menschengeist dadurch reich werden, daß er alle diese Dinge in sich aufnimmt. Aber je reicher ein Geist ist, desto weniger taugt er sür die heutige Gesellschaft, die bei der feinen Verzweigung ihrer Thätigkeit in Spezial- fächer nur noch einseitige Virtuosität gebrauchen kann. Natürlich kommt Simmel bei dieser Gelegenheit auch auf die Schule zu sprechen, er hätte aber noch deut¬ licher und kräftiger hervorheben können, wie innig das Schülerelend mit der (hoffentlich bloß vorläufigen) Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zusammenhängt. Soll der Schüler ein wirklich gebildeter Maun werden, so muß er von allen Be¬ standteile» unsrer heutigen Bildung einen Begriff bekommen. Lernt er aber von allem etwas, dann lernt er von keinem so viel, als sein zukünftiges Fach oder zunächst die Fachschule fordert. Durch die Fülle scharfsinniger Beobachtungen und geistreicher Verknüpfungen, die das Buch darbietet, wirkt es ungemein anregend auf den spekulirenden Theore¬ tiker. Ob es dem praktischen Pädagogen, Staatsmann und Sozialpolikiker mehr nützen oder mehr schaden wird, mag dahingestellt bleiben; die Gefahr, daß es gar zu vielen Praktikern die Blässe des Gedankens ankränteln könnte, ist glücklicherweise dnrch die schwer verständliche gelehrte Sprache oder, wenn das höflicher klingt, durch die streng wissenschaftliche Darstellung ausgeschlossen. Was die Ergebnisse anlangt, so stimmen wir in den meisten mit dem Verfasser überein; nicht so in Beziehung auf die Auffassung der seineu Untersuchungen zu Grnnde liegenden Thatsachen, die uns hie und da ungenau beobachtet zu sein scheinen. Einige Fälle wollen wir doch anführen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/535>, abgerufen am 13.11.2024.