Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Geschichtsphilosophische Gedanken

Augustiner Kaspar Gürtel von Eisleben, aufgefordert von den Einwohnern,
nach alter Sitte auf dem Marktplatze sieben Predigten. Bei Danzig war es
sogar eine Anhöhe vor der Stadt, wo man sich um einen von drinnen ver¬
jagten Prediger sammelte. Und hätten sich ja keine Geistlichen gefunden, so
hätten Laien das Wort genommen. Unter den Angen des Doktor Eck zu
Ingolstadt las ein begeisterter Webergesell die Schriften Luthers dein ver¬
sammelten Haufen vor." Und bei solchen Versammlungen im Freien blieb es
ja nicht. Überall, wo die Bewegung die Oberhand gewann, kam es zu einer
durchgreifenden Neuordnung des Gottesdienstes, zur Absetzung oder Verjagung
solcher Priester, die das Evangelium nicht annehmen wollten, zur Einziehung
von Kirchengütern. Wo sich Fürsten und Magistrate an die Spitze stellten,
da konnte die Änderung immerhin eine landrechtliche, wenn auch weder die
reichsrcchtliche noch die privatrechtliche Gesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen;
aber wie stand es an Orten, wo sie dem Magistrate von der niedern Bürger¬
schaft aufgezwungen wurde?

Ganz dasselbe gilt von der Einführung des Christentums. Sie war nur
möglich in einer Zeit großer Freiheit. Ohne polizeilich nachweisbare Unter¬
haltsmittel jahrelang in der Welt herumreisen, Versammlungen nnter freiem
Himmel abhalten, Gemeinden gründen, die nach staatlicher Anerkennung nichts
fragten, die sehr bald zu großem Vermögen gelangten, dieses selbständig ver¬
walteten und ihre Mitglieder einer strengen Kirchenzucht unterwarfen, deren
Wirkungen tief ins bürgerliche Leben einschnitten, das alles wäre heute, wenig¬
stens in dem Maße, wie es damals geschah, nicht mehr möglich. Es ist wahr,
über die ersten Christen brachen blutige Verfolgungen herein, wie über die
Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts in einigen Ländern; allein wie
wenig vermögen die brutalen Gewaltthaten einer blind dreiufahreuden Leiden¬
schaft im Vergleich zu deu planvollen Maßregeln einer wohlgeordneten bürger¬
lichen Gewalt, die mit dem gleichmäßigen unwiderstehlichen Druck einer hydrau¬
lischen Presse alle ihr mißliebigen Bewegungen meist schon im Keime ersticken!

Man wird wahrscheinlich einwenden, daß eine Freiheit, die wie im
römischen Reiche auf der Gleichgiltigkeit gegen alle religiösen Meinungen, oder
wie im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts auf der Schwäche des Neichs-
vberhauptes und auf der Teilung der Staatsgewalt in unzählige in einander
eingreifende und einander gegenseitig behindernde Zuständigkeiten beruht, gar
nicht den Namen Freiheit verdiene. Der Zustand des damaligen deutschen
Reiches namentlich müsse als eine dnrch kleine Willkürherrscher nnr sehr un¬
genügend gezügelte Anarchie bezeichnet werden. Die wahre Freiheit sei erst
durch den Protestantismus möglich geworden, der die sittliche Freiheit auf
den Thron gesetzt habe. Darauf erwidern wir, daß es doch auch so manche
Protestantische Throne und Thrönchen gegeben hat und vielleicht noch giebt,
anf denen etwas andres als die sittliche Freiheit sitzt, daß aber auch dort,


Geschichtsphilosophische Gedanken

Augustiner Kaspar Gürtel von Eisleben, aufgefordert von den Einwohnern,
nach alter Sitte auf dem Marktplatze sieben Predigten. Bei Danzig war es
sogar eine Anhöhe vor der Stadt, wo man sich um einen von drinnen ver¬
jagten Prediger sammelte. Und hätten sich ja keine Geistlichen gefunden, so
hätten Laien das Wort genommen. Unter den Angen des Doktor Eck zu
Ingolstadt las ein begeisterter Webergesell die Schriften Luthers dein ver¬
sammelten Haufen vor." Und bei solchen Versammlungen im Freien blieb es
ja nicht. Überall, wo die Bewegung die Oberhand gewann, kam es zu einer
durchgreifenden Neuordnung des Gottesdienstes, zur Absetzung oder Verjagung
solcher Priester, die das Evangelium nicht annehmen wollten, zur Einziehung
von Kirchengütern. Wo sich Fürsten und Magistrate an die Spitze stellten,
da konnte die Änderung immerhin eine landrechtliche, wenn auch weder die
reichsrcchtliche noch die privatrechtliche Gesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen;
aber wie stand es an Orten, wo sie dem Magistrate von der niedern Bürger¬
schaft aufgezwungen wurde?

