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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Volksbühnen auf Volksfesten

doch wären derartige Betrachtungen im Interesse der Allgemeinheit oft weit
mehr angebracht, als spaltenlanges Hin- und Herreden über Vermutungen
z. B. auf dem Gebiete der auswärtigen Politik. Die Verrohung aber des
Volksgeschmackes wird auf den Volksfesten, um einen groben, aber treffenden
Vergleich Gottfried Kellers zu gebrauchen, groß gezogen, wie die Rübe im
Mistbeet. Das A und O der "künstlerischen" Unterhaltung aus Volksfesten
ist der Tingeltangel, d. h. eine Ausstellung von unverhüllten oder indezent
verhüllten Nacktheiten, eine Absingung von zweideutigen Liedern, die die Klippe
der polizeilichen Zensur hart umschiffen, und von albernen, jedes gesunden
Humors entbehrenden Gassenhauern. Das Ausländische spielt auch hier eine
lächerliche Rolle; denn der Gesang französischer und besonders englischer Lieder
bildet schon lange eines der feinsten Anziehuugsmittel derartiger Unternehmungen,
wobei dann das abenteuerliche Kostüm und eine entsprechende Gestikulation
dem Hörer das mangelnde Verständnis ersetzen muß. Zur Abwechslung aber
im Programm sorgen die unvermeidlichen Kraft- und Schlangenmenschen
beider Geschlechter, wenn nicht ein dressirter Ochse oder Esel dem Menschen
Konkurrenz macht. Es ist dies eines der traurigsten und widerlichsten Kapitel
in der Geschichte unsers neuesten Volkslebens. Wenn man bedenkt, daß sich
die Zahl dieser "Künstler" auf Tausende beläuft, daß sie in einer internatio¬
nalen Vereinigung organisirt sind und über ein Fachblatt verfügen, in denen
neben der in Paris ausgebildeten Kostümsoubrette mit zweiunddreißig nagel-
neuen Garderoben der Athlet, der ein Pferd hebt, "Engagement" sucht, und daß
diese "Künstler" Honorare beziehen, um die sie mancher gefeierte Schauspieler
beneiden muß, dann darf man wahrlich sagen, daß wir es in unserm neun¬
zehnten Jahrhundert herrlich weit gebracht haben. Der Abbruch, den die Ver¬
anstaltungen dieser künstlerischen "Crome" dem Theater machen, wird noch lange
nicht hoch genug angeschlagen, und Kenner der Verhältnisse werden den Über¬
mut dieser "Artisten" wenigstens begreiflich finden, wenn sie sich, wie es ge¬
schehen ist, dem Schauspieler und Opernsänger ebenbürtig zur Seite stellen.
Der Volksgunst sind sie mindestens ebenso gewiß wie diese; der Kreis ihrer
Bewundrer ist sogar noch größer und dankbarer. Es ist schwer zu verstehen,
wie es unser:" Behörden möglich gewesen ist, .die Gefahr für den Bestand der
geistigen und sittlichen Bildung zu verkennen, die aus dem raschen Anwachsen
des Artisten- und Spezialitätentums drohte und nun da ist, in vollster zer¬
störender Wirksamkeit, und es kann der Wunsch nicht laut genug ausgesprochen
werden, hier die dringend notwendige Abhilfe eintreten zu lasten, und zwar
zunächst durch rücksichtslose Einschränkung der Konzessionen. Hier gebieten
höhere Rücksichten. Auf unsern Volksfesten wird in dieser Richtung am meisten
gesündigt.

In diese schreienden Mißstände fällt nun der Vorschlag der Münchner
Gesellschaft für modernes Leben wie ein Sonnenstrahl aus bewölktem, düsterm


Volksbühnen auf Volksfesten

doch wären derartige Betrachtungen im Interesse der Allgemeinheit oft weit
mehr angebracht, als spaltenlanges Hin- und Herreden über Vermutungen
z. B. auf dem Gebiete der auswärtigen Politik. Die Verrohung aber des
Volksgeschmackes wird auf den Volksfesten, um einen groben, aber treffenden
Vergleich Gottfried Kellers zu gebrauchen, groß gezogen, wie die Rübe im
Mistbeet. Das A und O der „künstlerischen" Unterhaltung aus Volksfesten
ist der Tingeltangel, d. h. eine Ausstellung von unverhüllten oder indezent
verhüllten Nacktheiten, eine Absingung von zweideutigen Liedern, die die Klippe
der polizeilichen Zensur hart umschiffen, und von albernen, jedes gesunden
Humors entbehrenden Gassenhauern. Das Ausländische spielt auch hier eine
lächerliche Rolle; denn der Gesang französischer und besonders englischer Lieder
bildet schon lange eines der feinsten Anziehuugsmittel derartiger Unternehmungen,
wobei dann das abenteuerliche Kostüm und eine entsprechende Gestikulation
dem Hörer das mangelnde Verständnis ersetzen muß. Zur Abwechslung aber
im Programm sorgen die unvermeidlichen Kraft- und Schlangenmenschen
beider Geschlechter, wenn nicht ein dressirter Ochse oder Esel dem Menschen
Konkurrenz macht. Es ist dies eines der traurigsten und widerlichsten Kapitel
in der Geschichte unsers neuesten Volkslebens. Wenn man bedenkt, daß sich
die Zahl dieser „Künstler" auf Tausende beläuft, daß sie in einer internatio¬
nalen Vereinigung organisirt sind und über ein Fachblatt verfügen, in denen
neben der in Paris ausgebildeten Kostümsoubrette mit zweiunddreißig nagel-
neuen Garderoben der Athlet, der ein Pferd hebt, „Engagement" sucht, und daß
diese „Künstler" Honorare beziehen, um die sie mancher gefeierte Schauspieler
beneiden muß, dann darf man wahrlich sagen, daß wir es in unserm neun¬
zehnten Jahrhundert herrlich weit gebracht haben. Der Abbruch, den die Ver¬
anstaltungen dieser künstlerischen „Crome" dem Theater machen, wird noch lange
nicht hoch genug angeschlagen, und Kenner der Verhältnisse werden den Über¬
mut dieser „Artisten" wenigstens begreiflich finden, wenn sie sich, wie es ge¬
schehen ist, dem Schauspieler und Opernsänger ebenbürtig zur Seite stellen.
Der Volksgunst sind sie mindestens ebenso gewiß wie diese; der Kreis ihrer
Bewundrer ist sogar noch größer und dankbarer. Es ist schwer zu verstehen,
wie es unser:« Behörden möglich gewesen ist, .die Gefahr für den Bestand der
geistigen und sittlichen Bildung zu verkennen, die aus dem raschen Anwachsen
des Artisten- und Spezialitätentums drohte und nun da ist, in vollster zer¬
störender Wirksamkeit, und es kann der Wunsch nicht laut genug ausgesprochen
werden, hier die dringend notwendige Abhilfe eintreten zu lasten, und zwar
zunächst durch rücksichtslose Einschränkung der Konzessionen. Hier gebieten
höhere Rücksichten. Auf unsern Volksfesten wird in dieser Richtung am meisten
gesündigt.

