Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zu Franz Bopps hundertsten Gek'iiristage

schaft sein muß, zu erkenne", weshalb sich in dein einen Fall ein Laut so,
in dem andern so verändert hat. Ein Beispiel mag das klarer machen.
Nach Grimms Lautverschiebnngsgesetz entspricht einem griechisch-lateinischen t
im Gotischen ein et, mit dein Lautwert des englischen et, und dies hat sich
im Hochdeutschen weiter zu ä gewandelt, z. B. lateinisch tmtgr gotisch
drollig-r ^ Bruder. In andern Fällen, die genau dieselben zu sein scheinen,
finden wir im gotischen ein "1, im deutschen ein t, so im lateinischen Ma-,
irmtsr gotisch naar, uwäiu-, Vater, Mutter. Anscheinend hat sich also hier
derselbe Laut willkürlich in zwei verschiedne gespalten, und recht lange hat
man nicht gewußt, irgend eine Ursache dafür ausfindig zu machen, bis endlich
durch eine glänzende Entdeckung Karl Verners, eines dänischen Gelehrten, der
Grund in dem Wechsel des indogermanischen Aceentes gefunden wurde.
Bruder entspricht im Sanskrit ?>Iir"tÄ, Vater, Mutter MiL, mM. So haben
nur im Delltschen also in diesen und vielen andern Wörtern noch Nachwirkungen
des alten, vor mehreren tausend Jahren gesprochnen indogermanischen Aeeentes,
und es gehört zu den anziehendsten Aufgaben der Wissenschaft, diese alten Über¬
reste zu betrachten. Wie hier, so ist es aber auch in unzähligen andern Fallen
gelungen, die scheinbaren Ausnahmen wieder auf Gesetze zurückzuführen, und
das Endziel der Wissenschaft, gewiß ein ideales, wohl nie ganz erreichbares
muß sein, dies in allen Fällen zu thun.

Die genaue Feststellung der Lautgesetze und die damit gegebne vollstän¬
dige Darlegung der Entwicklung der Sprache ist nun jn an und für sich wichtig
genug. Sie ist aber auch notwendig für die Erforschung der Kulturgeschichte,
zu der vor allem auch die Sprachwissenschaft so viel beigetragen hat und noch
beiträgt. Als der Zusammenhang der indogermanischen Sprachen aufgedeckt
war, gelaugte mau zu der Ansicht, daß alle diese verwandten Sprachen aus
einer uns wahrscheinlich nicht mehr erhaltenen Urquelle geflossen seien. Die
Sprache besteht aber uicht an und für sich, sondern ist an den Menschen, an
ein Volk als ihren Träger mit Notwendigkeit gebunden, also muß auch vor
mehreren tausend Jahren ein Volk gelebt haben, das diese Sprache gesprochen
hat. Und aus dein Wortschatz, den wir für diese Urzeit durch Bergleichung
gewinnen, können wir uns eine Vorstellung von der Kultur dieses Volkes
machen. Bei den großen Schwierigkeiten, die mit dieser Forschung verbunden
waren, und von denen sich die junge Wissenschaft nicht die rechte Vorstellung
machte, kann es nicht verwundern, daß die Ansichten über diese Kultur sehr
geschwankt haben. Während man früher den Indogermanen Ackerbau und
damit hohe geistige Entwicklung zuschrieb, hält mau sie heute für ein Hirten¬
volk, das höchstens ein oder zwei wild wachsende Halmfrüchte und die Eicheln
sammelte, die der Herbststurm von den mächtigen Bäumen herabschüttelte.
Hund, Rind und Schaf besaß mau in gezähmtem Zustande, nicht aber das
Schwein, das Roß und die Ziege. Die Nahrung bestand demgemäß aus


Zu Franz Bopps hundertsten Gek'iiristage

schaft sein muß, zu erkenne», weshalb sich in dein einen Fall ein Laut so,
in dem andern so verändert hat. Ein Beispiel mag das klarer machen.
Nach Grimms Lautverschiebnngsgesetz entspricht einem griechisch-lateinischen t
im Gotischen ein et, mit dein Lautwert des englischen et, und dies hat sich
im Hochdeutschen weiter zu ä gewandelt, z. B. lateinisch tmtgr gotisch
drollig-r ^ Bruder. In andern Fällen, die genau dieselben zu sein scheinen,
finden wir im gotischen ein «1, im deutschen ein t, so im lateinischen Ma-,
irmtsr gotisch naar, uwäiu-, Vater, Mutter. Anscheinend hat sich also hier
derselbe Laut willkürlich in zwei verschiedne gespalten, und recht lange hat
man nicht gewußt, irgend eine Ursache dafür ausfindig zu machen, bis endlich
durch eine glänzende Entdeckung Karl Verners, eines dänischen Gelehrten, der
Grund in dem Wechsel des indogermanischen Aceentes gefunden wurde.
Bruder entspricht im Sanskrit ?>Iir»tÄ, Vater, Mutter MiL, mM. So haben
nur im Delltschen also in diesen und vielen andern Wörtern noch Nachwirkungen
des alten, vor mehreren tausend Jahren gesprochnen indogermanischen Aeeentes,
und es gehört zu den anziehendsten Aufgaben der Wissenschaft, diese alten Über¬
reste zu betrachten. Wie hier, so ist es aber auch in unzähligen andern Fallen
gelungen, die scheinbaren Ausnahmen wieder auf Gesetze zurückzuführen, und
das Endziel der Wissenschaft, gewiß ein ideales, wohl nie ganz erreichbares
muß sein, dies in allen Fällen zu thun.

