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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Natnrheilkunde in der Medizin

Handlung auf den Universitäten teilt die Hydrotherapie mit andern Fächern
der physikalischen Heilmethoden. Auch die Heilgymnastik, die Orthopädie und
die Massage finden selten in der ihnen gebührenden Ausdehnung Berücksichtigung.
Die Universität Leipzig war bis vor kurzem die einzige in Deutschland, die
sich im Besitz einer orthopädischen Poliklinik befand, und diese verdankte sie
den Bemühungen des praktischen Arztes Dr. Schildbach, der mit Hilfe des
Ministeriums des Kultus und des Unterrichts einen Lehrstuhl für Orthopädie
einrichtete und 1876 die Anstalt eröffnete. Erst 18L0 ist auch Berlin mit
Errichtung einer orthopädischen Poliklinik nnchgesolgt. Der Elektrotherapie
ist es gelungen, ihren Anschluß an die Kliniken für Nervenkrankheiten zu
lockern und sich als selbständigen Lehrgegenstand einzuführen; die Pneumato-
therapie und die diätetischen Kuren haben sich den klinischen Studien und
Kurmethoden eingefügt und werden an den Universitäten meist in genügender
Weise ausgeübt und demonstrirt, die Hydrotherapie dagegen wird sast an allen
Kliniken nur sporadisch, nicht methodisch betrieben, nur in Wien besteht ein Lehr-
stuhl und eine Poliklinik sür diese Heilmethode. Überall sonst bleibt den
Studenten der Medizin dieser wichtige Heilbehelf in den chronischen Krank¬
heiten -- und diese bilden das Hauptfeld der Thätigkeit des praktischen Arztes --
mehr oder weniger unbekannt. Die Wirkung der Hydrotherapie wird z. B.
selbst bei der Lungenschwindsucht in den Kliniken weder theoretisch erklärt,
noch wird dies Verfahren praktisch angewendet und eingeübt. Bei den akuten
Fiebern, insonderheit beim Abdominaltyphus, wird es allerdings seit Brand in
Gestalt von kalten Bädern mehr oder weniger ausgedehnt angewendet, aber
man rechnet dabei in einseitiger Weise nur mit der Abkühlung als dem einzigen
springenden Punkt und dem einzigen Ergebnis und vernachlässigt die dnrch das
Kaltwasserverfahren erzeugten Veränderungen der Innervation, der Zirkulation,
des Gewebs- und Gefäßtonus, der thermischen oder mechanischen Fluxion zu
einem Körperteil, der Wasserretention des Körpers u. f. w.

Schon seit den Versuchen und Forschungen von Joh. Gottfr. Hahn in
Vreslau (1734), von James Currie in Liverpool (1787), von E. Brand in
Stettin (1361) über die Anwendung und Wirksamkeit der Kaltwasserbehand¬
lung in fieberhaften Krankheiten und feit den wissenschaftlichen Arbeiten
von Gully (1852), Petri (1853), Pleniger (1863), Runge (1869),
Winternitz (1874) u. v. a. über die Wasserbehandlung bei chronischen Er¬
krankungen bildet die Hydrotherapie einen wichtigen Bestandteil der ärztlichen
Kunst. Ihre Anzeigen und Gegenanzeigeu sind wissenschaftlich erforscht, die
Ausführung ihrer Prozeduren und die Dosirnng ihrer Mittel ist genau fest¬
gestellt. Man darf behaupten, daß die Hydrotherapie eines der am besten
ausgearbeiteten Kapitel der Pharmakodynamik sei. Sie hat ihre Lehrlingszeit
und ihre Sturm- und Drangperiode hinter sich und hat sich in der langen
Probezeit durch Abstoßung der Schlacken soweit geläutert, daß sie in ihren


Die Natnrheilkunde in der Medizin

Handlung auf den Universitäten teilt die Hydrotherapie mit andern Fächern
der physikalischen Heilmethoden. Auch die Heilgymnastik, die Orthopädie und
die Massage finden selten in der ihnen gebührenden Ausdehnung Berücksichtigung.
Die Universität Leipzig war bis vor kurzem die einzige in Deutschland, die
sich im Besitz einer orthopädischen Poliklinik befand, und diese verdankte sie
den Bemühungen des praktischen Arztes Dr. Schildbach, der mit Hilfe des
Ministeriums des Kultus und des Unterrichts einen Lehrstuhl für Orthopädie
einrichtete und 1876 die Anstalt eröffnete. Erst 18L0 ist auch Berlin mit
Errichtung einer orthopädischen Poliklinik nnchgesolgt. Der Elektrotherapie
ist es gelungen, ihren Anschluß an die Kliniken für Nervenkrankheiten zu
lockern und sich als selbständigen Lehrgegenstand einzuführen; die Pneumato-
therapie und die diätetischen Kuren haben sich den klinischen Studien und
Kurmethoden eingefügt und werden an den Universitäten meist in genügender
Weise ausgeübt und demonstrirt, die Hydrotherapie dagegen wird sast an allen
Kliniken nur sporadisch, nicht methodisch betrieben, nur in Wien besteht ein Lehr-
stuhl und eine Poliklinik sür diese Heilmethode. Überall sonst bleibt den
Studenten der Medizin dieser wichtige Heilbehelf in den chronischen Krank¬
heiten — und diese bilden das Hauptfeld der Thätigkeit des praktischen Arztes —
mehr oder weniger unbekannt. Die Wirkung der Hydrotherapie wird z. B.
selbst bei der Lungenschwindsucht in den Kliniken weder theoretisch erklärt,
noch wird dies Verfahren praktisch angewendet und eingeübt. Bei den akuten
Fiebern, insonderheit beim Abdominaltyphus, wird es allerdings seit Brand in
Gestalt von kalten Bädern mehr oder weniger ausgedehnt angewendet, aber
man rechnet dabei in einseitiger Weise nur mit der Abkühlung als dem einzigen
springenden Punkt und dem einzigen Ergebnis und vernachlässigt die dnrch das
Kaltwasserverfahren erzeugten Veränderungen der Innervation, der Zirkulation,
des Gewebs- und Gefäßtonus, der thermischen oder mechanischen Fluxion zu
einem Körperteil, der Wasserretention des Körpers u. f. w.

