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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zu^ politischen Lage

bleibt doch die wichtige Thatsache, daß für gewisse Fälle eine feste Verstän¬
digung zwischen beiden Mächten erzielt worden ist, und es ist eigentlich ein müßiger
Streit, ob darüber ein formelles Vertragsinstrnmeut aufgesetzt worden ist, oder
ob man sich mit einem Protokoll begnügt hat. Der Schwerpunkt fällt auf
die Thatsache, daß Zar Alexander III. ans seiner Reserve hervorgetreten ist,
daß er sein Haupt gebeugt hat vor den französischen Idolen, und daß nun¬
mehr vor aller Welt kundig ist, daß die orthodoxe Autokratie und die radi¬
kale, religionslose Republik einander die Hand zum Bunde gereicht habe".
Jedenfalls entspricht diese Verbindung nicht dem, was man eine Vernunftehe
nennt, auch nicht einer Heirat aus Liebe. Sie haben sich gefunden im Haß
gegen eine" dritten, und aus den stürmischen Erklärungen gegenseitiger Zu¬
neigung hört das schärfere Ohr die Drohungen durch, die vor allem gegen
Deutschland gerichtet sind. Die merkwürdige Thatsache, daß das Sturmlied
der Revolution gegen die Throne und gegen das Selbstbestimmungsrecht der
andern Völker, daß die Marseillaise in Nußland hoffähig geworden ist, wird
sich in ihren Folgen freilich nicht über Nacht mit Händen greifen lassen. Aber
überaus denkwürdig ist es doch, daß jenes Lied, das bisher in Rußland als
der Inbegriff politischer Verruchtheit galt, plötzlich harmlos erscheint, weil
man es in einem Sinne auslegt, daß die Drohungen sich nur gegen uns
richten, fast gleich bedeutsam wie die andre Thatsache, daß sich Katholizismus
und russisches Kirchentum bei diesem Anlasse den Bruderkuß gaben.

Wir stehen damit einer Erscheinung gegenüber, die noch einer besondern
Erläuterung bedarf. Seit etwa einem Jahre hat sich im Vatikan eine poli¬
tische Schwenkung vollzogen, die je länger je mehr zu einer politischen Ge¬
fahr anzuwachsen droht. Die vom Kardinal Nampolla geführte Politik des
päpstlichen Stuhles hat eine so entschieden franzosenfreundliche Richtung ein¬
geschlagen, daß man hente ohne Übertreibung sagen kann, sie vertrete unter
allen Umständen die französischen Interessen. Das erste Anzeichen dieser Ge¬
sinnung war der von der Kurie Rußland gegenüber angetretene Rückzug. In Rom
hat man für die Klagen der von der russisch-griechischen Kirche mißhandelten
Litauer, Polen, Nuthenen und Kleinrussen heute kein Ohr mehr, obgleich
gerade in den letzten Monaten in empörendster Weise gewaltsame Bekehrungen
erzwungen worden sind. Die Leidensgeschichte der unirten Griechen schreit
hente gen Himmel, aber der Notrnf prallt ab von den Mauern des Vatikans,
und man findet es kaum noch notwendig, hin und wieder den Bedrängten und
Verzweifelnden ein beschwichtigendes Wort zuzurufen. Hand in Hand damit
ging die Verleugnung der monarchischen Elemente in Frankreich und die dnrch
den Kardinal Lavigerie mit so viel Lärm in Szene gesetzte Aussöhnung mit
der französischen Republik. Die Rückberufung der italienischen Kapuziner aus
Tunis war ein weiterer Schachzug in diesem Spiele, und dem Ganzen wurde
die Krone aufgesetzt durch das Verhalten der Kurie in der Bethlehemfrage,


Zu^ politischen Lage

bleibt doch die wichtige Thatsache, daß für gewisse Fälle eine feste Verstän¬
digung zwischen beiden Mächten erzielt worden ist, und es ist eigentlich ein müßiger
Streit, ob darüber ein formelles Vertragsinstrnmeut aufgesetzt worden ist, oder
ob man sich mit einem Protokoll begnügt hat. Der Schwerpunkt fällt auf
die Thatsache, daß Zar Alexander III. ans seiner Reserve hervorgetreten ist,
daß er sein Haupt gebeugt hat vor den französischen Idolen, und daß nun¬
mehr vor aller Welt kundig ist, daß die orthodoxe Autokratie und die radi¬
kale, religionslose Republik einander die Hand zum Bunde gereicht habe».
Jedenfalls entspricht diese Verbindung nicht dem, was man eine Vernunftehe
nennt, auch nicht einer Heirat aus Liebe. Sie haben sich gefunden im Haß
gegen eine» dritten, und aus den stürmischen Erklärungen gegenseitiger Zu¬
neigung hört das schärfere Ohr die Drohungen durch, die vor allem gegen
Deutschland gerichtet sind. Die merkwürdige Thatsache, daß das Sturmlied
der Revolution gegen die Throne und gegen das Selbstbestimmungsrecht der
andern Völker, daß die Marseillaise in Nußland hoffähig geworden ist, wird
sich in ihren Folgen freilich nicht über Nacht mit Händen greifen lassen. Aber
überaus denkwürdig ist es doch, daß jenes Lied, das bisher in Rußland als
der Inbegriff politischer Verruchtheit galt, plötzlich harmlos erscheint, weil
man es in einem Sinne auslegt, daß die Drohungen sich nur gegen uns
richten, fast gleich bedeutsam wie die andre Thatsache, daß sich Katholizismus
und russisches Kirchentum bei diesem Anlasse den Bruderkuß gaben.

Wir stehen damit einer Erscheinung gegenüber, die noch einer besondern
Erläuterung bedarf. Seit etwa einem Jahre hat sich im Vatikan eine poli¬
tische Schwenkung vollzogen, die je länger je mehr zu einer politischen Ge¬
fahr anzuwachsen droht. Die vom Kardinal Nampolla geführte Politik des
päpstlichen Stuhles hat eine so entschieden franzosenfreundliche Richtung ein¬
geschlagen, daß man hente ohne Übertreibung sagen kann, sie vertrete unter
allen Umständen die französischen Interessen. Das erste Anzeichen dieser Ge¬
sinnung war der von der Kurie Rußland gegenüber angetretene Rückzug. In Rom
hat man für die Klagen der von der russisch-griechischen Kirche mißhandelten
Litauer, Polen, Nuthenen und Kleinrussen heute kein Ohr mehr, obgleich
gerade in den letzten Monaten in empörendster Weise gewaltsame Bekehrungen
erzwungen worden sind. Die Leidensgeschichte der unirten Griechen schreit
hente gen Himmel, aber der Notrnf prallt ab von den Mauern des Vatikans,
und man findet es kaum noch notwendig, hin und wieder den Bedrängten und
Verzweifelnden ein beschwichtigendes Wort zuzurufen. Hand in Hand damit
ging die Verleugnung der monarchischen Elemente in Frankreich und die dnrch
den Kardinal Lavigerie mit so viel Lärm in Szene gesetzte Aussöhnung mit
der französischen Republik. Die Rückberufung der italienischen Kapuziner aus
Tunis war ein weiterer Schachzug in diesem Spiele, und dem Ganzen wurde
die Krone aufgesetzt durch das Verhalten der Kurie in der Bethlehemfrage,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/390>, abgerufen am 26.08.2024.