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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Naturheilkunde in der Medizin

ist, und überläßt lieber den Kranken seinem Schmerz, ja er verwirft überhaupt
alle Chirurgie, weil sie nicht mehr Natur, sondern Kunst ist. Er vergißt über
dem ^lütui'Ä Saint, das er zum Wahlspruch gewählt hat, ganz den zweiten
Teil des Satzes: nivcliend! our.it. Die neueste naturürztliche Schule in Wörris-
hofeu, die sich in mancher Beziehung zur alten Schule in Opposition setzt,
denkt freilich anders über die Arzneimittel, von denen sie eine ganze Haus¬
apotheke vorrätig hält; sie kennt den Spruch Sirachs: "Der Herr läßt die
Arznei aus der Erde wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht" und
sagt darum: Lore-äieitö univei'Lii, g'vrniirmntm in törrli Doniini! Aber aller-
dings andre Mittelchen, als in seiner Apotheke stehen, darf der Kurgast des
hochwürdigen Sebastian nicht gebrauchen, und wenn eine Dame, die an Mi¬
gräne leidet, außer dein Wasserklystier etwa noch den Migränestift gebraucht,
so heißt das "mit einer Rakete einen Hasen totschießen."

Nach alledem ist ersichtlich, daß die sogenannte Naturheilkunde gar keine
besondre Heilmethode ist. Das Wort bezeichnet nur das Verhalten der Heil¬
künstler, die sich eine bestimmte einseitige Beschränkung in der Auswahl der
Heilmittel zur Richtschnur ihres ganzen Heilverfahrens machen. Die "Grund¬
sätze" der Naturheilkunde sind also nur negative und beruhen lediglich in der
Bevorzugung einzelner und der Ausschließung aller andern Heilmittel; die
"Praxis" und Methode der Naturheilkunde ist nichts eigentümliches, besondres,
neues, sondern nur ein Kapitel aus der allgemeinen Medizin, das auch von
Ärzten gepflegt, daneben aber häufig von Nichtürzteu in unwissenschaftlicher
Weise als Spezialität ausgeübt, als Uuiversalheilmethode angepriesen und als
allem natürliches Verfahren hingestellt wird, mit dem Anspruch, daß alle
andern Kapitel der gesamten Medizin und alle übrigen Heilverfahren un¬
natürlich und verwerflich seien. Die Firma "Naturheilkunde" enthält also eine
gänzlich ungerechtfertigte Anmaßung gegenüber der gesamten Heilkunst und eine
irreführende Reklame gegenüber dem leidenden Publikum. Der Naturarzt
nennt sich einen Physiater, indem er aus seiner Physikojatrie eine Physiatrie,
aus der Physik eine Physis, aus der Mechanik die Natur überhaupt macht.

Wie kommt es nun, daß das Publikum und die Mitglieder der Orts¬
krankenkassen ihr Vertrauen zum Teil den sogenannten Naturärzten, die keine
apprvbirten Ärzte sind, schenkt und sie mannigfach den wirklichen Ärzten gegen¬
über bevorzugt?

Zunächst erklärt sich das daraus, daß sich die Ärzte mit den physikalischen
Heilmethoden, insonderheit mit der Wasserheilkunde, im ganzen wenig abgeben
oder sie nur in einzelnen Anstalten, außerhalb der großen Städte gelegenen
Wasserheilanstalten, während einer kurzen Sommersaison betreiben. Dies rührt
wieder daher, daß die ärztlichen Schulen der Universitäten fast ohne Aus¬
nahme keine Lehrstütten für die methodische Anwendung und den Unterricht
in diesem Zweige der Krankenbehandlung haben. Diese stiefmütterliche Be-


Die Naturheilkunde in der Medizin

ist, und überläßt lieber den Kranken seinem Schmerz, ja er verwirft überhaupt
alle Chirurgie, weil sie nicht mehr Natur, sondern Kunst ist. Er vergißt über
dem ^lütui'Ä Saint, das er zum Wahlspruch gewählt hat, ganz den zweiten
Teil des Satzes: nivcliend! our.it. Die neueste naturürztliche Schule in Wörris-
hofeu, die sich in mancher Beziehung zur alten Schule in Opposition setzt,
denkt freilich anders über die Arzneimittel, von denen sie eine ganze Haus¬
apotheke vorrätig hält; sie kennt den Spruch Sirachs: „Der Herr läßt die
Arznei aus der Erde wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht" und
sagt darum: Lore-äieitö univei'Lii, g'vrniirmntm in törrli Doniini! Aber aller-
dings andre Mittelchen, als in seiner Apotheke stehen, darf der Kurgast des
hochwürdigen Sebastian nicht gebrauchen, und wenn eine Dame, die an Mi¬
gräne leidet, außer dein Wasserklystier etwa noch den Migränestift gebraucht,
so heißt das „mit einer Rakete einen Hasen totschießen."

