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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zur sozialen Frage

steht und sich ebenso wenig gegen Geld verkaufen läßt, als die Person selbst;
daß aber, wenn man Arbeitskraft kaufen kann, zeitweilig eine Abhängigkeit
der Person entsteht, die mit der Freiheit und Gleichberechtigung der Staats¬
bürger in Widerspruch gerät. Darin liegt der Kern der sozialen Frage, daß
das bis jetzt geltende Lvhnshstem durch ein andres ersetzt werden muß.

Und wird es nicht allmählich klar und immer klarer, daß wir mit dem
Lohngesetz Bankrott zu macheu im Begriffe stehen? Die Not um Arbeiter auf
dem Lande wächst von Tag zu Tage; in den Städten wird es immer schwerer,
Dienstboten zu bekommen, und in den Vangewerbeu und bei den Fabrik- und
Bergwerksuuternehmungcn ist immer die Gefahr vorhanden, daß durch Streiks
der Betrieb zum Stillstand gebracht wird. Und abgesehen davon wird überall
über die Lässigkeit und Widerwilligkeit der Arbeiter geklagt, auf ihren guten
Willen ist nicht mehr zu rechnen.

Das Wohlwollen der Arbeitgeber vermag hiergegen wenig auszurichten,
wenn auch da, wo die Arbeiter dieses Wohlwollen wahrnehmen und wo
Wohlfahrtseinrichtungen Zeugnis davon geben, die Gefahr ernster Störungen
und Zerwürfnisse geringer ist. Denn dieselbe innere Strömung steckt doch in allen
Arbeitnehmern, sie haben das Gefühl, politisch frei zu sein, und wollen daher
für sich, nicht mehr für andre arbeiten. Das patriarchalische Verhältnis ist
abgethan, es gehört der Vergangenheit an. Die ganze Arbeiterwelt verlangt
nach Recht und verwirft Äußerungen des Wohlwollens; in Rechtsverhältnisse
gehört das Wohlwollen nicht hinein, während es in andern Verhältnissen,
die mehr auf sittlicher Grundlage beruhen, am Platze sein kann.

In dem Lvhnverhältuis ist noch ein Zug früherer Unfreiheit stecken ge¬
blieben. Wie der Sklave seine Arbeitskraft ganz zur Verfügung des Herrn
zu stellen hat, nicht für sich, seinen Borten, seine Zwecke arbeiten kann, so
arbeitet auch der Arbeiter gegen Lohn nicht für sich, sondern für den Arbeit¬
geber. Dabei entsteht nun der Konflikt, daß ihm die Pflicht auferlegt, ein
angemessenes Maß der Arbeit für den -zu erwartenden Lohn zu geben, während
der in jedem Menschen steckende Egoismus oder Selbsterhaltungstrieb ihn an¬
treibt, seine Kräfte zu schone". Auch das äußerste Aufgebot der Kraft stellt
ihm nicht den mindesten Vorteil in Aussicht, denn der Lohn ist vorher be¬
dungen. Der größte Erfolg des Geschäftes giebt ihm kein Anrecht auf einen
noch so kleinen Anteil an dem Ergebnis. Es liegt in der Natur der Sache,
daß das Gedeihen des Geschäftes dein Arbeiter völlig gleichgültig ist, und daß
er so wenig Kraft, als irgend zulässig, aufbietet. Höchstens geht sein Interesse
soweit, daß er die Fortdauer des Geschäftes wünscht, und daß er vermeidet,
wegen mangelhafter Leistung entlassen zu werden.

Erwägungen solcher Art haben dahin geführt, Produktivgenossenschaften
der Arbeiter zu bilden. In ihnen würden die Arbeiter allerdings für sich
selbst arbeite", aber es haften ihnen Übelstände an, die nicht haben über-


Zur sozialen Frage

steht und sich ebenso wenig gegen Geld verkaufen läßt, als die Person selbst;
daß aber, wenn man Arbeitskraft kaufen kann, zeitweilig eine Abhängigkeit
der Person entsteht, die mit der Freiheit und Gleichberechtigung der Staats¬
bürger in Widerspruch gerät. Darin liegt der Kern der sozialen Frage, daß
das bis jetzt geltende Lvhnshstem durch ein andres ersetzt werden muß.

Und wird es nicht allmählich klar und immer klarer, daß wir mit dem
Lohngesetz Bankrott zu macheu im Begriffe stehen? Die Not um Arbeiter auf
dem Lande wächst von Tag zu Tage; in den Städten wird es immer schwerer,
Dienstboten zu bekommen, und in den Vangewerbeu und bei den Fabrik- und
Bergwerksuuternehmungcn ist immer die Gefahr vorhanden, daß durch Streiks
der Betrieb zum Stillstand gebracht wird. Und abgesehen davon wird überall
über die Lässigkeit und Widerwilligkeit der Arbeiter geklagt, auf ihren guten
Willen ist nicht mehr zu rechnen.

Das Wohlwollen der Arbeitgeber vermag hiergegen wenig auszurichten,
wenn auch da, wo die Arbeiter dieses Wohlwollen wahrnehmen und wo
Wohlfahrtseinrichtungen Zeugnis davon geben, die Gefahr ernster Störungen
und Zerwürfnisse geringer ist. Denn dieselbe innere Strömung steckt doch in allen
Arbeitnehmern, sie haben das Gefühl, politisch frei zu sein, und wollen daher
für sich, nicht mehr für andre arbeiten. Das patriarchalische Verhältnis ist
abgethan, es gehört der Vergangenheit an. Die ganze Arbeiterwelt verlangt
nach Recht und verwirft Äußerungen des Wohlwollens; in Rechtsverhältnisse
gehört das Wohlwollen nicht hinein, während es in andern Verhältnissen,
die mehr auf sittlicher Grundlage beruhen, am Platze sein kann.

