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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zur politischen Lage

aß eine Zeitschrift wie die Grenzboten inmitten des aufgeregten
Treibens unsrer politischen Zeitungskannegicßerei einmal über
Politik schweigt und die Aufmerksamkeit ihrer Leser den sittlichen,
sozialen, wissenschaftlichen und künstlerischen Problemen der
Gegenwart zuzuwenden bemüht ist, gehört zu den journalistischen
Erscheinungen, über die sich gewiß jeder ernste Beobachter freut. Das alte
Wort "Politik macht schlecht" hat seinen tiefen Sinn und trifft nicht nur die,
die Politik machen, sondern noch weit mehr die, die Politik schwatzen. Denn
in der That, giebt es etwas leichtfertigeres als die Art und Weise, wie das große
Weltdrama kommeutirt und zurechtgestutzt wird nach den Bedürfnissen des
Tages und nach dem Kitzel der Stunde, nach dem Schlagwort der Parteien
und nach den Leidenschaften und Instinkten aufgeregter Völker? Uns ist kaum
erinnerlich, daß politisch je so viel gelogen worden würe wie in den letzten
Wochen, und wenn sich sonst die hö-isou mores bescheiden damit begnügte, die
altbekannten Sommerenten wieder auffliegen zu lassen, hat diesmal die nichts
weniger als tote Zeit, die hinter uns liegt, eine Summe politischer Erfindungen
und Entstellungen in Umlauf gesetzt, von denen jede einzelne eine Haupt- und
Staatsaktion in sich zu schließen schien.

Da ist es vielleicht nützlich, einmal zurückzublicken und zusammenzufassen,
was wirklich Thatsache geworden ist. Wir beginnen mit der Erneuerung des
Dreibundes. Wer sich erinnert, mit welcher Sicherheit von russischer und
von französischer Seite der Zerfall des großen Friedensbundes angekündigt
wurde, wie eifrig man bestrebt war, hier Osterreich, dort Italien von Deutsch¬
land zu trennen, wird die Bedeutung dieses Zusammenschlusses würdigen. Er
bürgt uns dafür, daß Herr von Caprivi bemüht ist, die bewährten Bahnen
weiter zu verfolgen, die Fürst Vismarck gewiesen hat, und ist zugleich ein
Zeichen, daß die äußere Gefahr, die diesen Bund ins Leben rief, fortdauert.
Denn undenkbar wäre es, daß die verbündeten Nationen die ungeheure Last
ihrer militärischen Ausrüstung willig weiter trügen, wenn es nicht darauf
ankäme, einem größern Übel zu entgehen. Nicht gegen ein Schemen, sondern
gegen eine wirklich vorhandene, die politische Selbständigkeit, die Freiheit und
die Kultur bedrohende Gefahr hat sich Mitteleuropa zusammengeschlossen, und




Zur politischen Lage

aß eine Zeitschrift wie die Grenzboten inmitten des aufgeregten
Treibens unsrer politischen Zeitungskannegicßerei einmal über
Politik schweigt und die Aufmerksamkeit ihrer Leser den sittlichen,
sozialen, wissenschaftlichen und künstlerischen Problemen der
Gegenwart zuzuwenden bemüht ist, gehört zu den journalistischen
Erscheinungen, über die sich gewiß jeder ernste Beobachter freut. Das alte
Wort „Politik macht schlecht" hat seinen tiefen Sinn und trifft nicht nur die,
die Politik machen, sondern noch weit mehr die, die Politik schwatzen. Denn
in der That, giebt es etwas leichtfertigeres als die Art und Weise, wie das große
Weltdrama kommeutirt und zurechtgestutzt wird nach den Bedürfnissen des
Tages und nach dem Kitzel der Stunde, nach dem Schlagwort der Parteien
und nach den Leidenschaften und Instinkten aufgeregter Völker? Uns ist kaum
erinnerlich, daß politisch je so viel gelogen worden würe wie in den letzten
Wochen, und wenn sich sonst die hö-isou mores bescheiden damit begnügte, die
altbekannten Sommerenten wieder auffliegen zu lassen, hat diesmal die nichts
weniger als tote Zeit, die hinter uns liegt, eine Summe politischer Erfindungen
und Entstellungen in Umlauf gesetzt, von denen jede einzelne eine Haupt- und
Staatsaktion in sich zu schließen schien.