Nach alledem ist ersichtlich, daß die sogenannte Naturheilkunde gar keine
besondre Heilmethode ist. Das Wort bezeichnet nur das Verhalten der Heil¬
künstler, die sich eine bestimmte einseitige Beschränkung in der Auswahl der
Heilmittel zur Richtschnur ihres ganzen Heilverfahrens machen. Die „Grund¬
sätze" der Naturheilkunde sind also nur negative und beruhen lediglich in der
Bevorzugung einzelner und der Ausschließung aller andern Heilmittel; die
„Praxis" und Methode der Naturheilkunde ist nichts eigentümliches, besondres,
neues, sondern nur ein Kapitel aus der allgemeinen Medizin, das auch von
Ärzten gepflegt, daneben aber häufig von Nichtürzteu in unwissenschaftlicher
Weise als Spezialität ausgeübt, als Uuiversalheilmethode angepriesen und als
allem natürliches Verfahren hingestellt wird, mit dem Anspruch, daß alle
andern Kapitel der gesamten Medizin und alle übrigen Heilverfahren un¬
natürlich und verwerflich seien. Die Firma „Naturheilkunde" enthält also eine
gänzlich ungerechtfertigte Anmaßung gegenüber der gesamten Heilkunst und eine
irreführende Reklame gegenüber dem leidenden Publikum. Der Naturarzt
nennt sich einen Physiater, indem er aus seiner Physikojatrie eine Physiatrie,
aus der Physik eine Physis, aus der Mechanik die Natur überhaupt macht.

Wie kommt es nun, daß das Publikum und die Mitglieder der Orts¬
krankenkassen ihr Vertrauen zum Teil den sogenannten Naturärzten, die keine
apprvbirten Ärzte sind, schenkt und sie mannigfach den wirklichen Ärzten gegen¬
über bevorzugt?

Zunächst erklärt sich das daraus, daß sich die Ärzte mit den physikalischen
Heilmethoden, insonderheit mit der Wasserheilkunde, im ganzen wenig abgeben
oder sie nur in einzelnen Anstalten, außerhalb der großen Städte gelegenen
Wasserheilanstalten, während einer kurzen Sommersaison betreiben. Dies rührt
wieder daher, daß die ärztlichen Schulen der Universitäten fast ohne Aus¬
nahme keine Lehrstütten für die methodische Anwendung und den Unterricht
in diesem Zweige der Krankenbehandlung haben. Diese stiefmütterliche Be-


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[0474] Die Naturheilkunde in der Medizin ist, und überläßt lieber den Kranken seinem Schmerz, ja er verwirft überhaupt alle Chirurgie, weil sie nicht mehr Natur, sondern Kunst ist. Er vergißt über dem ^lütui'Ä Saint, das er zum Wahlspruch gewählt hat, ganz den zweiten Teil des Satzes: nivcliend! our.it. Die neueste naturürztliche Schule in Wörris- hofeu, die sich in mancher Beziehung zur alten Schule in Opposition setzt, denkt freilich anders über die Arzneimittel, von denen sie eine ganze Haus¬ apotheke vorrätig hält; sie kennt den Spruch Sirachs: „Der Herr läßt die Arznei aus der Erde wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht" und sagt darum: Lore-äieitö univei'Lii, g'vrniirmntm in törrli Doniini! Aber aller- dings andre Mittelchen, als in seiner Apotheke stehen, darf der Kurgast des hochwürdigen Sebastian nicht gebrauchen, und wenn eine Dame, die an Mi¬ gräne leidet, außer dein Wasserklystier etwa noch den Migränestift gebraucht, so heißt das „mit einer Rakete einen Hasen totschießen." Nach alledem ist ersichtlich, daß die sogenannte Naturheilkunde gar keine besondre Heilmethode ist. Das Wort bezeichnet nur das Verhalten der Heil¬ künstler, die sich eine bestimmte einseitige Beschränkung in der Auswahl der Heilmittel zur Richtschnur ihres ganzen Heilverfahrens machen. Die „Grund¬ sätze" der Naturheilkunde sind also nur negative und beruhen lediglich in der Bevorzugung einzelner und der Ausschließung aller andern Heilmittel; die „Praxis" und Methode der Naturheilkunde ist nichts eigentümliches, besondres, neues, sondern nur ein Kapitel aus der allgemeinen Medizin, das auch von Ärzten gepflegt, daneben aber häufig von Nichtürzteu in unwissenschaftlicher Weise als Spezialität ausgeübt, als Uuiversalheilmethode angepriesen und als allem natürliches Verfahren hingestellt wird, mit dem Anspruch, daß alle andern Kapitel der gesamten Medizin und alle übrigen Heilverfahren un¬ natürlich und verwerflich seien. Die Firma „Naturheilkunde" enthält also eine gänzlich ungerechtfertigte Anmaßung gegenüber der gesamten Heilkunst und eine irreführende Reklame gegenüber dem leidenden Publikum. Der Naturarzt nennt sich einen Physiater, indem er aus seiner Physikojatrie eine Physiatrie, aus der Physik eine Physis, aus der Mechanik die Natur überhaupt macht. Wie kommt es nun, daß das Publikum und die Mitglieder der Orts¬ krankenkassen ihr Vertrauen zum Teil den sogenannten Naturärzten, die keine apprvbirten Ärzte sind, schenkt und sie mannigfach den wirklichen Ärzten gegen¬ über bevorzugt? Zunächst erklärt sich das daraus, daß sich die Ärzte mit den physikalischen Heilmethoden, insonderheit mit der Wasserheilkunde, im ganzen wenig abgeben oder sie nur in einzelnen Anstalten, außerhalb der großen Städte gelegenen Wasserheilanstalten, während einer kurzen Sommersaison betreiben. Dies rührt wieder daher, daß die ärztlichen Schulen der Universitäten fast ohne Aus¬ nahme keine Lehrstütten für die methodische Anwendung und den Unterricht in diesem Zweige der Krankenbehandlung haben. Diese stiefmütterliche Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/474>, abgerufen am 26.08.2024.