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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Sprachgrenze in Lothringen

Beobachter zwei Fragen auf: Wie kommt es, daß Frankreich trotz der staat¬
lichen Machtmittel nicht mehr erreicht hat, und welche Lehre haben wir
daraus für die Gegenwart zu ziehen?

Auf die erste Frage müssen wir zunächst antworten, daß die Politik der
vergangnen Jahrhunderte keinen Wert auf die Sprachfragen legte. Man
dachte darüber etwa so, wie die Theologen des Mittelalters, die die Streit¬
frage, ob der echte Rock Christi aus einem Stück und ob er bunt oder ein¬
farbig gewesen sei, dahin entschieden: "Bunt mag der Rock gewesen sein, aber er
war ohne Naht." Der große Politiker Baco von Verulam hat sich in gleicher
Weise über die Frage geäußert, welcher Wert auf die Gleichmacherei bei der
Vereinigung von Schottland mit England zu legen sei: In vo8w varietas sit>
8el8so.rü, non 8it! Zur Zeit der mächtigen sächsischen Kaiser haben die deutscheu
Herrengeschlechtcr im Lande, die doch alle weltliche und geistliche Macht in
Händen hatten, im Gefühl ihrer Kraft diese Frage nachlässig behandelt. Was
lag auch daran, ob der Leibeigne, der unweigerlich ziuste oder frohndete und
dem Heerbanne folgte, deutsch oder welsch sprach? Die Herrengeschlechter selbst
aber sind allerdings dringend verdächtig, der sprachlichen Verwelschung ver¬
fallen zu sein, obgleich sie treu zum deutschen Reiche hielten. So müssen wir
uns die Thatsache erklären, daß sich durch die Beziehungen der Stadt Metz
zum Reiche zwar eine ansehnliche deutsche Einwanderung in Metz erhalten
hat, daß aber die alten herrschenden Familien schon im dreizehnten Jahrhundert
verwelscht waren, wie dies das Schicksal der Minderheiten ist. Wenn wir
daher durch unverdächtige Zeugen erfahren, daß in der Stadt Metz im sieb¬
zehnten Jahrhundert sust ebenso viel deutsch als französisch gesprochen wurde,
so dürfen wir dies nicht so auffassen, als ob dort seit Jahrhunderten ein von
welschen Fluten umbrcmdeter urwüchsiger Fels jedem Ansturm getrotzt Hütte,
sondern wir müssen uns dies durch eine unausgesetzte Einwanderung aus
Deutschland erklären, die in der That stattfand. Heutzutage ist ja ungefähr
ein ähnlicher Zustand erreicht; aber es fällt uns doch nicht ein, die "Metzer,"
die auf deutschen Schützen- oder Sängerfesten erscheinen, für Sprößlinge der
alten "Paraiges" zu halten. Wollte man annehmen, daß in Metz ursprünglich
deutsches Volk seßhaft gewesen sei, wie soll man sich dann die Thatsache
zurechtlegen, daß dieses deutsche Volk unter deutscher Herrschaft schon zu Be¬
ginn des dreizehnten Jahrhunderts größtenteils verwelscht war? Wie soll
sich auch gerade in Metz ein Rest deutscher Ureinwohner widerstandsfähiger
erwiesen haben, während doch in der nächste" Umgegend von Metz um 1200
die Volkssprache unzweifelhaft die französische war? Sonst lehrt doch die Er¬
fahrung, daß die Städte rascher verwelschen als das Land. Man findet zwar
im l^lois NöLLin unverkennbare Einwirkungen der deutschen Sprache (vergl.
H. Graf, Die germanischen Bestandteile des ?awi8 N688M im Jahrbuch der
Gesellschaft ster Lothringens Geschichte 1890); das sind aber nicht Reste einer


Grenze'vo, III 1891 50
Die Sprachgrenze in Lothringen

Beobachter zwei Fragen auf: Wie kommt es, daß Frankreich trotz der staat¬
lichen Machtmittel nicht mehr erreicht hat, und welche Lehre haben wir
daraus für die Gegenwart zu ziehen?

