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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Naturheilkimde in der Medizin

aufs Spiel. Nur der geprüfte Arzt ist berufen und berechtigt, das Wasser-
heilverfahren allseitig zu verwerten, denu nur er vermag sachverständig zu
beurteilen, ob die für viele Krankheiten vorzüglich wirksamen und in manchen
Fällen unersetzlichen Mittel der Wasserkur im einzelnen gegebnen Falle sich
überhaupt, und in welcher Form sie sich eignen.

Deshalb ist es auf der andern Seite aber auch eine Pflicht der Ärzte,
die Ausübung des Wasserheilverfahrens mehr in die Hand zu nehmen und
in die allgemeine Praxis einzuführen. Es genügt nicht, daß es mehrere gut
geleitete Wasserheilanstalten außerhalb der Städte, im Gebirge giebt, es muß
den Kranken auch an deren Wohnort Gelegenheit gegeben sein, jederzeit im
ganzen Jahr die gesuchte Hilfe in sachverständiger Weise zu erlangen. Wie
nicht jeder Kranke, dem ein Mineralbrunnen heilsam ist, mehrere Wochen in
den fernen Badeort gehen kann und deshalb die Trink- und Badekur zu Hans
und auch mit Nutzen gebraucht, so muß es auch beim Wasserheilverfahren der
Fall sein. Es giebt zahlreiche Krankheitsfülle, die einer Anstaltsbehandlung
-- die ihrerseits für andre Fälle unentbehrlich bleibt -- nicht bedürfen,
sondern von einer im Wohnort der Kranken selbst vorgenommenen polikliuischen
Behandlung großen Nutzen ziehen können. Die Hydrotherapie sollte in die
allgemeine Praxis.wenigstens ebenso weit übergehen wie die Balneotherapie,
von der jeder praktische Arzt die Indikationen und Verordnungen kennen muß,
wenn er auch dem Badearzte die Leitung der Anwendungen im einzelnen über¬
läßt und überlassen muß.

Weil die Mehrzahl der Ärzte bisher gegen diese Einführung der Wasser¬
kur in die allgemeine Praxis eine große Gleichgiltigkeit gezeigt hat, ist es
ganz natürlich geschehen, daß, von Prießnitz an, zahlreiche Nichtärzte die Aus¬
übung dieser Heilmethode, so gut es ebeu ging, in die Hand genommen und
zur Ausbildung ihrer Anwendungsformen mitgewirkt haben. Unter diesen
Nichtärzten sind einzelne begabte Leute mit offnen Sinnen und guter Beobach¬
tungsgabe, die meist durch deu Verlauf von Leiden an ihrem eignen Körper
zu Erfnhrnngen über die Wirkungen der einfachen Wafferbehandlung gekommen
find, zu begeisterte": Propheten derselben geworden und glauben aufrichtig,
damit einen Humanitären Beruf zu erfüllen. Anders ist aber die Schar der
Jünger und Nachbeter dieser vereinzelten befähigten Empiristen beschaffen, die
mit ihrem schwindelhafter Treiben die ganze Wasserkur bei deu Ärzten eine
lange Zeit in Verruf gebracht hat. Aber doch mit Unrecht. Von den Arz¬
neien sind viele aus dem Kreis der Volksmittel in den Kodex der Apotheken
gekommen, also auch von Laien, Schäfern und Kräuterfrauen znerst angewandt
worden, ehe sie in der Wissenschaft hoffähig wurden, und viele Arzneimittel
werden täglich noch als Hausmittel und mit Recht gebraucht. Es thut einem
Heilmittel und Heilverfahren keinen Eintrag, daß es zuerst von Laien gefunden
oder ungewandt worden ist, ebensowenig wie es den Wert der medizinischen


Die Naturheilkimde in der Medizin

aufs Spiel. Nur der geprüfte Arzt ist berufen und berechtigt, das Wasser-
heilverfahren allseitig zu verwerten, denu nur er vermag sachverständig zu
beurteilen, ob die für viele Krankheiten vorzüglich wirksamen und in manchen
Fällen unersetzlichen Mittel der Wasserkur im einzelnen gegebnen Falle sich
überhaupt, und in welcher Form sie sich eignen.

Deshalb ist es auf der andern Seite aber auch eine Pflicht der Ärzte,
die Ausübung des Wasserheilverfahrens mehr in die Hand zu nehmen und
in die allgemeine Praxis einzuführen. Es genügt nicht, daß es mehrere gut
geleitete Wasserheilanstalten außerhalb der Städte, im Gebirge giebt, es muß
den Kranken auch an deren Wohnort Gelegenheit gegeben sein, jederzeit im
ganzen Jahr die gesuchte Hilfe in sachverständiger Weise zu erlangen. Wie
nicht jeder Kranke, dem ein Mineralbrunnen heilsam ist, mehrere Wochen in
den fernen Badeort gehen kann und deshalb die Trink- und Badekur zu Hans
und auch mit Nutzen gebraucht, so muß es auch beim Wasserheilverfahren der
Fall sein. Es giebt zahlreiche Krankheitsfülle, die einer Anstaltsbehandlung
— die ihrerseits für andre Fälle unentbehrlich bleibt — nicht bedürfen,
sondern von einer im Wohnort der Kranken selbst vorgenommenen polikliuischen
Behandlung großen Nutzen ziehen können. Die Hydrotherapie sollte in die
allgemeine Praxis.wenigstens ebenso weit übergehen wie die Balneotherapie,
von der jeder praktische Arzt die Indikationen und Verordnungen kennen muß,
wenn er auch dem Badearzte die Leitung der Anwendungen im einzelnen über¬
läßt und überlassen muß.

