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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zur sozialen Frage

machte. Wären die Massen der Bevölkerung in befriedigenden Wohlstands¬
verhältnissen, so brauchte sich das Armenwesen ihrer nicht anzunehmen; könnten
die Eltern Schulgeld bezahlen, so wären die Freischnlen nicht erforderlich.
Auch an Korrektionsnnstalteu, Zuchthäusern u. s. w. würde viel erspart werde",
wenn die Not nicht mehr zu Vergehen und Verbrechen verführte. Allerdings
würden mit der Not Vergehen und Verbrechen nicht ans der Welt verschwin¬
den, weil die Not nicht ihre einzige Ursache ist.

Aber wieviel besser wäre es doch um uns bestellt, wenn die neuere
Versicherungsgesetzgebuug nicht notwendig gewesen wäre, weil alle Beteiligten
sich in der Lage befänden, sich gegen die durch Krankheit, Unfall, Alter und
Invalidität herbeigeführten Notstände durch Ersparnisse selbst zu sichern! Und
wie viel erfreulicher wären die Zustände, wenn es keine Bedürftigen mehr gäbe,
und alle auch deu untersten Klassen angehörigen in allen Wechselfällen des
Lebens für sich und die Ihrigen das Erforderliche ersparen könnten!

Die nötigen Veranstaltungen müssen von der Öffentlichkeit getroffen wer¬
den, weil die Massen nicht in der Lage sind, die Übelstände selbst abzuwehren.
Ihr Einkommen reicht nicht aus, es genügt kaum, die nächsten täglichen Be¬
dürfnisse zu befriedigen; jedes unvorhergesehene Ereignis versetzt sie in die
Lage, fremde Hilfe nachsuchen zu müssen. Aber unzweifelhaft wäre es doch
für alle Teile bei weitem vorzuziehen, wenn fremde Hilfe nicht notwendig
wäre, wenn die Bedürftigen das, was ihnen gegeben werden muß, bereits
selbst besäßen.

Vielleicht möchte mancher die Behauptung aufstellen, der Umfang der Pro¬
duktion ließe es uicht zu, die Massen so zu stellen, daß sie fremder Hilfe nicht
bedürften. Die Behauptung ist zwar unrichtig; aber auch wenn sie richtig wäre,
müßte doch zugegeben werden, daß die ungeheuern Summen, die jetzt zur Abwen¬
dung der Notstände in den untern Klassen öffentlich und privatim ausgegeben
werden, schou sehr wesentlich zur Milderung beitragen würden, wenn die Be¬
dürftigen, anstatt sie zu empfange", sie durch ihre Arbeit schon erworben
hätten. Was die ungenügenden gesellschaftlichen Zustünde, insbesondre die
unvollkommne Verteilung der produzirten Güter der arbeitenden Klasse vor¬
enthalten, muß ihnen zum großen Teil auf andre Weise als im Arbeitslohn
und unter keineswegs erfreulichen Umständen doch gegeben werden.

Die Arbeiter haben längst die Überzeugung gewonnen, daß ihnen von
den: Produzirteu der ihnen gebührende Anteil nicht zufließt, und diese Über¬
zeugung verbreitet sich rasch und wird auch schon in de" Kreisen der besser ge¬
stellten vielfach geteilt u"d ausgesprochen. Die Arbeiter, in diesem Jahrhundert
durch die allgemeine Schulbildung geistig gehoben, dazu jetzt auch im Besitz
politischer Rechte, insbesondre der Koalitionsfreiheit, legen es mit Ernst und
Energie darauf an, sich eine bessere Stellung zu erobern, indem sie günstigere
Arbeitsbedingungen und einen höhern Anteil am Ertrage verlangen. Sie sind


Gvenzlwteu III 18SI 62
Zur sozialen Frage

machte. Wären die Massen der Bevölkerung in befriedigenden Wohlstands¬
verhältnissen, so brauchte sich das Armenwesen ihrer nicht anzunehmen; könnten
die Eltern Schulgeld bezahlen, so wären die Freischnlen nicht erforderlich.
Auch an Korrektionsnnstalteu, Zuchthäusern u. s. w. würde viel erspart werde»,
wenn die Not nicht mehr zu Vergehen und Verbrechen verführte. Allerdings
würden mit der Not Vergehen und Verbrechen nicht ans der Welt verschwin¬
den, weil die Not nicht ihre einzige Ursache ist.

Aber wieviel besser wäre es doch um uns bestellt, wenn die neuere
Versicherungsgesetzgebuug nicht notwendig gewesen wäre, weil alle Beteiligten
sich in der Lage befänden, sich gegen die durch Krankheit, Unfall, Alter und
Invalidität herbeigeführten Notstände durch Ersparnisse selbst zu sichern! Und
wie viel erfreulicher wären die Zustände, wenn es keine Bedürftigen mehr gäbe,
und alle auch deu untersten Klassen angehörigen in allen Wechselfällen des
Lebens für sich und die Ihrigen das Erforderliche ersparen könnten!

Die nötigen Veranstaltungen müssen von der Öffentlichkeit getroffen wer¬
den, weil die Massen nicht in der Lage sind, die Übelstände selbst abzuwehren.
Ihr Einkommen reicht nicht aus, es genügt kaum, die nächsten täglichen Be¬
dürfnisse zu befriedigen; jedes unvorhergesehene Ereignis versetzt sie in die
Lage, fremde Hilfe nachsuchen zu müssen. Aber unzweifelhaft wäre es doch
für alle Teile bei weitem vorzuziehen, wenn fremde Hilfe nicht notwendig
wäre, wenn die Bedürftigen das, was ihnen gegeben werden muß, bereits
selbst besäßen.

