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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wilhelm Zeusen

doch naiv gemeinte Thorheiten und Unvorsichtigkeiten, ja Zudringlichkeiten
begehen läßt, die, wie wir wenigstens meinen, über das Ziel hinausschießen,
und von denen wohl selbst die unschuldigste zwölfjährige Kindlichkeit durch
ein unbewußtes Gefühl abgehalten wird. Das Reinste und Schönste in diesem
Typus hat Jensei? in dem fast vergessenen epischen Gedichte "Die Insel" ge¬
schaffen, vielleicht dem poetischsten seiner Werke, das z. V., wie wir uns er¬
innern, Theodor Fontane unter den wenigen Büchern aufführte, die er nannte,
als vor ein paar Jahren die unnützen Fragebogen nach den "hundert besten
Büchern" umliefen. Was der Dichter in der "Insel" erzählt, ist, stofflich
verwandt, doch hundertmal schöner als die Paradiesesgeschichte des alten
Testaments und mit der ganzen Feinheit seiner psychologischen Meisterschaft
und mit aller nur denkbaren Keuschheit und Reinheit durchgeführt. Und auch
sonst noch manchmal -- wenn man auch die Figuren, die zu viel beweisen
wollen, abzieht -- sind ihm verwandte, wir möchten sagen Psychegestalten
wohlgelungen. Was wir nun aber gar nicht lieben, was störend und
Peinlich berührt, das ist das dritte, das sich bei ihm findet: die hie und da
gerade in jüngern Werken vorkommenden, gar nicht oder aufs notdürftigste
motivirten Episödchen, die durchaus nicht sinnlich gemeint sind, aber anch nicht
unschuldig wirken, diese überflüssigen Blicke wie durch die Thürspalte in das
Ankleidezimmer junger Mädchen ("Doppelleben"), diese öffentlichen Foltern
sittsamer junger Weiber vor grinsenden Richtern ("Minatkn") oder höchst ver¬
wunderlichen Anforderungen jugendlicher Stürmer und Dränger an junge
Damen, deren SeelcUgröße und gesellschaftliche Vorurteilslosigkeit damit angeb¬
lich gemessen werden soll ("Über die Wolken"). Hier steht der Leser zuweilen in
Gefahr, mit dem zuthulichem Onkel, dem dreisten Studenten oder dem lüsternen
Ketzerrichter den Verfassers selber zu verwechseln; diese Szenen haben etwas
Claurensches oder, um anch sie schließlich mit Gestaltungen der bildenden Kunst
in Parallele zu stellen, etwas von dem abgelebten Behagen, das den jungen
und alten Greisen des heutige:? Frankreichs die vierzehnjährigen Mädchen
Henners und andrer so hoch im Preise steigert. Man würde aber den? Dichter
großes Unrecht thun und ihn nur ganz oberflächlich kennen, wenn man dabei
an irgendwelche bewußte Absichtlichkeit von ihm dächte. Es ist alles nur all¬
mählich gewordene Manier, an der er.selbst keinen innern Anteil hat, lahme
Abfälle und Schnitzel des ersten, des sinnlichen oder Wucherungen des zweiten,
des Unschuldstypus, die er nicht streng kontrollirt, und denen gegenüber er
aus langsamer Gewöhnung nicht mehr mit so scharfer Grenze empfindet, wie
der ihn sonst verehrende Leser, der diese Gewöhnung eben nicht in allen ihren
Stadien und leichten Übergängen mitgemacht hat, und dem diese Dinge jedes¬
mal um der Dichtung selber willen leid thun. Vor allem kultivirt Imsen
diese Szenen nicht des Publikums wegen; im Gegenteil, er brauchte nur
zu erfahren, dergleichen sei inzwischen Modegeschmack geworden, so ließe