Ganz dasselbe gilt von der Einführung des Christentums. Sie war nur
möglich in einer Zeit großer Freiheit. Ohne polizeilich nachweisbare Unter¬
haltsmittel jahrelang in der Welt herumreisen, Versammlungen nnter freiem
Himmel abhalten, Gemeinden gründen, die nach staatlicher Anerkennung nichts
fragten, die sehr bald zu großem Vermögen gelangten, dieses selbständig ver¬
walteten und ihre Mitglieder einer strengen Kirchenzucht unterwarfen, deren
Wirkungen tief ins bürgerliche Leben einschnitten, das alles wäre heute, wenig¬
stens in dem Maße, wie es damals geschah, nicht mehr möglich. Es ist wahr,
über die ersten Christen brachen blutige Verfolgungen herein, wie über die
Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts in einigen Ländern; allein wie
wenig vermögen die brutalen Gewaltthaten einer blind dreiufahreuden Leiden¬
schaft im Vergleich zu deu planvollen Maßregeln einer wohlgeordneten bürger¬
lichen Gewalt, die mit dem gleichmäßigen unwiderstehlichen Druck einer hydrau¬
lischen Presse alle ihr mißliebigen Bewegungen meist schon im Keime ersticken!

Man wird wahrscheinlich einwenden, daß eine Freiheit, die wie im
römischen Reiche auf der Gleichgiltigkeit gegen alle religiösen Meinungen, oder
wie im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts auf der Schwäche des Neichs-
vberhauptes und auf der Teilung der Staatsgewalt in unzählige in einander
eingreifende und einander gegenseitig behindernde Zuständigkeiten beruht, gar
nicht den Namen Freiheit verdiene. Der Zustand des damaligen deutschen
Reiches namentlich müsse als eine dnrch kleine Willkürherrscher nnr sehr un¬
genügend gezügelte Anarchie bezeichnet werden. Die wahre Freiheit sei erst
durch den Protestantismus möglich geworden, der die sittliche Freiheit auf
den Thron gesetzt habe. Darauf erwidern wir, daß es doch auch so manche
Protestantische Throne und Thrönchen gegeben hat und vielleicht noch giebt,
anf denen etwas andres als die sittliche Freiheit sitzt, daß aber auch dort,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290228"/>
          <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophische Gedanken</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1304" prev="#ID_1303"> Augustiner Kaspar Gürtel von Eisleben, aufgefordert von den Einwohnern,<lb/>
nach alter Sitte auf dem Marktplatze sieben Predigten. Bei Danzig war es<lb/>
sogar eine Anhöhe vor der Stadt, wo man sich um einen von drinnen ver¬<lb/>
jagten Prediger sammelte. Und hätten sich ja keine Geistlichen gefunden, so<lb/>
hätten Laien das Wort genommen. Unter den Angen des Doktor Eck zu<lb/>
Ingolstadt las ein begeisterter Webergesell die Schriften Luthers dein ver¬<lb/>
sammelten Haufen vor." Und bei solchen Versammlungen im Freien blieb es<lb/>
ja nicht. Überall, wo die Bewegung die Oberhand gewann, kam es zu einer<lb/>
durchgreifenden Neuordnung des Gottesdienstes, zur Absetzung oder Verjagung<lb/>
solcher Priester, die das Evangelium nicht annehmen wollten, zur Einziehung<lb/>
von Kirchengütern. Wo sich Fürsten und Magistrate an die Spitze stellten,<lb/>
da konnte die Änderung immerhin eine landrechtliche, wenn auch weder die<lb/>
reichsrcchtliche noch die privatrechtliche Gesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen;<lb/>
aber wie stand es an Orten, wo sie dem Magistrate von der niedern Bürger¬<lb/>
schaft aufgezwungen wurde?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1305"> Ganz dasselbe gilt von der Einführung des Christentums. Sie war nur<lb/>
möglich in einer Zeit großer Freiheit. Ohne polizeilich nachweisbare Unter¬<lb/>
haltsmittel jahrelang in der Welt herumreisen, Versammlungen nnter freiem<lb/>
Himmel abhalten, Gemeinden gründen, die nach staatlicher Anerkennung nichts<lb/>
fragten, die sehr bald zu großem Vermögen gelangten, dieses selbständig ver¬<lb/>
walteten und ihre Mitglieder einer strengen Kirchenzucht unterwarfen, deren<lb/>
Wirkungen tief ins bürgerliche Leben einschnitten, das alles wäre heute, wenig¬<lb/>
stens in dem Maße, wie es damals geschah, nicht mehr möglich. Es ist wahr,<lb/>
über die ersten Christen brachen blutige Verfolgungen herein, wie über die<lb/>
Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts in einigen Ländern; allein wie<lb/>
wenig vermögen die brutalen Gewaltthaten einer blind dreiufahreuden Leiden¬<lb/>
schaft im Vergleich zu deu planvollen Maßregeln einer wohlgeordneten bürger¬<lb/>