In diese schreienden Mißstände fällt nun der Vorschlag der Münchner
Gesellschaft für modernes Leben wie ein Sonnenstrahl aus bewölktem, düsterm


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[0427] Volksbühnen auf Volksfesten doch wären derartige Betrachtungen im Interesse der Allgemeinheit oft weit mehr angebracht, als spaltenlanges Hin- und Herreden über Vermutungen z. B. auf dem Gebiete der auswärtigen Politik. Die Verrohung aber des Volksgeschmackes wird auf den Volksfesten, um einen groben, aber treffenden Vergleich Gottfried Kellers zu gebrauchen, groß gezogen, wie die Rübe im Mistbeet. Das A und O der „künstlerischen" Unterhaltung aus Volksfesten ist der Tingeltangel, d. h. eine Ausstellung von unverhüllten oder indezent verhüllten Nacktheiten, eine Absingung von zweideutigen Liedern, die die Klippe der polizeilichen Zensur hart umschiffen, und von albernen, jedes gesunden Humors entbehrenden Gassenhauern. Das Ausländische spielt auch hier eine lächerliche Rolle; denn der Gesang französischer und besonders englischer Lieder bildet schon lange eines der feinsten Anziehuugsmittel derartiger Unternehmungen, wobei dann das abenteuerliche Kostüm und eine entsprechende Gestikulation dem Hörer das mangelnde Verständnis ersetzen muß. Zur Abwechslung aber im Programm sorgen die unvermeidlichen Kraft- und Schlangenmenschen beider Geschlechter, wenn nicht ein dressirter Ochse oder Esel dem Menschen Konkurrenz macht. Es ist dies eines der traurigsten und widerlichsten Kapitel in der Geschichte unsers neuesten Volkslebens. Wenn man bedenkt, daß sich die Zahl dieser „Künstler" auf Tausende beläuft, daß sie in einer internatio¬ nalen Vereinigung organisirt sind und über ein Fachblatt verfügen, in denen neben der in Paris ausgebildeten Kostümsoubrette mit zweiunddreißig nagel- neuen Garderoben der Athlet, der ein Pferd hebt, „Engagement" sucht, und daß diese „Künstler" Honorare beziehen, um die sie mancher gefeierte Schauspieler beneiden muß, dann darf man wahrlich sagen, daß wir es in unserm neun¬ zehnten Jahrhundert herrlich weit gebracht haben. Der Abbruch, den die Ver¬ anstaltungen dieser künstlerischen „Crome" dem Theater machen, wird noch lange nicht hoch genug angeschlagen, und Kenner der Verhältnisse werden den Über¬ mut dieser „Artisten" wenigstens begreiflich finden, wenn sie sich, wie es ge¬ schehen ist, dem Schauspieler und Opernsänger ebenbürtig zur Seite stellen. Der Volksgunst sind sie mindestens ebenso gewiß wie diese; der Kreis ihrer Bewundrer ist sogar noch größer und dankbarer. Es ist schwer zu verstehen, wie es unser:« Behörden möglich gewesen ist, .die Gefahr für den Bestand der geistigen und sittlichen Bildung zu verkennen, die aus dem raschen Anwachsen des Artisten- und Spezialitätentums drohte und nun da ist, in vollster zer¬ störender Wirksamkeit, und es kann der Wunsch nicht laut genug ausgesprochen werden, hier die dringend notwendige Abhilfe eintreten zu lasten, und zwar zunächst durch rücksichtslose Einschränkung der Konzessionen. Hier gebieten höhere Rücksichten. Auf unsern Volksfesten wird in dieser Richtung am meisten gesündigt. In diese schreienden Mißstände fällt nun der Vorschlag der Münchner Gesellschaft für modernes Leben wie ein Sonnenstrahl aus bewölktem, düsterm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/427>, abgerufen am 26.08.2024.