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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Sprachgrenze in Lothringen

Reiche viel beigetragen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat
Lothringen gegenseitige Befreiung vom circle ä'^udg-ins vereinbart mit Öster¬
reich-Ungarn, mit Baiern, Kurpfalz. Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, mit
Kurköln und Kurtrier, mit den Bistümern Speier und Straßbnrg, mit den
Reichsstädten Hamburg, Frankfurt am Main, Nürnberg, Regensburg, Nörd-
lingen, Memmingen, Lindau, Dinkelsbühl, schwäbisch-Hall, Rottweil, Über¬
langen, mit Gengenbach u. s. w.; das deutet doch auf regen Verkehr hin. Man
hat auch in Lothringen stets die Vorteile erkannt, die die Kenntnis beider
Sprachen gewährte, so z. B. Verwendung in herzoglichen Diensten im d^Ma^g
ä'^IIsnTAMv. So war schon im sechzehnten Jahrhundert die Sitte des Kinder¬
tausches in Lothringen sehr verbreitet. In der Stündeversammlnng zu Nancy
1614 beschwerte sich die Geistlichkeit darüber, daß die Lothringer ihre Kinder,
damit sie deutsch lernten, auch in ketzerische Familien des Nachbarlandes
schickten. Wie kräftig übrigens das deutsche Bewußtsein an der Sprachscheide
noch im siebzehnten Jahrhundert war, beweist der Umstand, daß die Huge¬
notten, die aus Frankreich in die Reichsfürstentümer Pfalzburg und Lixheim,
in die Grafschaft Saarwerden und in die Freiherrschaft Finstingen gezogen
Ware", selbst da, wo sie Dorfschaften bildeten, alsbald die deutsche Sprache
annahmen und selbst ihre Namen verdeutschten. So wurde aus Vollion Voll-
juug, aus Vvron Wehrung, aus Achard Hascher, aus Benjamin Beschameng,
aus Claude Klvdt, aus Girard Schirra u. s. w. Im vorigen Jahrhundert,
als die Protestanten von Lixheim hart bedrängt wurden, wandten sie sich an
den König von Preußen als ihren natürlichen Schutzherrn. Ein großes Ver¬
dienst um Erhaltung der deutschen Sprache in Kirche und Schule hat sich
auch die katholische Geistlichkeit erworben. Frankreich hatte den Schulzwang
nie eingeführt; seit 1850 war zwar mit Nachdruck die Verbreitung des fran¬
zösischen Sprachunterrichts betrieben worden, aber in der Zeit von 1867 bis
1869 trat die katholische Geistlichkeit mit solcher Entschlossenheit gegen diese
Versuche zur Ausrottung der deutscheu Sprache auf, daß die Regierung, die
das Plebiscit vorbereitete, nachgab. Den Vorteil aus diesem Sachverhalte
haben wir 1870 vorgefunden, haben aber seitdem die Erfahrung gemacht, daß
man gegenüber dem deutschen Reiche mit seinem protestantischen Kaiser aus
nationalen und politischen Gründen auf dem Gebiete der Kirchensprache im
deutschen Sprachgebiete genau das Gegenteil dessen vertritt, was man aus
Gründen der Seelsorge gegenüber dem katholischen Napoleon vertrat, der doch
kein legitimer xismior üls as l'cMss war. Wer die Gründe der Erhaltung
der deutschen Sprache im Elsaß und in Lothringen eingehend darstellen will,
dem bieten die Flugschriften und Zeitungsartikel, die kurz vor dem Kriege er¬
schienen, eine Fülle lehrreicher Aufschlüsse. Die französische Sprache blieb die
herrschende; aber wie wurde französisch gesprochen? Daß mau sich in Frank¬
reich stets über die Elsüsser belustigte, ist ja bekannt, und es entstanden sogar


