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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

sehen, in der die revolutionäre und anfänglich in Phantastische, dem Alten
Testament entlehnte Redensarten gekleidete Staatsrechtslehre der Calvinisten,
Hugenotten und Puritaner zuguderletzt ihre bleibende Verkörperung gefunden
hat. Aber so liegt die Sache uicht. Vielmehr war die Lehre von der Ver¬
tragsnatur des Staates das Alte und der Absolutismus das Neue. Auch der
entschiedne Protestant Wenzelburger hebt in seiner Geschichte der Niederlande
sehr nachdrücklich hervor, daß man bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein
in Europa kein unumschränktes Monarchenrecht gekannt, sondern es für ganz
selbstverständlich gehalten habe, daß das Volk dein Fürsten von dem Augenblick
an nicht mehr zu gehorchen brauche, wo dieser den bei seiner Thronbesteigung
eingegangenen Vertrag nicht mehr hält. Ein solcher Vertrag wurde meistens
nicht nur stillschweigend, sondern in aller Form abgeschlossen, indem der Fürst
eine Wahlkapitnlation zu unterschreiben oder zu geloben hatte, daß er die
Rechte des Volkes oder der Stände aufrecht erhalten wolle. Eben dieses war
den Niederländern ja der Anlaß zum Abfall gewesen, daß ihrer Ansicht nach
Philipp II. den Vertrag gebrochen hatte. Nicht die Prvtestantenverfolgnngen,
auch das weist Wenzelburger nach, sondern die Eingriffe des Königs in die
Rechte, namentlich in die Steuervorrechte der Provinzen hatten das Volk zum
Aufruhr getrieben; die Glaubensgerichte spielten dabei nur insofern eine Rolle,
als die Einrichtung der Inquisition eben selbst ein unberechtigter Eingriff in
die Selbstverwaltung der Provinzen war. Nicht sowohl um den Gegensatz
zwischen Protestantismus und Katholizismus also handelte es sich in diesem
großen Befreiungskampfe, als um den zwischen dem alten Ständestaat und dem
neuen nach unumschränkter Gewalt strebenden Königtum. Der Protestant
Jakob II., die lutherischen Fürsten Deutschlands, die skandinavischen Könige, sie
standen ganz und gar auf demselben Boden und verfuhren nach denselben Grund¬
sätzen wie Philipp II., Ferdinand II. und der Kardinal Richelieu. Das An¬
sehen eines Kampfes zwischen Protestantismus und Katholizismus gewann der
Unabhängigkeitskrieg erst, als in seinem weitern Verlaufe die nördlichen, dem
Protestantismus zuneigenden Provinzen die Führung in die Hand bekamen.
Dieses protestantische Gepräge hat dem neuen Staate bekanntlich seine südlichen
Provinzen gekostet, die nur darum mit den Spaniern Frieden schlossen, weil
sie den Protestantismus nicht annehmen mochten.

Um die Lage ganz zu durchschauen, muß man das Verhältnis der Stärke
der Konfessionen kennen. Der Protestantismus und gar erst der reine strenge
Calvinismus überwog nicht einmal in den nachher sogenannten Vereinigten
Staaten, in der nördlichen Hälfte der Niederlande. Treitschke umgeht die für
seinen Standpunkt heikle Frage, indem er nur sagt, daß durch die rührige
Arbeit der Theologen (nach Ausbruch des Aufruhrs!) "die ungeheure Mehr¬
heit des Volkes von Holland und Zeeland gänzlich dem Protestantismus ge¬
wonnen worden" sei. Aber nicht einmal für die genannten zwei Provinzen


Grenzboten 111 1891 63
Geschichtsphilosophische Gedanken

sehen, in der die revolutionäre und anfänglich in Phantastische, dem Alten
Testament entlehnte Redensarten gekleidete Staatsrechtslehre der Calvinisten,
Hugenotten und Puritaner zuguderletzt ihre bleibende Verkörperung gefunden
hat. Aber so liegt die Sache uicht. Vielmehr war die Lehre von der Ver¬
tragsnatur des Staates das Alte und der Absolutismus das Neue. Auch der
entschiedne Protestant Wenzelburger hebt in seiner Geschichte der Niederlande
sehr nachdrücklich hervor, daß man bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein
in Europa kein unumschränktes Monarchenrecht gekannt, sondern es für ganz
selbstverständlich gehalten habe, daß das Volk dein Fürsten von dem Augenblick
an nicht mehr zu gehorchen brauche, wo dieser den bei seiner Thronbesteigung
eingegangenen Vertrag nicht mehr hält. Ein solcher Vertrag wurde meistens
nicht nur stillschweigend, sondern in aller Form abgeschlossen, indem der Fürst
eine Wahlkapitnlation zu unterschreiben oder zu geloben hatte, daß er die
Rechte des Volkes oder der Stände aufrecht erhalten wolle. Eben dieses war
den Niederländern ja der Anlaß zum Abfall gewesen, daß ihrer Ansicht nach
Philipp II. den Vertrag gebrochen hatte. Nicht die Prvtestantenverfolgnngen,
auch das weist Wenzelburger nach, sondern die Eingriffe des Königs in die
Rechte, namentlich in die Steuervorrechte der Provinzen hatten das Volk zum
Aufruhr getrieben; die Glaubensgerichte spielten dabei nur insofern eine Rolle,
als die Einrichtung der Inquisition eben selbst ein unberechtigter Eingriff in
die Selbstverwaltung der Provinzen war. Nicht sowohl um den Gegensatz
zwischen Protestantismus und Katholizismus also handelte es sich in diesem
großen Befreiungskampfe, als um den zwischen dem alten Ständestaat und dem
neuen nach unumschränkter Gewalt strebenden Königtum. Der Protestant
Jakob II., die lutherischen Fürsten Deutschlands, die skandinavischen Könige, sie
standen ganz und gar auf demselben Boden und verfuhren nach denselben Grund¬
sätzen wie Philipp II., Ferdinand II. und der Kardinal Richelieu. Das An¬
sehen eines Kampfes zwischen Protestantismus und Katholizismus gewann der
Unabhängigkeitskrieg erst, als in seinem weitern Verlaufe die nördlichen, dem
Protestantismus zuneigenden Provinzen die Führung in die Hand bekamen.
Dieses protestantische Gepräge hat dem neuen Staate bekanntlich seine südlichen
Provinzen gekostet, die nur darum mit den Spaniern Frieden schlossen, weil
sie den Protestantismus nicht annehmen mochten.