Wilhelm Zeusen

doch naiv gemeinte Thorheiten und Unvorsichtigkeiten, ja Zudringlichkeiten
begehen läßt, die, wie wir wenigstens meinen, über das Ziel hinausschießen,
und von denen wohl selbst die unschuldigste zwölfjährige Kindlichkeit durch
ein unbewußtes Gefühl abgehalten wird. Das Reinste und Schönste in diesem
Typus hat Jensei? in dem fast vergessenen epischen Gedichte „Die Insel" ge¬
schaffen, vielleicht dem poetischsten seiner Werke, das z. V., wie wir uns er¬
innern, Theodor Fontane unter den wenigen Büchern aufführte, die er nannte,
als vor ein paar Jahren die unnützen Fragebogen nach den „hundert besten
Büchern" umliefen. Was der Dichter in der „Insel" erzählt, ist, stofflich
verwandt, doch hundertmal schöner als die Paradiesesgeschichte des alten
Testaments und mit der ganzen Feinheit seiner psychologischen Meisterschaft
und mit aller nur denkbaren Keuschheit und Reinheit durchgeführt. Und auch
sonst noch manchmal — wenn man auch die Figuren, die zu viel beweisen
wollen, abzieht — sind ihm verwandte, wir möchten sagen Psychegestalten
wohlgelungen. Was wir nun aber gar nicht lieben, was störend und
Peinlich berührt, das ist das dritte, das sich bei ihm findet: die hie und da
gerade in jüngern Werken vorkommenden, gar nicht oder aufs notdürftigste
motivirten Episödchen, die durchaus nicht sinnlich gemeint sind, aber anch nicht
unschuldig wirken, diese überflüssigen Blicke wie durch die Thürspalte in das
Ankleidezimmer junger Mädchen („Doppelleben"), diese öffentlichen Foltern
sittsamer junger Weiber vor grinsenden Richtern („Minatkn") oder höchst ver¬
wunderlichen Anforderungen jugendlicher Stürmer und Dränger an junge
Damen, deren SeelcUgröße und gesellschaftliche Vorurteilslosigkeit damit angeb¬
lich gemessen werden soll („Über die Wolken"). Hier steht der Leser zuweilen in
Gefahr, mit dem zuthulichem Onkel, dem dreisten Studenten oder dem lüsternen
Ketzerrichter den Verfassers selber zu verwechseln; diese Szenen haben etwas
Claurensches oder, um anch sie schließlich mit Gestaltungen der bildenden Kunst
in Parallele zu stellen, etwas von dem abgelebten Behagen, das den jungen
und alten Greisen des heutige:? Frankreichs die vierzehnjährigen Mädchen
Henners und andrer so hoch im Preise steigert. Man würde aber den? Dichter
großes Unrecht thun und ihn nur ganz oberflächlich kennen, wenn man dabei
an irgendwelche bewußte Absichtlichkeit von ihm dächte. Es ist alles nur all¬
mählich gewordene Manier, an der er.selbst keinen innern Anteil hat, lahme
Abfälle und Schnitzel des ersten, des sinnlichen oder Wucherungen des zweiten,
des Unschuldstypus, die er nicht streng kontrollirt, und denen gegenüber er
aus langsamer Gewöhnung nicht mehr mit so scharfer Grenze empfindet, wie
der ihn sonst verehrende Leser, der diese Gewöhnung eben nicht in allen ihren
Stadien und leichten Übergängen mitgemacht hat, und dem diese Dinge jedes¬
mal um der Dichtung selber willen leid thun. Vor allem kultivirt Imsen
diese Szenen nicht des Publikums wegen; im Gegenteil, er brauchte nur
zu erfahren, dergleichen sei inzwischen Modegeschmack geworden, so ließe


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[0421] Wilhelm Zeusen doch naiv gemeinte Thorheiten und Unvorsichtigkeiten, ja Zudringlichkeiten begehen läßt, die, wie wir wenigstens meinen, über das Ziel hinausschießen, und von denen wohl selbst die unschuldigste zwölfjährige Kindlichkeit durch ein unbewußtes Gefühl abgehalten wird. Das Reinste und Schönste in diesem Typus hat Jensei? in dem fast vergessenen epischen Gedichte „Die Insel" ge¬ schaffen, vielleicht dem poetischsten seiner Werke, das z. V., wie wir uns er¬ innern, Theodor Fontane unter den wenigen Büchern aufführte, die er nannte, als vor ein paar Jahren die unnützen Fragebogen nach den „hundert besten Büchern" umliefen. Was der Dichter in der „Insel" erzählt, ist, stofflich verwandt, doch hundertmal schöner als die Paradiesesgeschichte des alten Testaments und mit der ganzen Feinheit seiner psychologischen Meisterschaft und mit aller nur denkbaren Keuschheit und Reinheit durchgeführt. Und auch sonst noch manchmal — wenn man auch die Figuren, die zu viel beweisen wollen, abzieht — sind ihm verwandte, wir möchten sagen Psychegestalten wohlgelungen. Was wir nun aber gar nicht lieben, was störend und Peinlich berührt, das ist das dritte, das sich bei ihm findet: die hie und da gerade in jüngern Werken vorkommenden, gar nicht oder aufs notdürftigste motivirten Episödchen, die durchaus nicht sinnlich gemeint sind, aber anch nicht unschuldig wirken, diese überflüssigen Blicke wie durch die Thürspalte in das Ankleidezimmer junger Mädchen („Doppelleben"), diese öffentlichen Foltern sittsamer junger Weiber vor grinsenden Richtern („Minatkn") oder höchst ver¬ wunderlichen Anforderungen jugendlicher Stürmer und Dränger an junge Damen, deren SeelcUgröße und gesellschaftliche Vorurteilslosigkeit damit angeb¬ lich gemessen werden soll („Über die Wolken"). Hier steht der Leser zuweilen in Gefahr, mit dem zuthulichem Onkel, dem dreisten Studenten oder dem lüsternen Ketzerrichter den Verfassers selber zu verwechseln; diese Szenen haben etwas Claurensches oder, um anch sie schließlich mit Gestaltungen der bildenden Kunst in Parallele zu stellen, etwas von dem abgelebten Behagen, das den jungen und alten Greisen des heutige:? Frankreichs die vierzehnjährigen Mädchen Henners und andrer so hoch im Preise steigert. Man würde aber den? Dichter großes Unrecht thun und ihn nur ganz oberflächlich kennen, wenn man dabei an irgendwelche bewußte Absichtlichkeit von ihm dächte. Es ist alles nur all¬ mählich gewordene Manier, an der er.selbst keinen innern Anteil hat, lahme Abfälle und Schnitzel des ersten, des sinnlichen oder Wucherungen des zweiten, des Unschuldstypus, die er nicht streng kontrollirt, und denen gegenüber er aus langsamer Gewöhnung nicht mehr mit so scharfer Grenze empfindet, wie der ihn sonst verehrende Leser, der diese Gewöhnung eben nicht in allen ihren Stadien und leichten Übergängen mitgemacht hat, und dem diese Dinge jedes¬ mal um der Dichtung selber willen leid thun. Vor allem kultivirt Imsen diese Szenen nicht des Publikums wegen; im Gegenteil, er brauchte nur zu erfahren, dergleichen sei inzwischen Modegeschmack geworden, so ließe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/421>, abgerufen am 26.08.2024.