Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Evangelium des Natmalisinus

aufdämmern, als könnten seine Ideen nur durch eine kritische Zergliederung
des gesamten Materials verarbeitet werden, aber nur, um vor dieser Aufgabe,
die.doch bisher jeder der von den Herren Naturalisten so stark verachteten
"Kunstphilosophen" wenigstens annähernd zu lösen versucht hat, sofort wieder
zurückzuschrecken. Nicht, einmal dazu kommt es, daß ein einzelnes Kunstwerk
auf seine Bedingungen untersucht wird. Er muß, um seine Theorie zu ge¬
winnen, zur "Schmierage" greifen. Eine beißendere Satire auf den Natu¬
ralismus ist nicht zu ersinnen. Dabei die grandiosen Fehlschlusse, aus einer
einzelnen Erscheinung das Gesetz für die Gesamtheit, aus der niedern Gattung
das Gesetz auch für die höher" herzuleiten, weils so bequemer ist! Ja wenn
nicht Logik und Methode ein paar so zudringliche Dinge wären, die man selbst
"auf dein Sofa, bei einer Schale Kaffee und bei einer Zigarre" nicht ganz
los wird! Dann aber, nachdem der große Gedanke, das erlösende Wort ge¬
funden ist, wieder die gleiche Scheu, in ernster Arbeit die Probe auf das
Exempel zu machen: Unwissenheit und Unfähigkeit, Trägheit und Maugel an
Gewissenhaftigkeit reichen einander die Hände. Was Wunder, wenn das "Gesetz,"
das so zu stände gekommen ist, nun' auch darnach ist. "Die Kunst hat die
Tendenz, wieder Natur zu sein -- sagt Herr Holz -- sie wird es nach Ma߬
gabe ihrer jeweiligen Reprvduktivusbediugnngeu und ihrer Handhabung."
In seinem Jargon heißt das: "Alle Ratten haben die Tendenz, einen Schwanz
zu haben. Sie haben ihn, sofern sie normal geboren sind, und ihnen der
Schwanz nicht abgeschnitten wird."

Herr Holz hat sich sein Gesetz durch eine Folge mathematischer Gleichungen
znsammeneskamvtirt: es heißt also nicht aus dem Tone fallen, wenn wir beim
Rechnen bleiben und dem Naturalismus eine Bilanz vorhalten:


[Beginn Spaltensatz]
Aktiva
Poetische Begabung 0,00
Wissen 0,00
Fleiß und Ausdauer 0,00
Logik und Methode 0,00
Rezeptioussähigkcit 0,00
Produktivität im Deuten 0,00
Geschmack 0,(10
Stil _0M
Summa: 0,00

[Spaltenumbruch]
Passiva
Vor Sonnenuntergang
Das Friedensfest
Einsame Menschen
Die gute Schule
Der neue Mensch
Papa Hamlet
Die Familie Selicke
Freie Biihne u. s. w.
Summa: to>

[Ende Spaltensatz]

Der Naturalismus wird also gut thun, schleunigst die Liquidation anzumelden.
Für jeden, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, stand dieser
Bankerott lange fest. Es war eine sehr "unsolide Firma," dieser Nnturalis-
mns, gegründet in erster Linie ans den Ehrgeiz und die Unfähigkeit einiger
Litteraten, in zweiter Linie auf ein Prinzip, dessen Fadenscheiuigkeit von An¬
beginn an leicht zu durchschauen war. Die Kunst hat gar nicht die Tendenz,
Natur zu sein, sie wird auch nicht Natur, sie ist Natur von vornherein; jede


Lin Evangelium des Natmalisinus

aufdämmern, als könnten seine Ideen nur durch eine kritische Zergliederung
des gesamten Materials verarbeitet werden, aber nur, um vor dieser Aufgabe,
die.doch bisher jeder der von den Herren Naturalisten so stark verachteten
„Kunstphilosophen" wenigstens annähernd zu lösen versucht hat, sofort wieder
zurückzuschrecken. Nicht, einmal dazu kommt es, daß ein einzelnes Kunstwerk
auf seine Bedingungen untersucht wird. Er muß, um seine Theorie zu ge¬
winnen, zur „Schmierage" greifen. Eine beißendere Satire auf den Natu¬
ralismus ist nicht zu ersinnen. Dabei die grandiosen Fehlschlusse, aus einer
einzelnen Erscheinung das Gesetz für die Gesamtheit, aus der niedern Gattung
das Gesetz auch für die höher« herzuleiten, weils so bequemer ist! Ja wenn
nicht Logik und Methode ein paar so zudringliche Dinge wären, die man selbst
„auf dein Sofa, bei einer Schale Kaffee und bei einer Zigarre" nicht ganz
los wird! Dann aber, nachdem der große Gedanke, das erlösende Wort ge¬
funden ist, wieder die gleiche Scheu, in ernster Arbeit die Probe auf das
Exempel zu machen: Unwissenheit und Unfähigkeit, Trägheit und Maugel an
Gewissenhaftigkeit reichen einander die Hände. Was Wunder, wenn das „Gesetz,"
das so zu stände gekommen ist, nun' auch darnach ist. „Die Kunst hat die
Tendenz, wieder Natur zu sein — sagt Herr Holz — sie wird es nach Ma߬
gabe ihrer jeweiligen Reprvduktivusbediugnngeu und ihrer Handhabung."
In seinem Jargon heißt das: „Alle Ratten haben die Tendenz, einen Schwanz
zu haben. Sie haben ihn, sofern sie normal geboren sind, und ihnen der
Schwanz nicht abgeschnitten wird."