Schon seit den Versuchen und Forschungen von Joh. Gottfr. Hahn in
Vreslau (1734), von James Currie in Liverpool (1787), von E. Brand in
Stettin (1361) über die Anwendung und Wirksamkeit der Kaltwasserbehand¬
lung in fieberhaften Krankheiten und feit den wissenschaftlichen Arbeiten
von Gully (1852), Petri (1853), Pleniger (1863), Runge (1869),
Winternitz (1874) u. v. a. über die Wasserbehandlung bei chronischen Er¬
krankungen bildet die Hydrotherapie einen wichtigen Bestandteil der ärztlichen
Kunst. Ihre Anzeigen und Gegenanzeigeu sind wissenschaftlich erforscht, die
Ausführung ihrer Prozeduren und die Dosirnng ihrer Mittel ist genau fest¬
gestellt. Man darf behaupten, daß die Hydrotherapie eines der am besten
ausgearbeiteten Kapitel der Pharmakodynamik sei. Sie hat ihre Lehrlingszeit
und ihre Sturm- und Drangperiode hinter sich und hat sich in der langen
Probezeit durch Abstoßung der Schlacken soweit geläutert, daß sie in ihren


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[0475] Die Natnrheilkunde in der Medizin Handlung auf den Universitäten teilt die Hydrotherapie mit andern Fächern der physikalischen Heilmethoden. Auch die Heilgymnastik, die Orthopädie und die Massage finden selten in der ihnen gebührenden Ausdehnung Berücksichtigung. Die Universität Leipzig war bis vor kurzem die einzige in Deutschland, die sich im Besitz einer orthopädischen Poliklinik befand, und diese verdankte sie den Bemühungen des praktischen Arztes Dr. Schildbach, der mit Hilfe des Ministeriums des Kultus und des Unterrichts einen Lehrstuhl für Orthopädie einrichtete und 1876 die Anstalt eröffnete. Erst 18L0 ist auch Berlin mit Errichtung einer orthopädischen Poliklinik nnchgesolgt. Der Elektrotherapie ist es gelungen, ihren Anschluß an die Kliniken für Nervenkrankheiten zu lockern und sich als selbständigen Lehrgegenstand einzuführen; die Pneumato- therapie und die diätetischen Kuren haben sich den klinischen Studien und Kurmethoden eingefügt und werden an den Universitäten meist in genügender Weise ausgeübt und demonstrirt, die Hydrotherapie dagegen wird sast an allen Kliniken nur sporadisch, nicht methodisch betrieben, nur in Wien besteht ein Lehr- stuhl und eine Poliklinik sür diese Heilmethode. Überall sonst bleibt den Studenten der Medizin dieser wichtige Heilbehelf in den chronischen Krank¬ heiten — und diese bilden das Hauptfeld der Thätigkeit des praktischen Arztes — mehr oder weniger unbekannt. Die Wirkung der Hydrotherapie wird z. B. selbst bei der Lungenschwindsucht in den Kliniken weder theoretisch erklärt, noch wird dies Verfahren praktisch angewendet und eingeübt. Bei den akuten Fiebern, insonderheit beim Abdominaltyphus, wird es allerdings seit Brand in Gestalt von kalten Bädern mehr oder weniger ausgedehnt angewendet, aber man rechnet dabei in einseitiger Weise nur mit der Abkühlung als dem einzigen springenden Punkt und dem einzigen Ergebnis und vernachlässigt die dnrch das Kaltwasserverfahren erzeugten Veränderungen der Innervation, der Zirkulation, des Gewebs- und Gefäßtonus, der thermischen oder mechanischen Fluxion zu einem Körperteil, der Wasserretention des Körpers u. f. w. Schon seit den Versuchen und Forschungen von Joh. Gottfr. Hahn in Vreslau (1734), von James Currie in Liverpool (1787), von E. Brand in Stettin (1361) über die Anwendung und Wirksamkeit der Kaltwasserbehand¬ lung in fieberhaften Krankheiten und feit den wissenschaftlichen Arbeiten von Gully (1852), Petri (1853), Pleniger (1863), Runge (1869), Winternitz (1874) u. v. a. über die Wasserbehandlung bei chronischen Er¬ krankungen bildet die Hydrotherapie einen wichtigen Bestandteil der ärztlichen Kunst. Ihre Anzeigen und Gegenanzeigeu sind wissenschaftlich erforscht, die Ausführung ihrer Prozeduren und die Dosirnng ihrer Mittel ist genau fest¬ gestellt. Man darf behaupten, daß die Hydrotherapie eines der am besten ausgearbeiteten Kapitel der Pharmakodynamik sei. Sie hat ihre Lehrlingszeit und ihre Sturm- und Drangperiode hinter sich und hat sich in der langen Probezeit durch Abstoßung der Schlacken soweit geläutert, daß sie in ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/475>, abgerufen am 26.08.2024.