Vielleicht möchte mancher die Behauptung aufstellen, der Umfang der Pro¬
duktion ließe es uicht zu, die Massen so zu stellen, daß sie fremder Hilfe nicht
bedürften. Die Behauptung ist zwar unrichtig; aber auch wenn sie richtig wäre,
müßte doch zugegeben werden, daß die ungeheuern Summen, die jetzt zur Abwen¬
dung der Notstände in den untern Klassen öffentlich und privatim ausgegeben
werden, schou sehr wesentlich zur Milderung beitragen würden, wenn die Be¬
dürftigen, anstatt sie zu empfange», sie durch ihre Arbeit schon erworben
hätten. Was die ungenügenden gesellschaftlichen Zustünde, insbesondre die
unvollkommne Verteilung der produzirten Güter der arbeitenden Klasse vor¬
enthalten, muß ihnen zum großen Teil auf andre Weise als im Arbeitslohn
und unter keineswegs erfreulichen Umständen doch gegeben werden.

Die Arbeiter haben längst die Überzeugung gewonnen, daß ihnen von
den: Produzirteu der ihnen gebührende Anteil nicht zufließt, und diese Über¬
zeugung verbreitet sich rasch und wird auch schon in de» Kreisen der besser ge¬
stellten vielfach geteilt u»d ausgesprochen. Die Arbeiter, in diesem Jahrhundert
durch die allgemeine Schulbildung geistig gehoben, dazu jetzt auch im Besitz
politischer Rechte, insbesondre der Koalitionsfreiheit, legen es mit Ernst und
Energie darauf an, sich eine bessere Stellung zu erobern, indem sie günstigere
Arbeitsbedingungen und einen höhern Anteil am Ertrage verlangen. Sie sind


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[0497] Zur sozialen Frage machte. Wären die Massen der Bevölkerung in befriedigenden Wohlstands¬ verhältnissen, so brauchte sich das Armenwesen ihrer nicht anzunehmen; könnten die Eltern Schulgeld bezahlen, so wären die Freischnlen nicht erforderlich. Auch an Korrektionsnnstalteu, Zuchthäusern u. s. w. würde viel erspart werde», wenn die Not nicht mehr zu Vergehen und Verbrechen verführte. Allerdings würden mit der Not Vergehen und Verbrechen nicht ans der Welt verschwin¬ den, weil die Not nicht ihre einzige Ursache ist. Aber wieviel besser wäre es doch um uns bestellt, wenn die neuere Versicherungsgesetzgebuug nicht notwendig gewesen wäre, weil alle Beteiligten sich in der Lage befänden, sich gegen die durch Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität herbeigeführten Notstände durch Ersparnisse selbst zu sichern! Und wie viel erfreulicher wären die Zustände, wenn es keine Bedürftigen mehr gäbe, und alle auch deu untersten Klassen angehörigen in allen Wechselfällen des Lebens für sich und die Ihrigen das Erforderliche ersparen könnten! Die nötigen Veranstaltungen müssen von der Öffentlichkeit getroffen wer¬ den, weil die Massen nicht in der Lage sind, die Übelstände selbst abzuwehren. Ihr Einkommen reicht nicht aus, es genügt kaum, die nächsten täglichen Be¬ dürfnisse zu befriedigen; jedes unvorhergesehene Ereignis versetzt sie in die Lage, fremde Hilfe nachsuchen zu müssen. Aber unzweifelhaft wäre es doch für alle Teile bei weitem vorzuziehen, wenn fremde Hilfe nicht notwendig wäre, wenn die Bedürftigen das, was ihnen gegeben werden muß, bereits selbst besäßen. Vielleicht möchte mancher die Behauptung aufstellen, der Umfang der Pro¬ duktion ließe es uicht zu, die Massen so zu stellen, daß sie fremder Hilfe nicht bedürften. Die Behauptung ist zwar unrichtig; aber auch wenn sie richtig wäre, müßte doch zugegeben werden, daß die ungeheuern Summen, die jetzt zur Abwen¬ dung der Notstände in den untern Klassen öffentlich und privatim ausgegeben werden, schou sehr wesentlich zur Milderung beitragen würden, wenn die Be¬ dürftigen, anstatt sie zu empfange», sie durch ihre Arbeit schon erworben hätten. Was die ungenügenden gesellschaftlichen Zustünde, insbesondre die unvollkommne Verteilung der produzirten Güter der arbeitenden Klasse vor¬ enthalten, muß ihnen zum großen Teil auf andre Weise als im Arbeitslohn und unter keineswegs erfreulichen Umständen doch gegeben werden. Die Arbeiter haben längst die Überzeugung gewonnen, daß ihnen von den: Produzirteu der ihnen gebührende Anteil nicht zufließt, und diese Über¬ zeugung verbreitet sich rasch und wird auch schon in de» Kreisen der besser ge¬ stellten vielfach geteilt u»d ausgesprochen. Die Arbeiter, in diesem Jahrhundert durch die allgemeine Schulbildung geistig gehoben, dazu jetzt auch im Besitz politischer Rechte, insbesondre der Koalitionsfreiheit, legen es mit Ernst und Energie darauf an, sich eine bessere Stellung zu erobern, indem sie günstigere Arbeitsbedingungen und einen höhern Anteil am Ertrage verlangen. Sie sind Gvenzlwteu III 18SI 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/497>, abgerufen am 26.08.2024.