Herr Holz hat sich sein Gesetz durch eine Folge mathematischer Gleichungen
znsammeneskamvtirt: es heißt also nicht aus dem Tone fallen, wenn wir beim
Rechnen bleiben und dem Naturalismus eine Bilanz vorhalten:


[Beginn Spaltensatz]
Aktiva
Poetische Begabung 0,00
Wissen 0,00
Fleiß und Ausdauer 0,00
Logik und Methode 0,00
Rezeptioussähigkcit 0,00
Produktivität im Deuten 0,00
Geschmack 0,(10
Stil _0M
Summa: 0,00

[Spaltenumbruch]
Passiva
Vor Sonnenuntergang
Das Friedensfest
Einsame Menschen
Die gute Schule
Der neue Mensch
Papa Hamlet
Die Familie Selicke
Freie Biihne u. s. w.
Summa: to>

[Ende Spaltensatz]

Der Naturalismus wird also gut thun, schleunigst die Liquidation anzumelden.
Für jeden, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, stand dieser
Bankerott lange fest. Es war eine sehr „unsolide Firma," dieser Nnturalis-
mns, gegründet in erster Linie ans den Ehrgeiz und die Unfähigkeit einiger
Litteraten, in zweiter Linie auf ein Prinzip, dessen Fadenscheiuigkeit von An¬
beginn an leicht zu durchschauen war. Die Kunst hat gar nicht die Tendenz,
Natur zu sein, sie wird auch nicht Natur, sie ist Natur von vornherein; jede