Da ist es vielleicht nützlich, einmal zurückzublicken und zusammenzufassen,
was wirklich Thatsache geworden ist. Wir beginnen mit der Erneuerung des
Dreibundes. Wer sich erinnert, mit welcher Sicherheit von russischer und
von französischer Seite der Zerfall des großen Friedensbundes angekündigt
wurde, wie eifrig man bestrebt war, hier Osterreich, dort Italien von Deutsch¬
land zu trennen, wird die Bedeutung dieses Zusammenschlusses würdigen. Er
bürgt uns dafür, daß Herr von Caprivi bemüht ist, die bewährten Bahnen
weiter zu verfolgen, die Fürst Vismarck gewiesen hat, und ist zugleich ein
Zeichen, daß die äußere Gefahr, die diesen Bund ins Leben rief, fortdauert.
Denn undenkbar wäre es, daß die verbündeten Nationen die ungeheure Last
ihrer militärischen Ausrüstung willig weiter trügen, wenn es nicht darauf
ankäme, einem größern Übel zu entgehen. Nicht gegen ein Schemen, sondern
gegen eine wirklich vorhandene, die politische Selbständigkeit, die Freiheit und
die Kultur bedrohende Gefahr hat sich Mitteleuropa zusammengeschlossen, und


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[0388] [Abbildung] Zur politischen Lage aß eine Zeitschrift wie die Grenzboten inmitten des aufgeregten Treibens unsrer politischen Zeitungskannegicßerei einmal über Politik schweigt und die Aufmerksamkeit ihrer Leser den sittlichen, sozialen, wissenschaftlichen und künstlerischen Problemen der Gegenwart zuzuwenden bemüht ist, gehört zu den journalistischen Erscheinungen, über die sich gewiß jeder ernste Beobachter freut. Das alte Wort „Politik macht schlecht" hat seinen tiefen Sinn und trifft nicht nur die, die Politik machen, sondern noch weit mehr die, die Politik schwatzen. Denn in der That, giebt es etwas leichtfertigeres als die Art und Weise, wie das große Weltdrama kommeutirt und zurechtgestutzt wird nach den Bedürfnissen des Tages und nach dem Kitzel der Stunde, nach dem Schlagwort der Parteien und nach den Leidenschaften und Instinkten aufgeregter Völker? Uns ist kaum erinnerlich, daß politisch je so viel gelogen worden würe wie in den letzten Wochen, und wenn sich sonst die hö-isou mores bescheiden damit begnügte, die altbekannten Sommerenten wieder auffliegen zu lassen, hat diesmal die nichts weniger als tote Zeit, die hinter uns liegt, eine Summe politischer Erfindungen und Entstellungen in Umlauf gesetzt, von denen jede einzelne eine Haupt- und Staatsaktion in sich zu schließen schien. Da ist es vielleicht nützlich, einmal zurückzublicken und zusammenzufassen, was wirklich Thatsache geworden ist. Wir beginnen mit der Erneuerung des Dreibundes. Wer sich erinnert, mit welcher Sicherheit von russischer und von französischer Seite der Zerfall des großen Friedensbundes angekündigt wurde, wie eifrig man bestrebt war, hier Osterreich, dort Italien von Deutsch¬ land zu trennen, wird die Bedeutung dieses Zusammenschlusses würdigen. Er bürgt uns dafür, daß Herr von Caprivi bemüht ist, die bewährten Bahnen weiter zu verfolgen, die Fürst Vismarck gewiesen hat, und ist zugleich ein Zeichen, daß die äußere Gefahr, die diesen Bund ins Leben rief, fortdauert. Denn undenkbar wäre es, daß die verbündeten Nationen die ungeheure Last ihrer militärischen Ausrüstung willig weiter trügen, wenn es nicht darauf ankäme, einem größern Übel zu entgehen. Nicht gegen ein Schemen, sondern gegen eine wirklich vorhandene, die politische Selbständigkeit, die Freiheit und die Kultur bedrohende Gefahr hat sich Mitteleuropa zusammengeschlossen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/388>, abgerufen am 13.11.2024.