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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Das Naumburger Airschfest

Naumburg und den Ursprung des Naumburgischen Kirschfestes," worin er
mit wuchtigen Keulenschlägen die ganze erlogne Herrlichkeit des litterarischen
Taschenspielers zertrümmerte. Er that ihm nicht die unverdiente Ehre an,
alle abenteuerlichen Erfindungen im einzelnen zurückzuweisen, sondern begnügte
sich damit, die Verlogenheit seiner Schrift an einigen Stichproben zu zeigen,
um dann statt der abgeschmackten Fabeleien das mitzuteilen, was sich aus
sicherm und zuverlässigen Quellen über das Kirschfest ergründen ließ. Er war
der erste, der eine solche Arbeit unternahm, und ihm verdanken wir auch den
Hinweis auf die ungedruckte Eylenbergersche Chronik, nach der eine Rettung
der Stadt Naumburg durch Kinderfürbitten im sächsischen Bruderkriege statt¬
gefunden hat. Die Ergebnisse der Lepsiusschen Forschungen stehen noch heilte
unerschüttert, sie sind durch die wenigen neuern Untersuchungen über den
Gegenstand in allen Hauptpunkten nur bestätigt worden.

Nachdem Lepsius Schrift bekannt geworden war, spaltete sich Naumburg
in zwei Parteien, Hie Wels, hie Waldung hieß es. Große Erregung be¬
mächtigte sich der Gemüter, als die schönen Irrtümer, denen man fast drei
Jahrzehnte lang gehuldigt hatte, so erbarmungslos in ihrer Nichtigkeit auf¬
gedeckt wurden. Der gebildetere und urteilsfähige Teil der Bürgerschaft über¬
zeugte sich, wenn anch mit schwerem Herzen, von der UnHaltbarkeit der
Prokopsage und trat auf Lepsius Seite. Der Kleinbürger und das Volk aber
war entrüstet über den Angriff auf das geheiligte Kirschfest und hielt nun
erst recht zu Rand und seinen Märchen. Kaum dreißig Jahre hatten genügt,
die Prokopsage den Naumburgern in suvonrn. et, smiguinem zu führen, und
die achtzig Jahre seit Lepsius Auftreten sind noch nicht imstande gewesen, der
geschichtlichen Wahrheit volle Geltung zu verschaffen. Ein Einwohner Naum-
burgs gab 1818 die Ncmhsche .Schwachheit über die Stärke" aufs neue heraus,
und ein einfacher Straßenfeger ließ 1885 in unverändertem Abklatsch aber¬
mals 500 Exemplare davon drucken, die schon wieder bis aufs letzte Stück
vergriffen sind. So hat der Trug leider abermals frische Nahrung bekommen,
und wenn auch die Abhandlung von Lepsius zweimal neu aufgelegt worden ist
(1851 und 1854), so giebt es doch immer noch Bürger in Naumburg, die
sich lieber ein Loch ins Knie bohren ließen, als daß sie auch nnr ein i-Tüpfchen
von Ranhs Lügengespinst preisgaben. Besonders heftig tobte der Kampf
zwischen beiden Parteien bei dem Kirschfest 1832, als die vermeintliche vier¬
hundertjährige Jubelfeier des Ereignisses begangen werden sollte. Die Refe¬
rendare, die von Anfang an mit Lepsius gegangen waren, hatten damals über
ihrem Zelt eine Karikatur anbringen lassen: Prokop in preußischer Leutnants¬
uniform teilt auf der Vogelwiese Kirschen an ein paar Kinder aus. Gleich¬
zeitig wurde von ihnen ein Bilderbogen mit ähnlichen Karikaturen ausgegeben,
auf dem sich zum erstenmale das Spottlied ,,Die Hussiten zogen vor Naum¬
burg" befand. Der Verfasser war der damalige Referendar Karl Seyffert


Das Naumburger Airschfest

Naumburg und den Ursprung des Naumburgischen Kirschfestes," worin er
mit wuchtigen Keulenschlägen die ganze erlogne Herrlichkeit des litterarischen
Taschenspielers zertrümmerte. Er that ihm nicht die unverdiente Ehre an,
alle abenteuerlichen Erfindungen im einzelnen zurückzuweisen, sondern begnügte
sich damit, die Verlogenheit seiner Schrift an einigen Stichproben zu zeigen,
um dann statt der abgeschmackten Fabeleien das mitzuteilen, was sich aus
sicherm und zuverlässigen Quellen über das Kirschfest ergründen ließ. Er war
der erste, der eine solche Arbeit unternahm, und ihm verdanken wir auch den
Hinweis auf die ungedruckte Eylenbergersche Chronik, nach der eine Rettung
der Stadt Naumburg durch Kinderfürbitten im sächsischen Bruderkriege statt¬
gefunden hat. Die Ergebnisse der Lepsiusschen Forschungen stehen noch heilte
unerschüttert, sie sind durch die wenigen neuern Untersuchungen über den
Gegenstand in allen Hauptpunkten nur bestätigt worden.

