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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Z" Franz Bopps hmidertstem Geburtstage

Bopp widmete der Sprachforschung seine Neigung zu ernster, wissenschaft¬
licher Beschäftigung "sogleich von Anbeginn mit der Absicht," wie sein Lehrer
Windischmann in den Vorerümerungen des zuerst erwähnten Buches bemerkt,
,,auf diesem Wege in das Geheimnis des menschlichen Geistes einzudringen
und demselben etwas von seiner Natur und von seinem Gesetz abzugewinnen."
Und dies ist in der That eines der Hauptziele der Sprachwissenschaft geblieben.
Die Sprache ist das, was den Menschen am meisten vom Tier unterscheidet,
sie ist der Ausfluß seines Denkens und der Ausdruck seines Geistes, und in
dieser Beziehung ist die Beschäftigung mit der Sprache, der Art und Weise,
wie der einzelne Mensch und einzelne Volksstämme ihre Gedanken ausdrücken,
ein Teil der Psychologie.

Bekanntlich unterscheiden sich die indogermanischen Sprachen nebst den
semitischen von allen andern scharf, sie sind flektirend, das heißt, sie stellen
die Beziehungen, in denen die einzelnen Wörter, die einzelnen Begriffe zu
einander stehen, durch eine formale Änderung des Wortes dar: mensg., der
Tisch, des Tisches. Es ist möglich, daß in diesen Kasusendungen
selbständige Wörter verborgen sind, llipu-s sich aus Inpo und -s, das "der"
oder "dieser" bedeutet haben mag, zusammensetzt, und daß es vielleicht gelingen
wird, eine Brücke zu den bloß agglutiuirendeu, d. h. zusammenleimenden
Sprachen zu schlagen. In diesem Ausdruck der Beziehungen aber, wie ihn
die flektirenden Sprachen ausgebildet haben, zeigt die historische Entwicklung,
die uns erst durch die Sprachwissenschaft klar geworden ist, eine eigentümliche
Wandlung. Die indogermanischen Sprachen ersetzen allmählich den Ausdruck
der Beziehung, der ursprünglich am Ende stand, durch einen vor dem Worte.
Während der Lateiner noch deklinirt bonio, llvimnis, horum, drückt der Fran¬
zose dieselben Beziehungen durch 1'llonun", <lo 1'bomink, -i. I'llominc; aus. Der
Deutsche sagt noch der Mann, des Mann-es mit doppeltem Ausdruck der
Beziehung im Artikel und in der Kasusendung -- eines genügte vollkommen
wie im Femininum -- die Frau -- der Frau --, aber der Engländer
ist schon einen Schritt weiter gegangen und deklinirt til" inM, et du<?
man. Daß dies eine geistige Entwicklung darstellt, ist nicht von Anfang an
bemerkt worden, aber trotzdem unzweifelhaft, denn den Ausdruck vor den neu
eingeführten Begriff zu setzen, erfordert ein größeres Maß geistiger Übersicht
als der umgekehrte Weg. Je mehr die Beziehungen durch Präpositionen vor
dem Wort, durch feste Stellung innerhalb des Satzgefüges wie im Französischen,
im Englischen und im Deutschen ausgedrückt werden, um so weiter ist auch die
geistige Entwicklung des Volkes vorgeschritten. Und so lehrt uns denn die
Sprachwissenschaft, was uns mit andern Mitteln die Geschichte anvertraut hat,
daß die europäischen Völker sich von einer tiefern, geistigen Stufe zu einer
höhern erhoben haben, wobei allerdings die Sprachwissenschaft ihre Betrach¬
tung auf sehr viel frühere Zeit als die Geschichte ausdehnen kann.


Grenzbote" IN 1891 g5
Z» Franz Bopps hmidertstem Geburtstage

Bopp widmete der Sprachforschung seine Neigung zu ernster, wissenschaft¬
licher Beschäftigung „sogleich von Anbeginn mit der Absicht," wie sein Lehrer
Windischmann in den Vorerümerungen des zuerst erwähnten Buches bemerkt,
,,auf diesem Wege in das Geheimnis des menschlichen Geistes einzudringen
und demselben etwas von seiner Natur und von seinem Gesetz abzugewinnen."
Und dies ist in der That eines der Hauptziele der Sprachwissenschaft geblieben.
Die Sprache ist das, was den Menschen am meisten vom Tier unterscheidet,
sie ist der Ausfluß seines Denkens und der Ausdruck seines Geistes, und in
dieser Beziehung ist die Beschäftigung mit der Sprache, der Art und Weise,
wie der einzelne Mensch und einzelne Volksstämme ihre Gedanken ausdrücken,
ein Teil der Psychologie.