Auf die erste Frage müssen wir zunächst antworten, daß die Politik der
vergangnen Jahrhunderte keinen Wert auf die Sprachfragen legte. Man
dachte darüber etwa so, wie die Theologen des Mittelalters, die die Streit¬
frage, ob der echte Rock Christi aus einem Stück und ob er bunt oder ein¬
farbig gewesen sei, dahin entschieden: „Bunt mag der Rock gewesen sein, aber er
war ohne Naht." Der große Politiker Baco von Verulam hat sich in gleicher
Weise über die Frage geäußert, welcher Wert auf die Gleichmacherei bei der
Vereinigung von Schottland mit England zu legen sei: In vo8w varietas sit>
8el8so.rü, non 8it! Zur Zeit der mächtigen sächsischen Kaiser haben die deutscheu
Herrengeschlechtcr im Lande, die doch alle weltliche und geistliche Macht in
Händen hatten, im Gefühl ihrer Kraft diese Frage nachlässig behandelt. Was
lag auch daran, ob der Leibeigne, der unweigerlich ziuste oder frohndete und
dem Heerbanne folgte, deutsch oder welsch sprach? Die Herrengeschlechter selbst
aber sind allerdings dringend verdächtig, der sprachlichen Verwelschung ver¬
fallen zu sein, obgleich sie treu zum deutschen Reiche hielten. So müssen wir
uns die Thatsache erklären, daß sich durch die Beziehungen der Stadt Metz
zum Reiche zwar eine ansehnliche deutsche Einwanderung in Metz erhalten
hat, daß aber die alten herrschenden Familien schon im dreizehnten Jahrhundert
verwelscht waren, wie dies das Schicksal der Minderheiten ist. Wenn wir
daher durch unverdächtige Zeugen erfahren, daß in der Stadt Metz im sieb¬
zehnten Jahrhundert sust ebenso viel deutsch als französisch gesprochen wurde,
so dürfen wir dies nicht so auffassen, als ob dort seit Jahrhunderten ein von
welschen Fluten umbrcmdeter urwüchsiger Fels jedem Ansturm getrotzt Hütte,
sondern wir müssen uns dies durch eine unausgesetzte Einwanderung aus
Deutschland erklären, die in der That stattfand. Heutzutage ist ja ungefähr
ein ähnlicher Zustand erreicht; aber es fällt uns doch nicht ein, die „Metzer,"
die auf deutschen Schützen- oder Sängerfesten erscheinen, für Sprößlinge der
alten „Paraiges" zu halten. Wollte man annehmen, daß in Metz ursprünglich
deutsches Volk seßhaft gewesen sei, wie soll man sich dann die Thatsache
zurechtlegen, daß dieses deutsche Volk unter deutscher Herrschaft schon zu Be¬
ginn des dreizehnten Jahrhunderts größtenteils verwelscht war? Wie soll
sich auch gerade in Metz ein Rest deutscher Ureinwohner widerstandsfähiger
erwiesen haben, während doch in der nächste» Umgegend von Metz um 1200
die Volkssprache unzweifelhaft die französische war? Sonst lehrt doch die Er¬
fahrung, daß die Städte rascher verwelschen als das Land. Man findet zwar
im l^lois NöLLin unverkennbare Einwirkungen der deutschen Sprache (vergl.
H. Graf, Die germanischen Bestandteile des ?awi8 N688M im Jahrbuch der
Gesellschaft ster Lothringens Geschichte 1890); das sind aber nicht Reste einer


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[0401] Die Sprachgrenze in Lothringen Beobachter zwei Fragen auf: Wie kommt es, daß Frankreich trotz der staat¬ lichen Machtmittel nicht mehr erreicht hat, und welche Lehre haben wir daraus für die Gegenwart zu ziehen? Auf die erste Frage müssen wir zunächst antworten, daß die Politik der vergangnen Jahrhunderte keinen Wert auf die Sprachfragen legte. Man dachte darüber etwa so, wie die Theologen des Mittelalters, die die Streit¬ frage, ob der echte Rock Christi aus einem Stück und ob er bunt oder ein¬ farbig gewesen sei, dahin entschieden: „Bunt mag der Rock gewesen sein, aber er war ohne Naht." Der große Politiker Baco von Verulam hat sich in gleicher Weise über die Frage geäußert, welcher Wert auf die Gleichmacherei bei der Vereinigung von Schottland mit England zu legen sei: In vo8w varietas sit> 8el8so.rü, non 8it! Zur Zeit der mächtigen sächsischen Kaiser haben die deutscheu Herrengeschlechtcr im Lande, die doch alle weltliche und geistliche Macht in Händen hatten, im Gefühl ihrer Kraft diese Frage nachlässig behandelt. Was lag auch daran, ob der Leibeigne, der unweigerlich ziuste oder frohndete und dem Heerbanne folgte, deutsch oder welsch sprach? Die Herrengeschlechter selbst aber sind allerdings dringend verdächtig, der sprachlichen Verwelschung ver¬ fallen zu sein, obgleich sie treu zum deutschen Reiche hielten. So müssen wir uns die Thatsache erklären, daß sich durch die Beziehungen der Stadt Metz zum Reiche zwar eine ansehnliche deutsche Einwanderung in Metz erhalten hat, daß aber die alten herrschenden Familien schon im dreizehnten Jahrhundert verwelscht waren, wie dies das Schicksal der Minderheiten ist. Wenn wir daher durch unverdächtige Zeugen erfahren, daß in der Stadt Metz im sieb¬ zehnten Jahrhundert sust ebenso viel deutsch als französisch gesprochen wurde, so dürfen wir dies nicht so auffassen, als ob dort seit Jahrhunderten ein von welschen Fluten umbrcmdeter urwüchsiger Fels jedem Ansturm getrotzt Hütte, sondern wir müssen uns dies durch eine unausgesetzte Einwanderung aus Deutschland erklären, die in der That stattfand. Heutzutage ist ja ungefähr ein ähnlicher Zustand erreicht; aber es fällt uns doch nicht ein, die „Metzer," die auf deutschen Schützen- oder Sängerfesten erscheinen, für Sprößlinge der alten „Paraiges" zu halten. Wollte man annehmen, daß in Metz ursprünglich deutsches Volk seßhaft gewesen sei, wie soll man sich dann die Thatsache zurechtlegen, daß dieses deutsche Volk unter deutscher Herrschaft schon zu Be¬ ginn des dreizehnten Jahrhunderts größtenteils verwelscht war? Wie soll sich auch gerade in Metz ein Rest deutscher Ureinwohner widerstandsfähiger erwiesen haben, während doch in der nächste» Umgegend von Metz um 1200 die Volkssprache unzweifelhaft die französische war? Sonst lehrt doch die Er¬ fahrung, daß die Städte rascher verwelschen als das Land. Man findet zwar im l^lois NöLLin unverkennbare Einwirkungen der deutschen Sprache (vergl. H. Graf, Die germanischen Bestandteile des ?awi8 N688M im Jahrbuch der Gesellschaft ster Lothringens Geschichte 1890); das sind aber nicht Reste einer Grenze'vo, III 1891 50

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/401>, abgerufen am 26.08.2024.