Nachdem Lepsius Schrift bekannt geworden war, spaltete sich Naumburg
in zwei Parteien, Hie Wels, hie Waldung hieß es. Große Erregung be¬
mächtigte sich der Gemüter, als die schönen Irrtümer, denen man fast drei
Jahrzehnte lang gehuldigt hatte, so erbarmungslos in ihrer Nichtigkeit auf¬
gedeckt wurden. Der gebildetere und urteilsfähige Teil der Bürgerschaft über¬
zeugte sich, wenn anch mit schwerem Herzen, von der UnHaltbarkeit der
Prokopsage und trat auf Lepsius Seite. Der Kleinbürger und das Volk aber
war entrüstet über den Angriff auf das geheiligte Kirschfest und hielt nun
erst recht zu Rand und seinen Märchen. Kaum dreißig Jahre hatten genügt,
die Prokopsage den Naumburgern in suvonrn. et, smiguinem zu führen, und
die achtzig Jahre seit Lepsius Auftreten sind noch nicht imstande gewesen, der
geschichtlichen Wahrheit volle Geltung zu verschaffen. Ein Einwohner Naum-
burgs gab 1818 die Ncmhsche .Schwachheit über die Stärke" aufs neue heraus,
und ein einfacher Straßenfeger ließ 1885 in unverändertem Abklatsch aber¬
mals 500 Exemplare davon drucken, die schon wieder bis aufs letzte Stück
vergriffen sind. So hat der Trug leider abermals frische Nahrung bekommen,
und wenn auch die Abhandlung von Lepsius zweimal neu aufgelegt worden ist
(1851 und 1854), so giebt es doch immer noch Bürger in Naumburg, die
sich lieber ein Loch ins Knie bohren ließen, als daß sie auch nnr ein i-Tüpfchen
von Ranhs Lügengespinst preisgaben. Besonders heftig tobte der Kampf
zwischen beiden Parteien bei dem Kirschfest 1832, als die vermeintliche vier¬
hundertjährige Jubelfeier des Ereignisses begangen werden sollte. Die Refe¬
rendare, die von Anfang an mit Lepsius gegangen waren, hatten damals über
ihrem Zelt eine Karikatur anbringen lassen: Prokop in preußischer Leutnants¬
uniform teilt auf der Vogelwiese Kirschen an ein paar Kinder aus. Gleich¬
zeitig wurde von ihnen ein Bilderbogen mit ähnlichen Karikaturen ausgegeben,
auf dem sich zum erstenmale das Spottlied ,,Die Hussiten zogen vor Naum¬
burg" befand. Der Verfasser war der damalige Referendar Karl Seyffert


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[0386] Das Naumburger Airschfest Naumburg und den Ursprung des Naumburgischen Kirschfestes," worin er mit wuchtigen Keulenschlägen die ganze erlogne Herrlichkeit des litterarischen Taschenspielers zertrümmerte. Er that ihm nicht die unverdiente Ehre an, alle abenteuerlichen Erfindungen im einzelnen zurückzuweisen, sondern begnügte sich damit, die Verlogenheit seiner Schrift an einigen Stichproben zu zeigen, um dann statt der abgeschmackten Fabeleien das mitzuteilen, was sich aus sicherm und zuverlässigen Quellen über das Kirschfest ergründen ließ. Er war der erste, der eine solche Arbeit unternahm, und ihm verdanken wir auch den Hinweis auf die ungedruckte Eylenbergersche Chronik, nach der eine Rettung der Stadt Naumburg durch Kinderfürbitten im sächsischen Bruderkriege statt¬ gefunden hat. Die Ergebnisse der Lepsiusschen Forschungen stehen noch heilte unerschüttert, sie sind durch die wenigen neuern Untersuchungen über den Gegenstand in allen Hauptpunkten nur bestätigt worden. Nachdem Lepsius Schrift bekannt geworden war, spaltete sich Naumburg in zwei Parteien, Hie Wels, hie Waldung hieß es. Große Erregung be¬ mächtigte sich der Gemüter, als die schönen Irrtümer, denen man fast drei Jahrzehnte lang gehuldigt hatte, so erbarmungslos in ihrer Nichtigkeit auf¬ gedeckt wurden. Der gebildetere und urteilsfähige Teil der Bürgerschaft über¬ zeugte sich, wenn anch mit schwerem Herzen, von der UnHaltbarkeit der Prokopsage und trat auf Lepsius Seite. Der Kleinbürger und das Volk aber war entrüstet über den Angriff auf das geheiligte Kirschfest und hielt nun erst recht zu Rand und seinen Märchen. Kaum dreißig Jahre hatten genügt, die Prokopsage den Naumburgern in suvonrn. et, smiguinem zu führen, und die achtzig Jahre seit Lepsius Auftreten sind noch nicht imstande gewesen, der geschichtlichen Wahrheit volle Geltung zu verschaffen. Ein Einwohner Naum- burgs gab 1818 die Ncmhsche .Schwachheit über die Stärke" aufs neue heraus, und ein einfacher Straßenfeger ließ 1885 in unverändertem Abklatsch aber¬ mals 500 Exemplare davon drucken, die schon wieder bis aufs letzte Stück vergriffen sind. So hat der Trug leider abermals frische Nahrung bekommen, und wenn auch die Abhandlung von Lepsius zweimal neu aufgelegt worden ist (1851 und 1854), so giebt es doch immer noch Bürger in Naumburg, die sich lieber ein Loch ins Knie bohren ließen, als daß sie auch nnr ein i-Tüpfchen von Ranhs Lügengespinst preisgaben. Besonders heftig tobte der Kampf zwischen beiden Parteien bei dem Kirschfest 1832, als die vermeintliche vier¬ hundertjährige Jubelfeier des Ereignisses begangen werden sollte. Die Refe¬ rendare, die von Anfang an mit Lepsius gegangen waren, hatten damals über ihrem Zelt eine Karikatur anbringen lassen: Prokop in preußischer Leutnants¬ uniform teilt auf der Vogelwiese Kirschen an ein paar Kinder aus. Gleich¬ zeitig wurde von ihnen ein Bilderbogen mit ähnlichen Karikaturen ausgegeben, auf dem sich zum erstenmale das Spottlied ,,Die Hussiten zogen vor Naum¬ burg" befand. Der Verfasser war der damalige Referendar Karl Seyffert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/386>, abgerufen am 26.08.2024.