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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Homunculus und Herr Nemo

gelesen hat, aber er kennt davon ebensowenig wie Sie jedes Wort auswendig,
er hat eine allgemeine Erinnerung, kennt wenige Stellen und hat im übrigen
nur das Bewußtsein, das Ganze gelesen zu haben, was durch eine allerdings
ganz eigenartig und ziemlich schwer herzustellende Faltung der Gehirnsubstanz
verursacht wird. Wenn Sie die Spannkraft hätten, sich alles, was Sie von
Erlebtem und Gelesenen noch wissen, nach einander ins Gedächtnis zu rufen,
so würden Sie -- trotz Ihrer umfangreichen Kenntnisse -- meiner Ansicht
nach in vier Wochen bequem fertig werden.

Man war in das letzte Zimmer gelangt, wo man Homunculus vor einem
Tische eifrig beschäftigt fand. Was haben Sie denn da auf dem Teller
liegen? fragte Siuner näher tretend. Wirklich hatte es auf den ersten Blick
erkannt. Auf dem Teller lag nämlich nichts andres als ein menschliches Ge¬
hirn. Durch zwei Schläuche wurde es in ähnlicher Weise, wie es bei
Homunculus der Fall gewesen war, mit Blut versehen. Von dem Gehirn aus
liefen uach allen Richtungen eine Menge weiße Fäden, die in verschiednen
sehr komplizirt aussehenden Apparaten endeten. An den vielfachen mit Draht
umwickelten Spulen konnte man erkennen, daß es elektrische Maschinen waren.

Das, was Sie hier sehen -- begann der Geheimrat --, ist ein von mir
künstlich nach dem Vorbilde des menschlichen hergestelltes und mit meinem
künstlichen Blute genährtes Gehirn. Sie werden vielleicht glauben, das sei
nur eine Vorarbeit zu dem künstlichen Menschen, von dem ich ja mit Ihnen
-- und auch mit Ihnen, Herr Homunculus -- öfter gesprochen habe. Dem
ist aber nicht so. Dies hier ist vielmehr eine bedeutend schwierigere Arbeit.
Ich habe nämlich nichts geringeres vor, als in diesem Gehirn die Vorstel¬
lung zu erregen, als stecke es in einem Menschen, laufe mit ihm herum, sehe,
höre, rieche, schmecke und fühle mit ihm, bewege sich, handle nach eignem
Willen, kurz, als erlebe es ein vollständiges Leben.

Die beiden Doktoren hatten heute schon viel wunderbares gesehen, aber
das war ihnen doch etwas zu bunt. Simmer sah den Geheimrat zweifelhaft
an, als hätte er nicht recht gehört, und Wirklich ließ uur die Äußerung hören,
die der Berliner allen überraschenden Ereignissen entgegenrnft, das kurze
Wörtchen: Nanu!

Dazu benutze ich -- fuhr der Geheimrat unbeirrt fort -- die weißen
Fäden, die Sie hier sehen, und die die sensibel" Nerven sind. Jeder Nerv
endet in einen Apparat, der es mir möglich macht, ihn in ganz gleicher Weise
zu reizen, wie dies in der Natur durch die äußern Eindrücke geschieht. Die
Schwierigkeit ist natürlich bei den verschiednen Nerven sehr verschieden. Am
geringsten ist sie dn, wo nur ein äußrer Druck übermittelt wird, am größten
selbstverständlich beim Sehnerv. Dieser muß dem Gehirn vollständige, jeden
Augenblick wechselnde Bilder zuführen, die doch in stetem Zusammenhange
bleiben. Ich hätte nun ja eine Netzhaut herstellen und auf dieser die nötigen


Grenzboten UI 1391 66
Homunculus und Herr Nemo

gelesen hat, aber er kennt davon ebensowenig wie Sie jedes Wort auswendig,
er hat eine allgemeine Erinnerung, kennt wenige Stellen und hat im übrigen
nur das Bewußtsein, das Ganze gelesen zu haben, was durch eine allerdings
ganz eigenartig und ziemlich schwer herzustellende Faltung der Gehirnsubstanz
verursacht wird. Wenn Sie die Spannkraft hätten, sich alles, was Sie von
Erlebtem und Gelesenen noch wissen, nach einander ins Gedächtnis zu rufen,
so würden Sie — trotz Ihrer umfangreichen Kenntnisse — meiner Ansicht
nach in vier Wochen bequem fertig werden.

Man war in das letzte Zimmer gelangt, wo man Homunculus vor einem
Tische eifrig beschäftigt fand. Was haben Sie denn da auf dem Teller
liegen? fragte Siuner näher tretend. Wirklich hatte es auf den ersten Blick
erkannt. Auf dem Teller lag nämlich nichts andres als ein menschliches Ge¬
hirn. Durch zwei Schläuche wurde es in ähnlicher Weise, wie es bei
Homunculus der Fall gewesen war, mit Blut versehen. Von dem Gehirn aus
liefen uach allen Richtungen eine Menge weiße Fäden, die in verschiednen
sehr komplizirt aussehenden Apparaten endeten. An den vielfachen mit Draht
umwickelten Spulen konnte man erkennen, daß es elektrische Maschinen waren.

