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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Grundlagen als allgemeingültig anerkannt ist, was man bei der überstürzten
Vielgeschüftigkeit und Veränderlichkeit der modernen Therapie keineswegs von
allen neuen therapeutischen Heilverfahren sagen kann.

Die Ausübung dieses Zweiges der ärztlichen Kunst ist nun keineswegs
so einfach und selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die Technik und Anwendung der Hydrotherapie bedarf eines besondern Stu¬
diums und einer besondern Übung ebenso gut, wie andre technische Speziali¬
täten der Heilkunst und sollte deshalb unbedingt auf der Universität einen
Lehrgegenstand bilden. Die Behandlung mit innern chemischen Mitteln ist für
deu Arzt sogar viel einfacher und leichter, als die mit physikalischen Mitteln.
Jene werden in der Apotheke zubereitet und vom Kranken einfach nach Vor¬
schrift eingenommen; bei diesen genügt das hydrotherapeutische Rezept nicht,
hier muß der Arzt bei der Anwendung der verordneten Prozeduren oft selbst
mit Hand anlegen, jedenfalls dabei eine fortlaufende Beaufsichtigung und
Überwachung ausüben. Denn das Wasserheilverfahren ist ein eingreifendes
Verfahren und hat für manche Zustünde seine Gefahren, wie andre Methoden
auch. Es giebt keine guten und schlechten Verfahren an sich, es düngt alles
von der richtigen und passenden Anwendung ab. Mittel, die nie schaden
können, nützen meist anch nichts. Auch die Mittel ans der Wasserapvtheke
gehören zum großen Teil zu den heroischen und üben je mich der Stärke,
Dauer und Art ihrer Ausführung und nach der Natur des Kranken und seiner
Krankheit eine sehr verschiedne Wirkung aus. Die Leistungen dieser BeHand¬
lungsweise Verhalten sich in der Hand des Sachverständigen ganz anders, als
in der des Laien. Es ist ganz verkehrt, wenn der Naturarzt predigt, das
Wasser sei unter allen Umstünden ein ganz unschuldiges Mittel und mir
chemische Mittel könnten vergiften; verderben und krankmachen kann das Wasser
nicht minder. Die Gefahren laienhafter naturärztlicher Behandlung sind that¬
sächlich groß. Die Beispiele, daß Unheil angerichtet worden ist, indem Wasser¬
kuren einseitig und fanatisch übertrieben angewandt werden, sind nicht seltener,
als bei den Entfettungskuren und andern Diätkuren. Auch der Bauer Vincenz
Prießnitz in Grüfenberg (1825 -1845) hat durch barbarische Kaltwasserstürze im
Gießbach, durch maßlose Schwitzkuren und unsinniges Wassertrinken (zehn bis
vierzig Gläser täglich) manchen Lungenkranken, nervenschwachen und Wasser¬
süchtigen an den Rand des Grabes gebracht und sich selbst ein tötliches Nieren¬
leiden zugezogen. Der Pfarrer Kneipp in Wörrishofen hat in der Erkenntnis
dieser Gefahren neuerdings wohlweislich ärztliche Beihilfe für seine Anwendungen
herangezogen. Wenn der Laie, der die äußre Technik der Prozeduren der
Wasserkur gelernt hat, diese selbständig anwendet, ohne sich die richtige Er¬
kenntnis der Krankheiten angeeignet zu haben und ohne die Tragweite der
angewandten Eingriffe genau ermessen zu können, so handelt er gewissenlos
und fahrlässig und setzt die Gesundheit der Hilfesuchenden unverantwortlich


Grundlagen als allgemeingültig anerkannt ist, was man bei der überstürzten
Vielgeschüftigkeit und Veränderlichkeit der modernen Therapie keineswegs von
allen neuen therapeutischen Heilverfahren sagen kann.