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289819"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Evangelium des Natmalisinus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_148" prev="#ID_147"> aufdämmern, als könnten seine Ideen nur durch eine kritische Zergliederung<lb/>
des gesamten Materials verarbeitet werden, aber nur, um vor dieser Aufgabe,<lb/>
die.doch bisher jeder der von den Herren Naturalisten so stark verachteten<lb/>
&#x201E;Kunstphilosophen" wenigstens annähernd zu lösen versucht hat, sofort wieder<lb/>
zurückzuschrecken. Nicht, einmal dazu kommt es, daß ein einzelnes Kunstwerk<lb/>
auf seine Bedingungen untersucht wird. Er muß, um seine Theorie zu ge¬<lb/>
winnen, zur &#x201E;Schmierage" greifen. Eine beißendere Satire auf den Natu¬<lb/>
ralismus ist nicht zu ersinnen. Dabei die grandiosen Fehlschlusse, aus einer<lb/>
einzelnen Erscheinung das Gesetz für die Gesamtheit, aus der niedern Gattung<lb/>
das Gesetz auch für die höher« herzuleiten, weils so bequemer ist! Ja wenn<lb/>
nicht Logik und Methode ein paar so zudringliche Dinge wären, die man selbst<lb/>
&#x201E;auf dein Sofa, bei einer Schale Kaffee und bei einer Zigarre" nicht ganz<lb/>
los wird! Dann aber, nachdem der große Gedanke, das erlösende Wort ge¬<lb/>
funden ist, wieder die gleiche Scheu, in ernster Arbeit die Probe auf das<lb/>
Exempel zu machen: Unwissenheit und Unfähigkeit, Trägheit und Maugel an<lb/>
Gewissenhaftigkeit reichen einander die Hände. Was Wunder, wenn das &#x201E;Gesetz,"<lb/>
das so zu stände gekommen ist, nun' auch darnach ist. &#x201E;Die Kunst hat die<lb/>
Tendenz, wieder Natur zu sein &#x2014; sagt Herr Holz &#x2014; sie wird es nach Ma߬<lb/>
gabe ihrer jeweiligen Reprvduktivusbediugnngeu und ihrer Handhabung."<lb/>
In seinem Jargon heißt das: &#x201E;Alle Ratten haben die Tendenz, einen Schwanz<lb/>
zu haben. Sie haben ihn, sofern sie normal geboren sind, und ihnen der<lb/>
Schwanz nicht abgeschnitten wird."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_149" next="#ID_150"> Herr Holz hat sich sein Gesetz durch eine Folge mathematischer Gleichungen<lb/>
znsammeneskamvtirt: es heißt also nicht aus dem Tone fallen, wenn wir beim<lb/>
Rechnen bleiben und dem Naturalismus eine Bilanz vorhalten:</p><lb/>
          <cb type="start"/>
          <list>
            <item> Aktiva</item>
            <item> Poetische Begabung 0,00</item>
            <item> Wissen 0,00</item>
            <item> Fleiß und Ausdauer 0,00</item>
            <item> Logik und Methode 0,00</item>
            <item> Rezeptioussähigkcit 0,00</item>
            <item> Produktivität im Deuten   0,00</item>
            <item> Geschmack 0,(10 </item>
            <item> Stil _0M</item>
            <item> Summa: 0,00</item>
          </list><lb/>
          <cb/><lb/>
          <list>
            <item> Passiva</item>
            <item> Vor Sonnenuntergang</item>
            <item> Das Friedensfest</item>
            <item> Einsame Menschen</item>
            <item> Die gute Schule</item>
            <item> Der neue Mensch</item>
            <item> Papa Hamlet</item>
            <item> Die Familie Selicke</item>
            <item> Freie Biihne u. s. w.</item>
            <item> Summa: to&gt;</item>
          </list><lb/>
          <cb type="end"/><lb/>
          <p xml:id="ID_150" prev="#ID_149" next="#ID_151"> Der Naturalismus wird also gut thun, schleunigst die Liquidation anzumelden.<lb/>
Für jeden, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, stand dieser<lb/>
Bankerott lange fest. Es war eine sehr &#x201E;unsolide Firma," dieser Nnturalis-<lb/>
mns, gegründet in erster Linie ans den Ehrgeiz und die Unfähigkeit einiger<lb/>
Litteraten, in zweiter Linie auf ein Prinzip, dessen Fadenscheiuigkeit von An¬<lb/>
beginn an leicht zu durchschauen war. Die Kunst hat gar nicht die Tendenz,<lb/>
Natur zu sein, sie wird auch nicht Natur, sie ist Natur von vornherein; jede</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0051] Lin Evangelium des Natmalisinus aufdämmern, als könnten seine Ideen nur durch eine kritische Zergliederung des gesamten Materials verarbeitet werden, aber nur, um vor dieser Aufgabe, die.doch bisher jeder der von den Herren Naturalisten so stark verachteten „Kunstphilosophen" wenigstens annähernd zu lösen versucht hat, sofort wieder zurückzuschrecken. Nicht, einmal dazu kommt es, daß ein einzelnes Kunstwerk auf seine Bedingungen untersucht wird. Er muß, um seine Theorie zu ge¬ winnen, zur „Schmierage" greifen. Eine beißendere Satire auf den Natu¬ ralismus ist nicht zu ersinnen. Dabei die grandiosen Fehlschlusse, aus einer einzelnen Erscheinung das Gesetz für die Gesamtheit, aus der niedern Gattung das Gesetz auch für die höher« herzuleiten, weils so bequemer ist! Ja wenn nicht Logik und Methode ein paar so zudringliche Dinge wären, die man selbst „auf dein Sofa, bei einer Schale Kaffee und bei einer Zigarre" nicht ganz los wird! Dann aber, nachdem der große Gedanke, das erlösende Wort ge¬ funden ist, wieder die gleiche Scheu, in ernster Arbeit die Probe auf das Exempel zu machen: Unwissenheit und Unfähigkeit, Trägheit und Maugel an Gewissenhaftigkeit reichen einander die Hände. Was Wunder, wenn das „Gesetz," das so zu stände gekommen ist, nun' auch darnach ist. „Die Kunst hat die Tendenz, wieder Natur zu sein — sagt Herr Holz — sie wird es nach Ma߬ gabe ihrer jeweiligen Reprvduktivusbediugnngeu und ihrer Handhabung." In seinem Jargon heißt das: „Alle Ratten haben die Tendenz, einen Schwanz zu haben. Sie haben ihn, sofern sie normal geboren sind, und ihnen der Schwanz nicht abgeschnitten wird." Herr Holz hat sich sein Gesetz durch eine Folge mathematischer Gleichungen znsammeneskamvtirt: es heißt also nicht aus dem Tone fallen, wenn wir beim Rechnen bleiben und dem Naturalismus eine Bilanz vorhalten: Aktiva Poetische Begabung 0,00 Wissen 0,00 Fleiß und Ausdauer 0,00 Logik und Methode 0,00 Rezeptioussähigkcit 0,00 Produktivität im Deuten 0,00 Geschmack 0,(10 Stil _0M Summa: 0,00 Passiva Vor Sonnenuntergang Das Friedensfest Einsame Menschen Die gute Schule Der neue Mensch Papa Hamlet Die Familie Selicke Freie Biihne u. s. w. Summa: to> Der Naturalismus wird also gut thun, schleunigst die Liquidation anzumelden. Für jeden, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, stand dieser Bankerott lange fest. Es war eine sehr „unsolide Firma," dieser Nnturalis- mns, gegründet in erster Linie ans den Ehrgeiz und die Unfähigkeit einiger Litteraten, in zweiter Linie auf ein Prinzip, dessen Fadenscheiuigkeit von An¬ beginn an leicht zu durchschauen war. Die Kunst hat gar nicht die Tendenz, Natur zu sein, sie wird auch nicht Natur, sie ist Natur von vornherein; jede

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/51
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/51>, abgerufen am 26.08.2024.