lichen Gewalt, die mit dem gleichmäßigen unwiderstehlichen Druck einer hydrau¬<lb/>
lischen Presse alle ihr mißliebigen Bewegungen meist schon im Keime ersticken!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1306" next="#ID_1307"> Man wird wahrscheinlich einwenden, daß eine Freiheit, die wie im<lb/>
römischen Reiche auf der Gleichgiltigkeit gegen alle religiösen Meinungen, oder<lb/>
wie im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts auf der Schwäche des Neichs-<lb/>
vberhauptes und auf der Teilung der Staatsgewalt in unzählige in einander<lb/>
eingreifende und einander gegenseitig behindernde Zuständigkeiten beruht, gar<lb/>
nicht den Namen Freiheit verdiene. Der Zustand des damaligen deutschen<lb/>
Reiches namentlich müsse als eine dnrch kleine Willkürherrscher nnr sehr un¬<lb/>
genügend gezügelte Anarchie bezeichnet werden. Die wahre Freiheit sei erst<lb/>
durch den Protestantismus möglich geworden, der die sittliche Freiheit auf<lb/>
den Thron gesetzt habe. Darauf erwidern wir, daß es doch auch so manche<lb/>
Protestantische Throne und Thrönchen gegeben hat und vielleicht noch giebt,<lb/>
anf denen etwas andres als die sittliche Freiheit sitzt, daß aber auch dort,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] Geschichtsphilosophische Gedanken Augustiner Kaspar Gürtel von Eisleben, aufgefordert von den Einwohnern, nach alter Sitte auf dem Marktplatze sieben Predigten. Bei Danzig war es sogar eine Anhöhe vor der Stadt, wo man sich um einen von drinnen ver¬ jagten Prediger sammelte. Und hätten sich ja keine Geistlichen gefunden, so hätten Laien das Wort genommen. Unter den Angen des Doktor Eck zu Ingolstadt las ein begeisterter Webergesell die Schriften Luthers dein ver¬ sammelten Haufen vor." Und bei solchen Versammlungen im Freien blieb es ja nicht. Überall, wo die Bewegung die Oberhand gewann, kam es zu einer durchgreifenden Neuordnung des Gottesdienstes, zur Absetzung oder Verjagung solcher Priester, die das Evangelium nicht annehmen wollten, zur Einziehung von Kirchengütern. Wo sich Fürsten und Magistrate an die Spitze stellten, da konnte die Änderung immerhin eine landrechtliche, wenn auch weder die reichsrcchtliche noch die privatrechtliche Gesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen; aber wie stand es an Orten, wo sie dem Magistrate von der niedern Bürger¬ schaft aufgezwungen wurde? Ganz dasselbe gilt von der Einführung des Christentums. Sie war nur möglich in einer Zeit großer Freiheit. Ohne polizeilich nachweisbare Unter¬ haltsmittel jahrelang in der Welt herumreisen, Versammlungen nnter freiem Himmel abhalten, Gemeinden gründen, die nach staatlicher Anerkennung nichts fragten, die sehr bald zu großem Vermögen gelangten, dieses selbständig ver¬ walteten und ihre Mitglieder einer strengen Kirchenzucht unterwarfen, deren Wirkungen tief ins bürgerliche Leben einschnitten, das alles wäre heute, wenig¬ stens in dem Maße, wie es damals geschah, nicht mehr möglich. Es ist wahr, über die ersten Christen brachen blutige Verfolgungen herein, wie über die Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts in einigen Ländern; allein wie wenig vermögen die brutalen Gewaltthaten einer blind dreiufahreuden Leiden¬ schaft im Vergleich zu deu planvollen Maßregeln einer wohlgeordneten bürger¬ lichen Gewalt, die mit dem gleichmäßigen unwiderstehlichen Druck einer hydrau¬ lischen Presse alle ihr mißliebigen Bewegungen meist schon im Keime ersticken! Man wird wahrscheinlich einwenden, daß eine Freiheit, die wie im römischen Reiche auf der Gleichgiltigkeit gegen alle religiösen Meinungen, oder wie im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts auf der Schwäche des Neichs- vberhauptes und auf der Teilung der Staatsgewalt in unzählige in einander eingreifende und einander gegenseitig behindernde Zuständigkeiten beruht, gar nicht den Namen Freiheit verdiene. Der Zustand des damaligen deutschen Reiches namentlich müsse als eine dnrch kleine Willkürherrscher nnr sehr un¬ genügend gezügelte Anarchie bezeichnet werden. Die wahre Freiheit sei erst durch den Protestantismus möglich geworden, der die sittliche Freiheit auf den Thron gesetzt habe. Darauf erwidern wir, daß es doch auch so manche Protestantische Throne und Thrönchen gegeben hat und vielleicht noch giebt, anf denen etwas andres als die sittliche Freiheit sitzt, daß aber auch dort,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/459>, abgerufen am 26.08.2024.