Bekanntlich unterscheiden sich die indogermanischen Sprachen nebst den
semitischen von allen andern scharf, sie sind flektirend, das heißt, sie stellen
die Beziehungen, in denen die einzelnen Wörter, die einzelnen Begriffe zu
einander stehen, durch eine formale Änderung des Wortes dar: mensg., der
Tisch, des Tisches. Es ist möglich, daß in diesen Kasusendungen
selbständige Wörter verborgen sind, llipu-s sich aus Inpo und -s, das „der"
oder „dieser" bedeutet haben mag, zusammensetzt, und daß es vielleicht gelingen
wird, eine Brücke zu den bloß agglutiuirendeu, d. h. zusammenleimenden
Sprachen zu schlagen. In diesem Ausdruck der Beziehungen aber, wie ihn
die flektirenden Sprachen ausgebildet haben, zeigt die historische Entwicklung,
die uns erst durch die Sprachwissenschaft klar geworden ist, eine eigentümliche
Wandlung. Die indogermanischen Sprachen ersetzen allmählich den Ausdruck
der Beziehung, der ursprünglich am Ende stand, durch einen vor dem Worte.
Während der Lateiner noch deklinirt bonio, llvimnis, horum, drückt der Fran¬
zose dieselben Beziehungen durch 1'llonun«, <lo 1'bomink, -i. I'llominc; aus. Der
Deutsche sagt noch der Mann, des Mann-es mit doppeltem Ausdruck der
Beziehung im Artikel und in der Kasusendung — eines genügte vollkommen
wie im Femininum — die Frau — der Frau —, aber der Engländer
ist schon einen Schritt weiter gegangen und deklinirt til« inM, et du<?
man. Daß dies eine geistige Entwicklung darstellt, ist nicht von Anfang an
bemerkt worden, aber trotzdem unzweifelhaft, denn den Ausdruck vor den neu
eingeführten Begriff zu setzen, erfordert ein größeres Maß geistiger Übersicht
als der umgekehrte Weg. Je mehr die Beziehungen durch Präpositionen vor
dem Wort, durch feste Stellung innerhalb des Satzgefüges wie im Französischen,
im Englischen und im Deutschen ausgedrückt werden, um so weiter ist auch die
geistige Entwicklung des Volkes vorgeschritten. Und so lehrt uns denn die
Sprachwissenschaft, was uns mit andern Mitteln die Geschichte anvertraut hat,
daß die europäischen Völker sich von einer tiefern, geistigen Stufe zu einer
höhern erhoben haben, wobei allerdings die Sprachwissenschaft ihre Betrach¬
tung auf sehr viel frühere Zeit als die Geschichte ausdehnen kann.


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[0521] Z» Franz Bopps hmidertstem Geburtstage Bopp widmete der Sprachforschung seine Neigung zu ernster, wissenschaft¬ licher Beschäftigung „sogleich von Anbeginn mit der Absicht," wie sein Lehrer Windischmann in den Vorerümerungen des zuerst erwähnten Buches bemerkt, ,,auf diesem Wege in das Geheimnis des menschlichen Geistes einzudringen und demselben etwas von seiner Natur und von seinem Gesetz abzugewinnen." Und dies ist in der That eines der Hauptziele der Sprachwissenschaft geblieben. Die Sprache ist das, was den Menschen am meisten vom Tier unterscheidet, sie ist der Ausfluß seines Denkens und der Ausdruck seines Geistes, und in dieser Beziehung ist die Beschäftigung mit der Sprache, der Art und Weise, wie der einzelne Mensch und einzelne Volksstämme ihre Gedanken ausdrücken, ein Teil der Psychologie. Bekanntlich unterscheiden sich die indogermanischen Sprachen nebst den semitischen von allen andern scharf, sie sind flektirend, das heißt, sie stellen die Beziehungen, in denen die einzelnen Wörter, die einzelnen Begriffe zu einander stehen, durch eine formale Änderung des Wortes dar: mensg., der Tisch, des Tisches. Es ist möglich, daß in diesen Kasusendungen selbständige Wörter verborgen sind, llipu-s sich aus Inpo und -s, das „der" oder „dieser" bedeutet haben mag, zusammensetzt, und daß es vielleicht gelingen wird, eine Brücke zu den bloß agglutiuirendeu, d. h. zusammenleimenden Sprachen zu schlagen. In diesem Ausdruck der Beziehungen aber, wie ihn die flektirenden Sprachen ausgebildet haben, zeigt die historische Entwicklung, die uns erst durch die Sprachwissenschaft klar geworden ist, eine eigentümliche Wandlung. Die indogermanischen Sprachen ersetzen allmählich den Ausdruck der Beziehung, der ursprünglich am Ende stand, durch einen vor dem Worte. Während der Lateiner noch deklinirt bonio, llvimnis, horum, drückt der Fran¬ zose dieselben Beziehungen durch 1'llonun«, <lo 1'bomink, -i. I'llominc; aus. Der Deutsche sagt noch der Mann, des Mann-es mit doppeltem Ausdruck der Beziehung im Artikel und in der Kasusendung — eines genügte vollkommen wie im Femininum — die Frau — der Frau —, aber der Engländer ist schon einen Schritt weiter gegangen und deklinirt til« inM, et du<? man. Daß dies eine geistige Entwicklung darstellt, ist nicht von Anfang an bemerkt worden, aber trotzdem unzweifelhaft, denn den Ausdruck vor den neu eingeführten Begriff zu setzen, erfordert ein größeres Maß geistiger Übersicht als der umgekehrte Weg. Je mehr die Beziehungen durch Präpositionen vor dem Wort, durch feste Stellung innerhalb des Satzgefüges wie im Französischen, im Englischen und im Deutschen ausgedrückt werden, um so weiter ist auch die geistige Entwicklung des Volkes vorgeschritten. Und so lehrt uns denn die Sprachwissenschaft, was uns mit andern Mitteln die Geschichte anvertraut hat, daß die europäischen Völker sich von einer tiefern, geistigen Stufe zu einer höhern erhoben haben, wobei allerdings die Sprachwissenschaft ihre Betrach¬ tung auf sehr viel frühere Zeit als die Geschichte ausdehnen kann. Grenzbote» IN 1891 g5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/521>, abgerufen am 26.08.2024.