Die Sprachgrenze in Lothringen

Reiche viel beigetragen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat
Lothringen gegenseitige Befreiung vom circle ä'^udg-ins vereinbart mit Öster¬
reich-Ungarn, mit Baiern, Kurpfalz. Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, mit
Kurköln und Kurtrier, mit den Bistümern Speier und Straßbnrg, mit den
Reichsstädten Hamburg, Frankfurt am Main, Nürnberg, Regensburg, Nörd-
lingen, Memmingen, Lindau, Dinkelsbühl, schwäbisch-Hall, Rottweil, Über¬
langen, mit Gengenbach u. s. w.; das deutet doch auf regen Verkehr hin. Man
hat auch in Lothringen stets die Vorteile erkannt, die die Kenntnis beider
Sprachen gewährte, so z. B. Verwendung in herzoglichen Diensten im d^Ma^g
ä'^IIsnTAMv. So war schon im sechzehnten Jahrhundert die Sitte des Kinder¬
tausches in Lothringen sehr verbreitet. In der Stündeversammlnng zu Nancy
1614 beschwerte sich die Geistlichkeit darüber, daß die Lothringer ihre Kinder,
damit sie deutsch lernten, auch in ketzerische Familien des Nachbarlandes
schickten. Wie kräftig übrigens das deutsche Bewußtsein an der Sprachscheide
noch im siebzehnten Jahrhundert war, beweist der Umstand, daß die Huge¬
notten, die aus Frankreich in die Reichsfürstentümer Pfalzburg und Lixheim,
in die Grafschaft Saarwerden und in die Freiherrschaft Finstingen gezogen
Ware», selbst da, wo sie Dorfschaften bildeten, alsbald die deutsche Sprache
annahmen und selbst ihre Namen verdeutschten. So wurde aus Vollion Voll-
juug, aus Vvron Wehrung, aus Achard Hascher, aus Benjamin Beschameng,
aus Claude Klvdt, aus Girard Schirra u. s. w. Im vorigen Jahrhundert,
als die Protestanten von Lixheim hart bedrängt wurden, wandten sie sich an
den König von Preußen als ihren natürlichen Schutzherrn. Ein großes Ver¬
dienst um Erhaltung der deutschen Sprache in Kirche und Schule hat sich
auch die katholische Geistlichkeit erworben. Frankreich hatte den Schulzwang
nie eingeführt; seit 1850 war zwar mit Nachdruck die Verbreitung des fran¬
zösischen Sprachunterrichts betrieben worden, aber in der Zeit von 1867 bis
1869 trat die katholische Geistlichkeit mit solcher Entschlossenheit gegen diese
Versuche zur Ausrottung der deutscheu Sprache auf, daß die Regierung, die
das Plebiscit vorbereitete, nachgab. Den Vorteil aus diesem Sachverhalte
haben wir 1870 vorgefunden, haben aber seitdem die Erfahrung gemacht, daß
man gegenüber dem deutschen Reiche mit seinem protestantischen Kaiser aus
nationalen und politischen Gründen auf dem Gebiete der Kirchensprache im
deutschen Sprachgebiete genau das Gegenteil dessen vertritt, was man aus
Gründen der Seelsorge gegenüber dem katholischen Napoleon vertrat, der doch
kein legitimer xismior üls as l'cMss war. Wer die Gründe der Erhaltung
der deutschen Sprache im Elsaß und in Lothringen eingehend darstellen will,
dem bieten die Flugschriften und Zeitungsartikel, die kurz vor dem Kriege er¬
schienen, eine Fülle lehrreicher Aufschlüsse. Die französische Sprache blieb die
herrschende; aber wie wurde französisch gesprochen? Daß mau sich in Frank¬
reich stets über die Elsüsser belustigte, ist ja bekannt, und es entstanden sogar


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[0403] Die Sprachgrenze in Lothringen Reiche viel beigetragen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat Lothringen gegenseitige Befreiung vom circle ä'^udg-ins vereinbart mit Öster¬ reich-Ungarn, mit Baiern, Kurpfalz. Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, mit Kurköln und Kurtrier, mit den Bistümern Speier und Straßbnrg, mit den Reichsstädten Hamburg, Frankfurt am Main, Nürnberg, Regensburg, Nörd- lingen, Memmingen, Lindau, Dinkelsbühl, schwäbisch-Hall, Rottweil, Über¬ langen, mit Gengenbach u. s. w.; das deutet doch auf regen Verkehr hin. Man hat auch in Lothringen stets die Vorteile erkannt, die die Kenntnis beider Sprachen gewährte, so z. B. Verwendung in herzoglichen Diensten im d^Ma^g ä'^IIsnTAMv. So war schon im sechzehnten Jahrhundert die Sitte des Kinder¬ tausches in Lothringen sehr verbreitet. In der Stündeversammlnng zu Nancy 1614 beschwerte sich die Geistlichkeit darüber, daß die Lothringer ihre Kinder, damit sie deutsch lernten, auch in ketzerische Familien des Nachbarlandes schickten. Wie kräftig übrigens das deutsche Bewußtsein an der Sprachscheide noch im siebzehnten Jahrhundert war, beweist der Umstand, daß die Huge¬ notten, die aus Frankreich in die Reichsfürstentümer Pfalzburg und Lixheim, in die Grafschaft Saarwerden und in die Freiherrschaft Finstingen gezogen Ware», selbst da, wo sie Dorfschaften bildeten, alsbald die deutsche Sprache annahmen und selbst ihre Namen verdeutschten. So wurde aus Vollion Voll- juug, aus Vvron Wehrung, aus Achard Hascher, aus Benjamin Beschameng, aus Claude Klvdt, aus Girard Schirra u. s. w. Im vorigen Jahrhundert, als die Protestanten von Lixheim hart bedrängt wurden, wandten sie sich an den König von Preußen als ihren natürlichen Schutzherrn. Ein großes Ver¬ dienst um Erhaltung der deutschen Sprache in Kirche und Schule hat sich auch die katholische Geistlichkeit erworben. Frankreich hatte den Schulzwang nie eingeführt; seit 1850 war zwar mit Nachdruck die Verbreitung des fran¬ zösischen Sprachunterrichts betrieben worden, aber in der Zeit von 1867 bis 1869 trat die katholische Geistlichkeit mit solcher Entschlossenheit gegen diese Versuche zur Ausrottung der deutscheu Sprache auf, daß die Regierung, die das Plebiscit vorbereitete, nachgab. Den Vorteil aus diesem Sachverhalte haben wir 1870 vorgefunden, haben aber seitdem die Erfahrung gemacht, daß man gegenüber dem deutschen Reiche mit seinem protestantischen Kaiser aus nationalen und politischen Gründen auf dem Gebiete der Kirchensprache im deutschen Sprachgebiete genau das Gegenteil dessen vertritt, was man aus Gründen der Seelsorge gegenüber dem katholischen Napoleon vertrat, der doch kein legitimer xismior üls as l'cMss war. Wer die Gründe der Erhaltung der deutschen Sprache im Elsaß und in Lothringen eingehend darstellen will, dem bieten die Flugschriften und Zeitungsartikel, die kurz vor dem Kriege er¬ schienen, eine Fülle lehrreicher Aufschlüsse. Die französische Sprache blieb die herrschende; aber wie wurde französisch gesprochen? Daß mau sich in Frank¬ reich stets über die Elsüsser belustigte, ist ja bekannt, und es entstanden sogar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/403>, abgerufen am 26.08.2024.