Die Ausübung dieses Zweiges der ärztlichen Kunst ist nun keineswegs
so einfach und selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die Technik und Anwendung der Hydrotherapie bedarf eines besondern Stu¬
diums und einer besondern Übung ebenso gut, wie andre technische Speziali¬
täten der Heilkunst und sollte deshalb unbedingt auf der Universität einen
Lehrgegenstand bilden. Die Behandlung mit innern chemischen Mitteln ist für
deu Arzt sogar viel einfacher und leichter, als die mit physikalischen Mitteln.
Jene werden in der Apotheke zubereitet und vom Kranken einfach nach Vor¬
schrift eingenommen; bei diesen genügt das hydrotherapeutische Rezept nicht,
hier muß der Arzt bei der Anwendung der verordneten Prozeduren oft selbst
mit Hand anlegen, jedenfalls dabei eine fortlaufende Beaufsichtigung und
Überwachung ausüben. Denn das Wasserheilverfahren ist ein eingreifendes
Verfahren und hat für manche Zustünde seine Gefahren, wie andre Methoden
auch. Es giebt keine guten und schlechten Verfahren an sich, es düngt alles
von der richtigen und passenden Anwendung ab. Mittel, die nie schaden
können, nützen meist anch nichts. Auch die Mittel ans der Wasserapvtheke
gehören zum großen Teil zu den heroischen und üben je mich der Stärke,
Dauer und Art ihrer Ausführung und nach der Natur des Kranken und seiner
Krankheit eine sehr verschiedne Wirkung aus. Die Leistungen dieser BeHand¬
lungsweise Verhalten sich in der Hand des Sachverständigen ganz anders, als
in der des Laien. Es ist ganz verkehrt, wenn der Naturarzt predigt, das
Wasser sei unter allen Umstünden ein ganz unschuldiges Mittel und mir
chemische Mittel könnten vergiften; verderben und krankmachen kann das Wasser
nicht minder. Die Gefahren laienhafter naturärztlicher Behandlung sind that¬
sächlich groß. Die Beispiele, daß Unheil angerichtet worden ist, indem Wasser¬
kuren einseitig und fanatisch übertrieben angewandt werden, sind nicht seltener,
als bei den Entfettungskuren und andern Diätkuren. Auch der Bauer Vincenz
Prießnitz in Grüfenberg (1825 -1845) hat durch barbarische Kaltwasserstürze im
Gießbach, durch maßlose Schwitzkuren und unsinniges Wassertrinken (zehn bis
vierzig Gläser täglich) manchen Lungenkranken, nervenschwachen und Wasser¬
süchtigen an den Rand des Grabes gebracht und sich selbst ein tötliches Nieren¬
leiden zugezogen. Der Pfarrer Kneipp in Wörrishofen hat in der Erkenntnis
dieser Gefahren neuerdings wohlweislich ärztliche Beihilfe für seine Anwendungen
herangezogen. Wenn der Laie, der die äußre Technik der Prozeduren der
Wasserkur gelernt hat, diese selbständig anwendet, ohne sich die richtige Er¬
kenntnis der Krankheiten angeeignet zu haben und ohne die Tragweite der
angewandten Eingriffe genau ermessen zu können, so handelt er gewissenlos
und fahrlässig und setzt die Gesundheit der Hilfesuchenden unverantwortlich


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[0476] Grundlagen als allgemeingültig anerkannt ist, was man bei der überstürzten Vielgeschüftigkeit und Veränderlichkeit der modernen Therapie keineswegs von allen neuen therapeutischen Heilverfahren sagen kann. Die Ausübung dieses Zweiges der ärztlichen Kunst ist nun keineswegs so einfach und selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Technik und Anwendung der Hydrotherapie bedarf eines besondern Stu¬ diums und einer besondern Übung ebenso gut, wie andre technische Speziali¬ täten der Heilkunst und sollte deshalb unbedingt auf der Universität einen Lehrgegenstand bilden. Die Behandlung mit innern chemischen Mitteln ist für deu Arzt sogar viel einfacher und leichter, als die mit physikalischen Mitteln. Jene werden in der Apotheke zubereitet und vom Kranken einfach nach Vor¬ schrift eingenommen; bei diesen genügt das hydrotherapeutische Rezept nicht, hier muß der Arzt bei der Anwendung der verordneten Prozeduren oft selbst mit Hand anlegen, jedenfalls dabei eine fortlaufende Beaufsichtigung und Überwachung ausüben. Denn das Wasserheilverfahren ist ein eingreifendes Verfahren und hat für manche Zustünde seine Gefahren, wie andre Methoden auch. Es giebt keine guten und schlechten Verfahren an sich, es düngt alles von der richtigen und passenden Anwendung ab. Mittel, die nie schaden können, nützen meist anch nichts. Auch die Mittel ans der Wasserapvtheke gehören zum großen Teil zu den heroischen und üben je mich der Stärke, Dauer und Art ihrer Ausführung und nach der Natur des Kranken und seiner Krankheit eine sehr verschiedne Wirkung aus. Die Leistungen dieser BeHand¬ lungsweise Verhalten sich in der Hand des Sachverständigen ganz anders, als in der des Laien. Es ist ganz verkehrt, wenn der Naturarzt predigt, das Wasser sei unter allen Umstünden ein ganz unschuldiges Mittel und mir chemische Mittel könnten vergiften; verderben und krankmachen kann das Wasser nicht minder. Die Gefahren laienhafter naturärztlicher Behandlung sind that¬ sächlich groß. Die Beispiele, daß Unheil angerichtet worden ist, indem Wasser¬ kuren einseitig und fanatisch übertrieben angewandt werden, sind nicht seltener, als bei den Entfettungskuren und andern Diätkuren. Auch der Bauer Vincenz Prießnitz in Grüfenberg (1825 -1845) hat durch barbarische Kaltwasserstürze im Gießbach, durch maßlose Schwitzkuren und unsinniges Wassertrinken (zehn bis vierzig Gläser täglich) manchen Lungenkranken, nervenschwachen und Wasser¬ süchtigen an den Rand des Grabes gebracht und sich selbst ein tötliches Nieren¬ leiden zugezogen. Der Pfarrer Kneipp in Wörrishofen hat in der Erkenntnis dieser Gefahren neuerdings wohlweislich ärztliche Beihilfe für seine Anwendungen herangezogen. Wenn der Laie, der die äußre Technik der Prozeduren der Wasserkur gelernt hat, diese selbständig anwendet, ohne sich die richtige Er¬ kenntnis der Krankheiten angeeignet zu haben und ohne die Tragweite der angewandten Eingriffe genau ermessen zu können, so handelt er gewissenlos und fahrlässig und setzt die Gesundheit der Hilfesuchenden unverantwortlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/476>, abgerufen am 26.08.2024.