In dem Lvhnverhältuis ist noch ein Zug früherer Unfreiheit stecken ge¬
blieben. Wie der Sklave seine Arbeitskraft ganz zur Verfügung des Herrn
zu stellen hat, nicht für sich, seinen Borten, seine Zwecke arbeiten kann, so
arbeitet auch der Arbeiter gegen Lohn nicht für sich, sondern für den Arbeit¬
geber. Dabei entsteht nun der Konflikt, daß ihm die Pflicht auferlegt, ein
angemessenes Maß der Arbeit für den -zu erwartenden Lohn zu geben, während
der in jedem Menschen steckende Egoismus oder Selbsterhaltungstrieb ihn an¬
treibt, seine Kräfte zu schone». Auch das äußerste Aufgebot der Kraft stellt
ihm nicht den mindesten Vorteil in Aussicht, denn der Lohn ist vorher be¬
dungen. Der größte Erfolg des Geschäftes giebt ihm kein Anrecht auf einen
noch so kleinen Anteil an dem Ergebnis. Es liegt in der Natur der Sache,
daß das Gedeihen des Geschäftes dein Arbeiter völlig gleichgültig ist, und daß
er so wenig Kraft, als irgend zulässig, aufbietet. Höchstens geht sein Interesse
soweit, daß er die Fortdauer des Geschäftes wünscht, und daß er vermeidet,
wegen mangelhafter Leistung entlassen zu werden.

Erwägungen solcher Art haben dahin geführt, Produktivgenossenschaften
der Arbeiter zu bilden. In ihnen würden die Arbeiter allerdings für sich
selbst arbeite«, aber es haften ihnen Übelstände an, die nicht haben über-


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[0501] Zur sozialen Frage steht und sich ebenso wenig gegen Geld verkaufen läßt, als die Person selbst; daß aber, wenn man Arbeitskraft kaufen kann, zeitweilig eine Abhängigkeit der Person entsteht, die mit der Freiheit und Gleichberechtigung der Staats¬ bürger in Widerspruch gerät. Darin liegt der Kern der sozialen Frage, daß das bis jetzt geltende Lvhnshstem durch ein andres ersetzt werden muß. Und wird es nicht allmählich klar und immer klarer, daß wir mit dem Lohngesetz Bankrott zu macheu im Begriffe stehen? Die Not um Arbeiter auf dem Lande wächst von Tag zu Tage; in den Städten wird es immer schwerer, Dienstboten zu bekommen, und in den Vangewerbeu und bei den Fabrik- und Bergwerksuuternehmungcn ist immer die Gefahr vorhanden, daß durch Streiks der Betrieb zum Stillstand gebracht wird. Und abgesehen davon wird überall über die Lässigkeit und Widerwilligkeit der Arbeiter geklagt, auf ihren guten Willen ist nicht mehr zu rechnen. Das Wohlwollen der Arbeitgeber vermag hiergegen wenig auszurichten, wenn auch da, wo die Arbeiter dieses Wohlwollen wahrnehmen und wo Wohlfahrtseinrichtungen Zeugnis davon geben, die Gefahr ernster Störungen und Zerwürfnisse geringer ist. Denn dieselbe innere Strömung steckt doch in allen Arbeitnehmern, sie haben das Gefühl, politisch frei zu sein, und wollen daher für sich, nicht mehr für andre arbeiten. Das patriarchalische Verhältnis ist abgethan, es gehört der Vergangenheit an. Die ganze Arbeiterwelt verlangt nach Recht und verwirft Äußerungen des Wohlwollens; in Rechtsverhältnisse gehört das Wohlwollen nicht hinein, während es in andern Verhältnissen, die mehr auf sittlicher Grundlage beruhen, am Platze sein kann. In dem Lvhnverhältuis ist noch ein Zug früherer Unfreiheit stecken ge¬ blieben. Wie der Sklave seine Arbeitskraft ganz zur Verfügung des Herrn zu stellen hat, nicht für sich, seinen Borten, seine Zwecke arbeiten kann, so arbeitet auch der Arbeiter gegen Lohn nicht für sich, sondern für den Arbeit¬ geber. Dabei entsteht nun der Konflikt, daß ihm die Pflicht auferlegt, ein angemessenes Maß der Arbeit für den -zu erwartenden Lohn zu geben, während der in jedem Menschen steckende Egoismus oder Selbsterhaltungstrieb ihn an¬ treibt, seine Kräfte zu schone». Auch das äußerste Aufgebot der Kraft stellt ihm nicht den mindesten Vorteil in Aussicht, denn der Lohn ist vorher be¬ dungen. Der größte Erfolg des Geschäftes giebt ihm kein Anrecht auf einen noch so kleinen Anteil an dem Ergebnis. Es liegt in der Natur der Sache, daß das Gedeihen des Geschäftes dein Arbeiter völlig gleichgültig ist, und daß er so wenig Kraft, als irgend zulässig, aufbietet. Höchstens geht sein Interesse soweit, daß er die Fortdauer des Geschäftes wünscht, und daß er vermeidet, wegen mangelhafter Leistung entlassen zu werden. Erwägungen solcher Art haben dahin geführt, Produktivgenossenschaften der Arbeiter zu bilden. In ihnen würden die Arbeiter allerdings für sich selbst arbeite«, aber es haften ihnen Übelstände an, die nicht haben über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/501>, abgerufen am 26.08.2024.