Die genaue Feststellung der Lautgesetze und die damit gegebne vollstän¬
dige Darlegung der Entwicklung der Sprache ist nun jn an und für sich wichtig
genug. Sie ist aber auch notwendig für die Erforschung der Kulturgeschichte,
zu der vor allem auch die Sprachwissenschaft so viel beigetragen hat und noch
beiträgt. Als der Zusammenhang der indogermanischen Sprachen aufgedeckt
war, gelaugte mau zu der Ansicht, daß alle diese verwandten Sprachen aus
einer uns wahrscheinlich nicht mehr erhaltenen Urquelle geflossen seien. Die
Sprache besteht aber uicht an und für sich, sondern ist an den Menschen, an
ein Volk als ihren Träger mit Notwendigkeit gebunden, also muß auch vor
mehreren tausend Jahren ein Volk gelebt haben, das diese Sprache gesprochen
hat. Und aus dein Wortschatz, den wir für diese Urzeit durch Bergleichung
gewinnen, können wir uns eine Vorstellung von der Kultur dieses Volkes
machen. Bei den großen Schwierigkeiten, die mit dieser Forschung verbunden
waren, und von denen sich die junge Wissenschaft nicht die rechte Vorstellung
machte, kann es nicht verwundern, daß die Ansichten über diese Kultur sehr
geschwankt haben. Während man früher den Indogermanen Ackerbau und
damit hohe geistige Entwicklung zuschrieb, hält mau sie heute für ein Hirten¬
volk, das höchstens ein oder zwei wild wachsende Halmfrüchte und die Eicheln
sammelte, die der Herbststurm von den mächtigen Bäumen herabschüttelte.
Hund, Rind und Schaf besaß mau in gezähmtem Zustande, nicht aber das
Schwein, das Roß und die Ziege. Die Nahrung bestand demgemäß aus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0523" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290292"/>
          <fw type="header" place="top"> Zu Franz Bopps hundertsten Gek'iiristage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1539" prev="#ID_1538"> schaft sein muß, zu erkenne», weshalb sich in dein einen Fall ein Laut so,<lb/>
in dem andern so verändert hat. Ein Beispiel mag das klarer machen.<lb/>
Nach Grimms Lautverschiebnngsgesetz entspricht einem griechisch-lateinischen t<lb/>
im Gotischen ein et, mit dein Lautwert des englischen et, und dies hat sich<lb/>
im Hochdeutschen weiter zu ä gewandelt, z. B. lateinisch tmtgr gotisch<lb/>
drollig-r ^ Bruder. In andern Fällen, die genau dieselben zu sein scheinen,<lb/>
finden wir im gotischen ein «1, im deutschen ein t, so im lateinischen Ma-,<lb/>
irmtsr gotisch naar, uwäiu-, Vater, Mutter. Anscheinend hat sich also hier<lb/>
derselbe Laut willkürlich in zwei verschiedne gespalten, und recht lange hat<lb/>
man nicht gewußt, irgend eine Ursache dafür ausfindig zu machen, bis endlich<lb/>
durch eine glänzende Entdeckung Karl Verners, eines dänischen Gelehrten, der<lb/>
Grund in dem Wechsel des indogermanischen Aceentes gefunden wurde.<lb/>
Bruder entspricht im Sanskrit ?&gt;Iir»tÄ, Vater, Mutter MiL, mM. So haben<lb/>
nur im Delltschen also in diesen und vielen andern Wörtern noch Nachwirkungen<lb/>
des alten, vor mehreren tausend Jahren gesprochnen indogermanischen Aeeentes,<lb/>
und es gehört zu den anziehendsten Aufgaben der Wissenschaft, diese alten Über¬<lb/>
reste zu betrachten. Wie hier, so ist es aber auch in unzähligen andern Fallen<lb/>
gelungen, die scheinbaren Ausnahmen wieder auf Gesetze zurückzuführen, und<lb/>
das Endziel der Wissenschaft, gewiß ein ideales, wohl nie ganz erreichbares<lb/>
muß sein, dies in allen Fällen zu thun.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1540" next="#ID_1541"> Die genaue Feststellung der Lautgesetze und die damit gegebne vollstän¬<lb/>
dige Darlegung der Entwicklung der Sprache ist nun jn an und für sich wichtig<lb/>
genug. Sie ist aber auch notwendig für die Erforschung der Kulturgeschichte,<lb/>
zu der vor allem auch die Sprachwissenschaft so viel beigetragen hat und noch<lb/>
beiträgt. Als der Zusammenhang der indogermanischen Sprachen aufgedeckt<lb/>
war, gelaugte mau zu der Ansicht, daß alle diese verwandten Sprachen aus<lb/>
einer uns wahrscheinlich nicht mehr erhaltenen Urquelle geflossen seien. Die<lb/>
Sprache besteht aber uicht an und für sich, sondern ist an den Menschen, an<lb/>
ein Volk als ihren Träger mit Notwendigkeit gebunden, also muß auch vor<lb/>
