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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

trifft der Ausdruck ungeheure Mehrheit zu; es schien nur so, weil der calvi-
nische Teil des Volkes überall der thatkräftigere und zugleich unduldsamere
war, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten an sich riß und sich die
Mehrheit unterwarf. Wenzelburger berichtet darüber (Band II, S. 807 ff.),
Wilhelm von Oranien habe solange auf Gleichberechtigung der beiden Kulte
und auf vollständige Gewissens- und Religionsfreiheit gedrungen, als noch
die gegründete Aussicht bestand, sämtliche siebzehn Provinzen zu einem un¬
abhängigen Gemeinwesen zu vereinigen. Nachdem aber die Katholiken der
Sttdprovinzen, erbittert durch die Mißhandlungen, denen sie sich ausgesetzt
sahen, ihre Sympathien für Spanien unzweideutig kundgegeben hätten, habe
er seinen Widerstand gegen die ealvinistischen Forderungen aufgegeben. So sei
deun im Jahre 1573 zum erstenmale die öffentliche Ausübung der katholischen
Religion verboten worden. Holland und Zeeland gingen voran, die andern
Provinzen folgten nach. "Johann von Nassau reformirte mit Hilfe seiner
Truppen Gelderland und Overyssel, in Friesland und Groningen that später
Wilhelm Ludwig dasselbe. Den Katholiken in Groningen wurden kurzweg
die Kirchen weggenommen und den Protestanten übergeben, dasselbe war in
Nymwegen geschehen, als sich die Stadt 1591 an Moritz übergeben hatte.
Auf dein platten Lande wurden die Geistlichen eingeladen, sich von der Wahr¬
heit der neuen Lehre zu überzeugen und dann als Prädikanten an der Spitze
ihrer Gemeinden zu bleiben oder im Weigerungsfalle ihre Stellen niederzu¬
legen. Aber trotz aller Gewaltmaßregeln war es doch nicht gelungen, den
Katholizismus so vollständig zu vertilge", wie es in, katholischen Ländern mit
dein Protestantismus geschehen war.. IDer verschiedne Erfolg erklärt sich leicht
genug; in dem einen Falle wurde eine neue, unbefestigte, in den Glaubens-
meinungen vielfach gespaltne Minderheit von der befestigten alten in sich
einigen Mehrheit ausgerottet, im andern Falle machte die neue Minderheit
den Versuch, der nur durch ein Wunder hätte gelingen können, die alte, be¬
festigte Mehrheit auszurotten.^ Zur Zeit Oldenbarnevelts bilden die Katho¬
liken nach seiner Behauptung noch die Mehrheit, und zwar nicht nur in
Gelderland, Friesland, Overyssel, Groningen und Utrecht, sondern selbst in
Holland, wo in einer Konferenz von Prädikauteu und Deputirten im Jahre 1587
konstatirt wurde, daß nicht der zehnte Teil der Einwohner der Provinz refor-
mirt sei, und später, 1K18, gab Oldenbarnevelt dem englischen Gesandten
Carleton die Versicherung, daß die Papisten noch immer den reichsten und
angesehensten Teil der Bevölkerung bildeten, und daß die Protestanten nicht
den dritten Teil der Bewohner ausmachten." Daß sich eine so große Mehr¬
heit einfach unterdrücken ließ, würde unglaublich erscheinen, wenn man nicht
wüßte, in einer wie schwierigen Lage sie sich befand. Bei einer großen, von
Ideen getragnen Umwälzung fallen natürlicherweise die begabteren Geister,
die unruhigeren und thatkräftigeren Köpfe der Partei der Neuerer zu. So