Weil die Mehrzahl der Ärzte bisher gegen diese Einführung der Wasser¬
kur in die allgemeine Praxis eine große Gleichgiltigkeit gezeigt hat, ist es
ganz natürlich geschehen, daß, von Prießnitz an, zahlreiche Nichtärzte die Aus¬
übung dieser Heilmethode, so gut es ebeu ging, in die Hand genommen und
zur Ausbildung ihrer Anwendungsformen mitgewirkt haben. Unter diesen
Nichtärzten sind einzelne begabte Leute mit offnen Sinnen und guter Beobach¬
tungsgabe, die meist durch deu Verlauf von Leiden an ihrem eignen Körper
zu Erfnhrnngen über die Wirkungen der einfachen Wafferbehandlung gekommen
find, zu begeisterte«: Propheten derselben geworden und glauben aufrichtig,
damit einen Humanitären Beruf zu erfüllen. Anders ist aber die Schar der
Jünger und Nachbeter dieser vereinzelten befähigten Empiristen beschaffen, die
mit ihrem schwindelhafter Treiben die ganze Wasserkur bei deu Ärzten eine
lange Zeit in Verruf gebracht hat. Aber doch mit Unrecht. Von den Arz¬
neien sind viele aus dem Kreis der Volksmittel in den Kodex der Apotheken
gekommen, also auch von Laien, Schäfern und Kräuterfrauen znerst angewandt
worden, ehe sie in der Wissenschaft hoffähig wurden, und viele Arzneimittel
werden täglich noch als Hausmittel und mit Recht gebraucht. Es thut einem
Heilmittel und Heilverfahren keinen Eintrag, daß es zuerst von Laien gefunden
oder ungewandt worden ist, ebensowenig wie es den Wert der medizinischen


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[0477] Die Naturheilkimde in der Medizin aufs Spiel. Nur der geprüfte Arzt ist berufen und berechtigt, das Wasser- heilverfahren allseitig zu verwerten, denu nur er vermag sachverständig zu beurteilen, ob die für viele Krankheiten vorzüglich wirksamen und in manchen Fällen unersetzlichen Mittel der Wasserkur im einzelnen gegebnen Falle sich überhaupt, und in welcher Form sie sich eignen. Deshalb ist es auf der andern Seite aber auch eine Pflicht der Ärzte, die Ausübung des Wasserheilverfahrens mehr in die Hand zu nehmen und in die allgemeine Praxis einzuführen. Es genügt nicht, daß es mehrere gut geleitete Wasserheilanstalten außerhalb der Städte, im Gebirge giebt, es muß den Kranken auch an deren Wohnort Gelegenheit gegeben sein, jederzeit im ganzen Jahr die gesuchte Hilfe in sachverständiger Weise zu erlangen. Wie nicht jeder Kranke, dem ein Mineralbrunnen heilsam ist, mehrere Wochen in den fernen Badeort gehen kann und deshalb die Trink- und Badekur zu Hans und auch mit Nutzen gebraucht, so muß es auch beim Wasserheilverfahren der Fall sein. Es giebt zahlreiche Krankheitsfülle, die einer Anstaltsbehandlung — die ihrerseits für andre Fälle unentbehrlich bleibt — nicht bedürfen, sondern von einer im Wohnort der Kranken selbst vorgenommenen polikliuischen Behandlung großen Nutzen ziehen können. Die Hydrotherapie sollte in die allgemeine Praxis.wenigstens ebenso weit übergehen wie die Balneotherapie, von der jeder praktische Arzt die Indikationen und Verordnungen kennen muß, wenn er auch dem Badearzte die Leitung der Anwendungen im einzelnen über¬ läßt und überlassen muß. Weil die Mehrzahl der Ärzte bisher gegen diese Einführung der Wasser¬ kur in die allgemeine Praxis eine große Gleichgiltigkeit gezeigt hat, ist es ganz natürlich geschehen, daß, von Prießnitz an, zahlreiche Nichtärzte die Aus¬ übung dieser Heilmethode, so gut es ebeu ging, in die Hand genommen und zur Ausbildung ihrer Anwendungsformen mitgewirkt haben. Unter diesen Nichtärzten sind einzelne begabte Leute mit offnen Sinnen und guter Beobach¬ tungsgabe, die meist durch deu Verlauf von Leiden an ihrem eignen Körper zu Erfnhrnngen über die Wirkungen der einfachen Wafferbehandlung gekommen find, zu begeisterte«: Propheten derselben geworden und glauben aufrichtig, damit einen Humanitären Beruf zu erfüllen. Anders ist aber die Schar der Jünger und Nachbeter dieser vereinzelten befähigten Empiristen beschaffen, die mit ihrem schwindelhafter Treiben die ganze Wasserkur bei deu Ärzten eine lange Zeit in Verruf gebracht hat. Aber doch mit Unrecht. Von den Arz¬ neien sind viele aus dem Kreis der Volksmittel in den Kodex der Apotheken gekommen, also auch von Laien, Schäfern und Kräuterfrauen znerst angewandt worden, ehe sie in der Wissenschaft hoffähig wurden, und viele Arzneimittel werden täglich noch als Hausmittel und mit Recht gebraucht. Es thut einem Heilmittel und Heilverfahren keinen Eintrag, daß es zuerst von Laien gefunden oder ungewandt worden ist, ebensowenig wie es den Wert der medizinischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/477>, abgerufen am 26.08.2024.