mehreren tausend Jahren ein Volk gelebt haben, das diese Sprache gesprochen<lb/>
hat. Und aus dein Wortschatz, den wir für diese Urzeit durch Bergleichung<lb/>
gewinnen, können wir uns eine Vorstellung von der Kultur dieses Volkes<lb/>
machen. Bei den großen Schwierigkeiten, die mit dieser Forschung verbunden<lb/>
waren, und von denen sich die junge Wissenschaft nicht die rechte Vorstellung<lb/>
machte, kann es nicht verwundern, daß die Ansichten über diese Kultur sehr<lb/>
geschwankt haben. Während man früher den Indogermanen Ackerbau und<lb/>
damit hohe geistige Entwicklung zuschrieb, hält mau sie heute für ein Hirten¬<lb/>
volk, das höchstens ein oder zwei wild wachsende Halmfrüchte und die Eicheln<lb/>
sammelte, die der Herbststurm von den mächtigen Bäumen herabschüttelte.<lb/>
Hund, Rind und Schaf besaß mau in gezähmtem Zustande, nicht aber das<lb/>
Schwein, das Roß und die Ziege. Die Nahrung bestand demgemäß aus</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0523] Zu Franz Bopps hundertsten Gek'iiristage schaft sein muß, zu erkenne», weshalb sich in dein einen Fall ein Laut so, in dem andern so verändert hat. Ein Beispiel mag das klarer machen. Nach Grimms Lautverschiebnngsgesetz entspricht einem griechisch-lateinischen t im Gotischen ein et, mit dein Lautwert des englischen et, und dies hat sich im Hochdeutschen weiter zu ä gewandelt, z. B. lateinisch tmtgr gotisch drollig-r ^ Bruder. In andern Fällen, die genau dieselben zu sein scheinen, finden wir im gotischen ein «1, im deutschen ein t, so im lateinischen Ma-, irmtsr gotisch naar, uwäiu-, Vater, Mutter. Anscheinend hat sich also hier derselbe Laut willkürlich in zwei verschiedne gespalten, und recht lange hat man nicht gewußt, irgend eine Ursache dafür ausfindig zu machen, bis endlich durch eine glänzende Entdeckung Karl Verners, eines dänischen Gelehrten, der Grund in dem Wechsel des indogermanischen Aceentes gefunden wurde. Bruder entspricht im Sanskrit ?>Iir»tÄ, Vater, Mutter MiL, mM. So haben nur im Delltschen also in diesen und vielen andern Wörtern noch Nachwirkungen des alten, vor mehreren tausend Jahren gesprochnen indogermanischen Aeeentes, und es gehört zu den anziehendsten Aufgaben der Wissenschaft, diese alten Über¬ reste zu betrachten. Wie hier, so ist es aber auch in unzähligen andern Fallen gelungen, die scheinbaren Ausnahmen wieder auf Gesetze zurückzuführen, und das Endziel der Wissenschaft, gewiß ein ideales, wohl nie ganz erreichbares muß sein, dies in allen Fällen zu thun. Die genaue Feststellung der Lautgesetze und die damit gegebne vollstän¬ dige Darlegung der Entwicklung der Sprache ist nun jn an und für sich wichtig genug. Sie ist aber auch notwendig für die Erforschung der Kulturgeschichte, zu der vor allem auch die Sprachwissenschaft so viel beigetragen hat und noch beiträgt. Als der Zusammenhang der indogermanischen Sprachen aufgedeckt war, gelaugte mau zu der Ansicht, daß alle diese verwandten Sprachen aus einer uns wahrscheinlich nicht mehr erhaltenen Urquelle geflossen seien. Die Sprache besteht aber uicht an und für sich, sondern ist an den Menschen, an ein Volk als ihren Träger mit Notwendigkeit gebunden, also muß auch vor mehreren tausend Jahren ein Volk gelebt haben, das diese Sprache gesprochen hat. Und aus dein Wortschatz, den wir für diese Urzeit durch Bergleichung gewinnen, können wir uns eine Vorstellung von der Kultur dieses Volkes machen. Bei den großen Schwierigkeiten, die mit dieser Forschung verbunden waren, und von denen sich die junge Wissenschaft nicht die rechte Vorstellung machte, kann es nicht verwundern, daß die Ansichten über diese Kultur sehr geschwankt haben. Während man früher den Indogermanen Ackerbau und damit hohe geistige Entwicklung zuschrieb, hält mau sie heute für ein Hirten¬ volk, das höchstens ein oder zwei wild wachsende Halmfrüchte und die Eicheln sammelte, die der Herbststurm von den mächtigen Bäumen herabschüttelte. Hund, Rind und Schaf besaß mau in gezähmtem Zustande, nicht aber das Schwein, das Roß und die Ziege. Die Nahrung bestand demgemäß aus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/523
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/523>, abgerufen am 26.08.2024.