Geschichtsphilosophische Gedanken

trifft der Ausdruck ungeheure Mehrheit zu; es schien nur so, weil der calvi-
nische Teil des Volkes überall der thatkräftigere und zugleich unduldsamere
war, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten an sich riß und sich die
Mehrheit unterwarf. Wenzelburger berichtet darüber (Band II, S. 807 ff.),
Wilhelm von Oranien habe solange auf Gleichberechtigung der beiden Kulte
und auf vollständige Gewissens- und Religionsfreiheit gedrungen, als noch
die gegründete Aussicht bestand, sämtliche siebzehn Provinzen zu einem un¬
abhängigen Gemeinwesen zu vereinigen. Nachdem aber die Katholiken der
Sttdprovinzen, erbittert durch die Mißhandlungen, denen sie sich ausgesetzt
sahen, ihre Sympathien für Spanien unzweideutig kundgegeben hätten, habe
er seinen Widerstand gegen die ealvinistischen Forderungen aufgegeben. So sei
deun im Jahre 1573 zum erstenmale die öffentliche Ausübung der katholischen
Religion verboten worden. Holland und Zeeland gingen voran, die andern
Provinzen folgten nach. „Johann von Nassau reformirte mit Hilfe seiner
Truppen Gelderland und Overyssel, in Friesland und Groningen that später
Wilhelm Ludwig dasselbe. Den Katholiken in Groningen wurden kurzweg
die Kirchen weggenommen und den Protestanten übergeben, dasselbe war in
Nymwegen geschehen, als sich die Stadt 1591 an Moritz übergeben hatte.
Auf dein platten Lande wurden die Geistlichen eingeladen, sich von der Wahr¬
heit der neuen Lehre zu überzeugen und dann als Prädikanten an der Spitze
ihrer Gemeinden zu bleiben oder im Weigerungsfalle ihre Stellen niederzu¬
legen. Aber trotz aller Gewaltmaßregeln war es doch nicht gelungen, den
Katholizismus so vollständig zu vertilge«, wie es in, katholischen Ländern mit
dein Protestantismus geschehen war.. IDer verschiedne Erfolg erklärt sich leicht
genug; in dem einen Falle wurde eine neue, unbefestigte, in den Glaubens-
meinungen vielfach gespaltne Minderheit von der befestigten alten in sich
einigen Mehrheit ausgerottet, im andern Falle machte die neue Minderheit
den Versuch, der nur durch ein Wunder hätte gelingen können, die alte, be¬
festigte Mehrheit auszurotten.^ Zur Zeit Oldenbarnevelts bilden die Katho¬
liken nach seiner Behauptung noch die Mehrheit, und zwar nicht nur in
Gelderland, Friesland, Overyssel, Groningen und Utrecht, sondern selbst in
Holland, wo in einer Konferenz von Prädikauteu und Deputirten im Jahre 1587
konstatirt wurde, daß nicht der zehnte Teil der Einwohner der Provinz refor-
mirt sei, und später, 1K18, gab Oldenbarnevelt dem englischen Gesandten
Carleton die Versicherung, daß die Papisten noch immer den reichsten und
angesehensten Teil der Bevölkerung bildeten, und daß die Protestanten nicht
den dritten Teil der Bewohner ausmachten." Daß sich eine so große Mehr¬
heit einfach unterdrücken ließ, würde unglaublich erscheinen, wenn man nicht
wüßte, in einer wie schwierigen Lage sie sich befand. Bei einer großen, von
Ideen getragnen Umwälzung fallen natürlicherweise die begabteren Geister,
die unruhigeren und thatkräftigeren Köpfe der Partei der Neuerer zu. So


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[0506] Geschichtsphilosophische Gedanken trifft der Ausdruck ungeheure Mehrheit zu; es schien nur so, weil der calvi- nische Teil des Volkes überall der thatkräftigere und zugleich unduldsamere war, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten an sich riß und sich die Mehrheit unterwarf. Wenzelburger berichtet darüber (Band II, S. 807 ff.), Wilhelm von Oranien habe solange auf Gleichberechtigung der beiden Kulte und auf vollständige Gewissens- und Religionsfreiheit gedrungen, als noch die gegründete Aussicht bestand, sämtliche siebzehn Provinzen zu einem un¬ abhängigen Gemeinwesen zu vereinigen. Nachdem aber die Katholiken der Sttdprovinzen, erbittert durch die Mißhandlungen, denen sie sich ausgesetzt sahen, ihre Sympathien für Spanien unzweideutig kundgegeben hätten, habe er seinen Widerstand gegen die ealvinistischen Forderungen aufgegeben. So sei deun im Jahre 1573 zum erstenmale die öffentliche Ausübung der katholischen Religion verboten worden. Holland und Zeeland gingen voran, die andern Provinzen folgten nach. „Johann von Nassau reformirte mit Hilfe seiner Truppen Gelderland und Overyssel, in Friesland und Groningen that später Wilhelm Ludwig dasselbe. Den Katholiken in Groningen wurden kurzweg die Kirchen weggenommen und den Protestanten übergeben, dasselbe war in Nymwegen geschehen, als sich die Stadt 1591 an Moritz übergeben hatte. Auf dein platten Lande wurden die Geistlichen eingeladen, sich von der Wahr¬ heit der neuen Lehre zu überzeugen und dann als Prädikanten an der Spitze ihrer Gemeinden zu bleiben oder im Weigerungsfalle ihre Stellen niederzu¬ legen. Aber trotz aller Gewaltmaßregeln war es doch nicht gelungen, den Katholizismus so vollständig zu vertilge«, wie es in, katholischen Ländern mit dein Protestantismus geschehen war.. IDer verschiedne Erfolg erklärt sich leicht genug; in dem einen Falle wurde eine neue, unbefestigte, in den Glaubens- meinungen vielfach gespaltne Minderheit von der befestigten alten in sich einigen Mehrheit ausgerottet, im andern Falle machte die neue Minderheit den Versuch, der nur durch ein Wunder hätte gelingen können, die alte, be¬ festigte Mehrheit auszurotten.^ Zur Zeit Oldenbarnevelts bilden die Katho¬ liken nach seiner Behauptung noch die Mehrheit, und zwar nicht nur in Gelderland, Friesland, Overyssel, Groningen und Utrecht, sondern selbst in Holland, wo in einer Konferenz von Prädikauteu und Deputirten im Jahre 1587 konstatirt wurde, daß nicht der zehnte Teil der Einwohner der Provinz refor- mirt sei, und später, 1K18, gab Oldenbarnevelt dem englischen Gesandten Carleton die Versicherung, daß die Papisten noch immer den reichsten und angesehensten Teil der Bevölkerung bildeten, und daß die Protestanten nicht den dritten Teil der Bewohner ausmachten." Daß sich eine so große Mehr¬ heit einfach unterdrücken ließ, würde unglaublich erscheinen, wenn man nicht wüßte, in einer wie schwierigen Lage sie sich befand. Bei einer großen, von Ideen getragnen Umwälzung fallen natürlicherweise die begabteren Geister, die unruhigeren und thatkräftigeren Köpfe der Partei der Neuerer zu. So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/506>, abgerufen am 26.08.2024.