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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsxhilosophische Gedanken

wo die Sittlichkeit wirklich in der Staatsgewalt ihre Verkörperung gefunden
hat, der größere Teil der Unterthanen nur durch Zwang in der Staats¬
ordnung festgehalten wird. Man kann nun zwar der Ansicht sein, und wir
selbst teilen sie mit einem kleinen Vorbehalt, daß die erzwungene Ordnung sür
gewöhnlich der Anarchie vorzuziehen sei, aber es ist nicht erlaubt, den Zwang
Freiheit zu nennen. Man mag also die Zustünde des achtzehnten und neun¬
zehnten Jahrhunderts denen des sechzehnten vorziehen, aber es wäre ein un¬
würdiges Spiel mit Worten, wenn man behaupten wollte, es sei die größere
Freiheit, was unsre Zeit vor der frühern auszeichne; es ist dies vielmehr
der besser geordnete Zwang. Freiheit ist eben Freiheit; und wo neben den
guten Kräften nicht auch die zweifelhaften und die offenbar bösen Spielraum
haben zu wirken, da ist sie nicht vorhanden. Und da es kein unfehlbares
Urteil giebt, das die guten von den bösen reinlich zu scheiden vermöchte, so
läßt es sich nicht vermeiden, daß dort, wo die bösen kräftig gezügelt und
unterdrückt werden, auch so manche gute verkümmern muß. Ebendeshalb sind
große wohlthätige Umwälzungen nur bei einem hohen Maße von Freiheit
möglich, das notwendigerweise nicht allein der Wahrheit und der Tugend, son¬
dern auch der Thorheit und dem Laster zu statten kommt.

Aber auch in wissenschaftlicher und litterarischer Beziehung war der An¬
fang des sechzehnten Jahrhunderts freier und vorurteilsloser als sein Ende.
Es mag deu frommen Christen mit Schmerz und Zorn erfüllen, daß der Hof
der Renaissancepäpste heidnisch geworden war und daß sich Gotteslästerung
und Gottesleugnung ungescheut hervorwagen durften, aber das hohe Maß
geistiger Freiheit, das sich darin kund giebt, kann jenem Geschlecht nicht be¬
stritten werden. Zwar war Luther schon hervorgetreten, als Hütten in seinem
Briefe an Pirkheimer den berühmten Satz schrieb: "O Jahrhundert, die Wissen¬
schaften blühen, die Geister erwachen, es ist eine Lust, zu leben!" aber an
Luthers Thesen hatte der ritterliche Humanist dabei nicht gedacht. Gerade
damals trat er in den Dienst des Kurfürsten Albrecht von Mainz, des großen
Ablaßschacherers. Auch wolle mau bedenken, daß Kopernikus, der sein dem
Papste Paul III. gewidmetes Werk über die Umwälzungen der Himmelskörper
freilich erst kurz vor seinem Tode (1543) herausgab, dessen Ansichten aber
doch im Kreise seiner Freunde bekannt waren, unbehelligt blieb, während fünfzig
Jahre später Johannes Kepler vor dem orthodoxen Eifer der württembergischen
Pastoren in den Schutz des Kaisers flüchten mußte, noch ehe in Rom Galilei
verdammt wurde. Und wie wunderlich nimmt sich der Widerstand der Pro¬
testanten gegen die gregorianische Kalenderverbesserung aus! Vielleicht darf
man Rabelais als den Mann bezeichnen, mit dem 1553 die im Hnmanisten-
zeitalter herrschende Freiheit des Wortes zu Grabe getragen wurde. Nicht
darin sehen wir die Freiheit, daß er Zoten veröffentlichen durfte, sondern darin,
daß ganz Frankreich auf den König, der in diesen Zoten verspottet wurde,


Geschichtsxhilosophische Gedanken

wo die Sittlichkeit wirklich in der Staatsgewalt ihre Verkörperung gefunden
hat, der größere Teil der Unterthanen nur durch Zwang in der Staats¬
ordnung festgehalten wird. Man kann nun zwar der Ansicht sein, und wir
selbst teilen sie mit einem kleinen Vorbehalt, daß die erzwungene Ordnung sür
gewöhnlich der Anarchie vorzuziehen sei, aber es ist nicht erlaubt, den Zwang
Freiheit zu nennen. Man mag also die Zustünde des achtzehnten und neun¬
zehnten Jahrhunderts denen des sechzehnten vorziehen, aber es wäre ein un¬
würdiges Spiel mit Worten, wenn man behaupten wollte, es sei die größere
Freiheit, was unsre Zeit vor der frühern auszeichne; es ist dies vielmehr
der besser geordnete Zwang. Freiheit ist eben Freiheit; und wo neben den
guten Kräften nicht auch die zweifelhaften und die offenbar bösen Spielraum
haben zu wirken, da ist sie nicht vorhanden. Und da es kein unfehlbares
Urteil giebt, das die guten von den bösen reinlich zu scheiden vermöchte, so
läßt es sich nicht vermeiden, daß dort, wo die bösen kräftig gezügelt und
unterdrückt werden, auch so manche gute verkümmern muß. Ebendeshalb sind
große wohlthätige Umwälzungen nur bei einem hohen Maße von Freiheit
möglich, das notwendigerweise nicht allein der Wahrheit und der Tugend, son¬
dern auch der Thorheit und dem Laster zu statten kommt.

Aber auch in wissenschaftlicher und litterarischer Beziehung war der An¬
fang des sechzehnten Jahrhunderts freier und vorurteilsloser als sein Ende.
Es mag deu frommen Christen mit Schmerz und Zorn erfüllen, daß der Hof
der Renaissancepäpste heidnisch geworden war und daß sich Gotteslästerung
und Gottesleugnung ungescheut hervorwagen durften, aber das hohe Maß
geistiger Freiheit, das sich darin kund giebt, kann jenem Geschlecht nicht be¬
stritten werden. Zwar war Luther schon hervorgetreten, als Hütten in seinem
Briefe an Pirkheimer den berühmten Satz schrieb: „O Jahrhundert, die Wissen¬
schaften blühen, die Geister erwachen, es ist eine Lust, zu leben!" aber an
Luthers Thesen hatte der ritterliche Humanist dabei nicht gedacht. Gerade
damals trat er in den Dienst des Kurfürsten Albrecht von Mainz, des großen
Ablaßschacherers. Auch wolle mau bedenken, daß Kopernikus, der sein dem
Papste Paul III. gewidmetes Werk über die Umwälzungen der Himmelskörper
freilich erst kurz vor seinem Tode (1543) herausgab, dessen Ansichten aber
doch im Kreise seiner Freunde bekannt waren, unbehelligt blieb, während fünfzig
Jahre später Johannes Kepler vor dem orthodoxen Eifer der württembergischen
Pastoren in den Schutz des Kaisers flüchten mußte, noch ehe in Rom Galilei
verdammt wurde. Und wie wunderlich nimmt sich der Widerstand der Pro¬
testanten gegen die gregorianische Kalenderverbesserung aus! Vielleicht darf
man Rabelais als den Mann bezeichnen, mit dem 1553 die im Hnmanisten-
zeitalter herrschende Freiheit des Wortes zu Grabe getragen wurde. Nicht
darin sehen wir die Freiheit, daß er Zoten veröffentlichen durfte, sondern darin,
daß ganz Frankreich auf den König, der in diesen Zoten verspottet wurde,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/460>, abgerufen am 26.08.2024.