Das, was Sie hier sehen — begann der Geheimrat —, ist ein von mir
künstlich nach dem Vorbilde des menschlichen hergestelltes und mit meinem
künstlichen Blute genährtes Gehirn. Sie werden vielleicht glauben, das sei
nur eine Vorarbeit zu dem künstlichen Menschen, von dem ich ja mit Ihnen
— und auch mit Ihnen, Herr Homunculus — öfter gesprochen habe. Dem
ist aber nicht so. Dies hier ist vielmehr eine bedeutend schwierigere Arbeit.
Ich habe nämlich nichts geringeres vor, als in diesem Gehirn die Vorstel¬
lung zu erregen, als stecke es in einem Menschen, laufe mit ihm herum, sehe,
höre, rieche, schmecke und fühle mit ihm, bewege sich, handle nach eignem
Willen, kurz, als erlebe es ein vollständiges Leben.

Die beiden Doktoren hatten heute schon viel wunderbares gesehen, aber
das war ihnen doch etwas zu bunt. Simmer sah den Geheimrat zweifelhaft
an, als hätte er nicht recht gehört, und Wirklich ließ uur die Äußerung hören,
die der Berliner allen überraschenden Ereignissen entgegenrnft, das kurze
Wörtchen: Nanu!

Dazu benutze ich — fuhr der Geheimrat unbeirrt fort — die weißen
Fäden, die Sie hier sehen, und die die sensibel« Nerven sind. Jeder Nerv
endet in einen Apparat, der es mir möglich macht, ihn in ganz gleicher Weise
zu reizen, wie dies in der Natur durch die äußern Eindrücke geschieht. Die
Schwierigkeit ist natürlich bei den verschiednen Nerven sehr verschieden. Am
geringsten ist sie dn, wo nur ein äußrer Druck übermittelt wird, am größten
selbstverständlich beim Sehnerv. Dieser muß dem Gehirn vollständige, jeden
Augenblick wechselnde Bilder zuführen, die doch in stetem Zusammenhange
bleiben. Ich hätte nun ja eine Netzhaut herstellen und auf dieser die nötigen


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[0529] Homunculus und Herr Nemo gelesen hat, aber er kennt davon ebensowenig wie Sie jedes Wort auswendig, er hat eine allgemeine Erinnerung, kennt wenige Stellen und hat im übrigen nur das Bewußtsein, das Ganze gelesen zu haben, was durch eine allerdings ganz eigenartig und ziemlich schwer herzustellende Faltung der Gehirnsubstanz verursacht wird. Wenn Sie die Spannkraft hätten, sich alles, was Sie von Erlebtem und Gelesenen noch wissen, nach einander ins Gedächtnis zu rufen, so würden Sie — trotz Ihrer umfangreichen Kenntnisse — meiner Ansicht nach in vier Wochen bequem fertig werden. Man war in das letzte Zimmer gelangt, wo man Homunculus vor einem Tische eifrig beschäftigt fand. Was haben Sie denn da auf dem Teller liegen? fragte Siuner näher tretend. Wirklich hatte es auf den ersten Blick erkannt. Auf dem Teller lag nämlich nichts andres als ein menschliches Ge¬ hirn. Durch zwei Schläuche wurde es in ähnlicher Weise, wie es bei Homunculus der Fall gewesen war, mit Blut versehen. Von dem Gehirn aus liefen uach allen Richtungen eine Menge weiße Fäden, die in verschiednen sehr komplizirt aussehenden Apparaten endeten. An den vielfachen mit Draht umwickelten Spulen konnte man erkennen, daß es elektrische Maschinen waren. Das, was Sie hier sehen — begann der Geheimrat —, ist ein von mir künstlich nach dem Vorbilde des menschlichen hergestelltes und mit meinem künstlichen Blute genährtes Gehirn. Sie werden vielleicht glauben, das sei nur eine Vorarbeit zu dem künstlichen Menschen, von dem ich ja mit Ihnen — und auch mit Ihnen, Herr Homunculus — öfter gesprochen habe. Dem ist aber nicht so. Dies hier ist vielmehr eine bedeutend schwierigere Arbeit. Ich habe nämlich nichts geringeres vor, als in diesem Gehirn die Vorstel¬ lung zu erregen, als stecke es in einem Menschen, laufe mit ihm herum, sehe, höre, rieche, schmecke und fühle mit ihm, bewege sich, handle nach eignem Willen, kurz, als erlebe es ein vollständiges Leben. Die beiden Doktoren hatten heute schon viel wunderbares gesehen, aber das war ihnen doch etwas zu bunt. Simmer sah den Geheimrat zweifelhaft an, als hätte er nicht recht gehört, und Wirklich ließ uur die Äußerung hören, die der Berliner allen überraschenden Ereignissen entgegenrnft, das kurze Wörtchen: Nanu! Dazu benutze ich — fuhr der Geheimrat unbeirrt fort — die weißen Fäden, die Sie hier sehen, und die die sensibel« Nerven sind. Jeder Nerv endet in einen Apparat, der es mir möglich macht, ihn in ganz gleicher Weise zu reizen, wie dies in der Natur durch die äußern Eindrücke geschieht. Die Schwierigkeit ist natürlich bei den verschiednen Nerven sehr verschieden. Am geringsten ist sie dn, wo nur ein äußrer Druck übermittelt wird, am größten selbstverständlich beim Sehnerv. Dieser muß dem Gehirn vollständige, jeden Augenblick wechselnde Bilder zuführen, die doch in stetem Zusammenhange bleiben. Ich hätte nun ja eine Netzhaut herstellen und auf dieser die nötigen Grenzboten UI 1391 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/529>, abgerufen am 26.08.2024.