Um die Lage ganz zu durchschauen, muß man das Verhältnis der Stärke
der Konfessionen kennen. Der Protestantismus und gar erst der reine strenge
Calvinismus überwog nicht einmal in den nachher sogenannten Vereinigten
Staaten, in der nördlichen Hälfte der Niederlande. Treitschke umgeht die für
seinen Standpunkt heikle Frage, indem er nur sagt, daß durch die rührige
Arbeit der Theologen (nach Ausbruch des Aufruhrs!) „die ungeheure Mehr¬
heit des Volkes von Holland und Zeeland gänzlich dem Protestantismus ge¬
wonnen worden" sei. Aber nicht einmal für die genannten zwei Provinzen


Grenzboten 111 1891 63
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[0505] Geschichtsphilosophische Gedanken sehen, in der die revolutionäre und anfänglich in Phantastische, dem Alten Testament entlehnte Redensarten gekleidete Staatsrechtslehre der Calvinisten, Hugenotten und Puritaner zuguderletzt ihre bleibende Verkörperung gefunden hat. Aber so liegt die Sache uicht. Vielmehr war die Lehre von der Ver¬ tragsnatur des Staates das Alte und der Absolutismus das Neue. Auch der entschiedne Protestant Wenzelburger hebt in seiner Geschichte der Niederlande sehr nachdrücklich hervor, daß man bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein in Europa kein unumschränktes Monarchenrecht gekannt, sondern es für ganz selbstverständlich gehalten habe, daß das Volk dein Fürsten von dem Augenblick an nicht mehr zu gehorchen brauche, wo dieser den bei seiner Thronbesteigung eingegangenen Vertrag nicht mehr hält. Ein solcher Vertrag wurde meistens nicht nur stillschweigend, sondern in aller Form abgeschlossen, indem der Fürst eine Wahlkapitnlation zu unterschreiben oder zu geloben hatte, daß er die Rechte des Volkes oder der Stände aufrecht erhalten wolle. Eben dieses war den Niederländern ja der Anlaß zum Abfall gewesen, daß ihrer Ansicht nach Philipp II. den Vertrag gebrochen hatte. Nicht die Prvtestantenverfolgnngen, auch das weist Wenzelburger nach, sondern die Eingriffe des Königs in die Rechte, namentlich in die Steuervorrechte der Provinzen hatten das Volk zum Aufruhr getrieben; die Glaubensgerichte spielten dabei nur insofern eine Rolle, als die Einrichtung der Inquisition eben selbst ein unberechtigter Eingriff in die Selbstverwaltung der Provinzen war. Nicht sowohl um den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus also handelte es sich in diesem großen Befreiungskampfe, als um den zwischen dem alten Ständestaat und dem neuen nach unumschränkter Gewalt strebenden Königtum. Der Protestant Jakob II., die lutherischen Fürsten Deutschlands, die skandinavischen Könige, sie standen ganz und gar auf demselben Boden und verfuhren nach denselben Grund¬ sätzen wie Philipp II., Ferdinand II. und der Kardinal Richelieu. Das An¬ sehen eines Kampfes zwischen Protestantismus und Katholizismus gewann der Unabhängigkeitskrieg erst, als in seinem weitern Verlaufe die nördlichen, dem Protestantismus zuneigenden Provinzen die Führung in die Hand bekamen. Dieses protestantische Gepräge hat dem neuen Staate bekanntlich seine südlichen Provinzen gekostet, die nur darum mit den Spaniern Frieden schlossen, weil sie den Protestantismus nicht annehmen mochten. Um die Lage ganz zu durchschauen, muß man das Verhältnis der Stärke der Konfessionen kennen. Der Protestantismus und gar erst der reine strenge Calvinismus überwog nicht einmal in den nachher sogenannten Vereinigten Staaten, in der nördlichen Hälfte der Niederlande. Treitschke umgeht die für seinen Standpunkt heikle Frage, indem er nur sagt, daß durch die rührige Arbeit der Theologen (nach Ausbruch des Aufruhrs!) „die ungeheure Mehr¬ heit des Volkes von Holland und Zeeland gänzlich dem Protestantismus ge¬ wonnen worden" sei. Aber nicht einmal für die genannten zwei Provinzen Grenzboten 111 1891 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/505>, abgerufen am 26.08.2024.