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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Das Naumburger Rirschfest

aus der allgemeinen deutschen Geschichte manche bekannten und gut beglaubigten
Thatsachen einzuflechten. Die freche Stirn, womit er dies von Wahrheitströpschen
benetzte Lügengewebe eigner Erfindung für das Bruchstück einer alten Mönchs¬
chronik ausgab, hat selbst gebildete Leute stutzig gemacht. Das anscheinend
naive und einfache in Verbindung mit der ausführlichsten Kleinmalerei ver¬
anlaßte einen Leser des Schriftchens zu der Äußerung, "eine solche lebendige
Schilderung, eine solche bis in die kleinsten Details gehende treffliche Dar¬
stellung müsse entweder buchstäblich wahr oder von einem der größten Dichter
seines Zeitalters erfunden sein." Wenn der Beurteiler statt Dichter Schwindler
gesagt Hütte, würde er den Nagel auf den Kopf getroffen haben.

In Naumburg war Helles Entzücken über den vermeintlichen Geschichts¬
fund. Die Herren Taube-Raub brachten aber auch alles, was das Herz nur
wünschen konnte. Die Hussiten unter Andreas Prokop dem Großen -- erst
hier säugt dieser an, seine Rolle im Naumburger Kirschfeste zu spielen -- seien
6000 Mann stark am 27. Juli 1432 vor Naumburg gerückt, um Vergeltung
dafür zu üben, daß der Naumburger Bischof Gerhard von Goes (geht. 1422)
auf dem Konstanzer Konzil (angeblich!) an Hussens Verurteilung mitgewirkt
habe. Der Aufmarsch der Feinde auf der Anhöhe südlich vor der Stadt
dauert -- zwölf Stunden, von früh fünfeinhalb Uhr bis abends um dieselbe
Stunde. Eigenhändige Schreiben Prokops, alle unterzeichnet L.unir6As?roooxii (!),
kommen in die Stadt und künden ihr an, daß sie mit Feuer und Schwert
ausgerottet und vom Erdboden vertilgt werden solle. In der Bedrängnis
macht der Schlosser Wilhelm Wolf, der damals gerade Viertelsmeifter war,
den Vorschlag, Frauen und Jungfrauen sollten mit fliegenden Haaren ins
feindliche Lager ziehen, einen Fußfall vor Prokop thun und um Gnade flehen.
Der Rat kann sich hierzu nicht verstehen, dagegen wird beschlossen, alle Kinder
zwischen sieben und vierzehn Jahren in feierlichem Zuge hinaufzusenden und
um Schonung flehen zu lasten. Trotz des verzweifelten Widerspruchs der
Mütter dringt dieser Vorschlag durch, der Viertelsmeister Wolf, selbst Vater
von acht Kindern, zieht am 28. Juli Halbzwei Uhr mittags mit 238 Knäblein
und 321 Mägdlein, alle weißgekleidet, hinauf in das Hussitenlager, und vor
Prokops Zelt fällt die ganze Schar auf die Kniee und ruft "Gnade, Gnade!"
Der grimme Feldherr wird gerührt, läßt Kirschen, Birnen und Wein zur
Bewirtung der Kinder herbeibringen und durch seine böhmischen Spielleute
den Kleinen zum Tanz aufspielen. Endlich gegen sieben Uhr abends entläßt
Prokop alle in Frieden, befiehlt den Knaben "Victoria Hussiata" (!) zu rufen,
wenn sie wieder an die Stadtthore kämen, und den Bürgern zu sagen, er wolle
Gnade ergehen lassen, morgen früh werde kein Mann von den Hussiten mehr
zu sehen sein. Und so geschah es. Rat und Bürgerschaft aber beschlossen,
das Andenken an diese wunderbare Errettung jährlich am 28. Juli durch ein
besondres Fest zu feiern.


Das Naumburger Rirschfest

aus der allgemeinen deutschen Geschichte manche bekannten und gut beglaubigten
Thatsachen einzuflechten. Die freche Stirn, womit er dies von Wahrheitströpschen
benetzte Lügengewebe eigner Erfindung für das Bruchstück einer alten Mönchs¬
chronik ausgab, hat selbst gebildete Leute stutzig gemacht. Das anscheinend
naive und einfache in Verbindung mit der ausführlichsten Kleinmalerei ver¬
anlaßte einen Leser des Schriftchens zu der Äußerung, „eine solche lebendige
Schilderung, eine solche bis in die kleinsten Details gehende treffliche Dar¬
stellung müsse entweder buchstäblich wahr oder von einem der größten Dichter
seines Zeitalters erfunden sein." Wenn der Beurteiler statt Dichter Schwindler
gesagt Hütte, würde er den Nagel auf den Kopf getroffen haben.

In Naumburg war Helles Entzücken über den vermeintlichen Geschichts¬
fund. Die Herren Taube-Raub brachten aber auch alles, was das Herz nur
wünschen konnte. Die Hussiten unter Andreas Prokop dem Großen — erst
hier säugt dieser an, seine Rolle im Naumburger Kirschfeste zu spielen — seien
6000 Mann stark am 27. Juli 1432 vor Naumburg gerückt, um Vergeltung
dafür zu üben, daß der Naumburger Bischof Gerhard von Goes (geht. 1422)
auf dem Konstanzer Konzil (angeblich!) an Hussens Verurteilung mitgewirkt
habe. Der Aufmarsch der Feinde auf der Anhöhe südlich vor der Stadt
dauert — zwölf Stunden, von früh fünfeinhalb Uhr bis abends um dieselbe
Stunde. Eigenhändige Schreiben Prokops, alle unterzeichnet L.unir6As?roooxii (!),
kommen in die Stadt und künden ihr an, daß sie mit Feuer und Schwert
ausgerottet und vom Erdboden vertilgt werden solle. In der Bedrängnis
macht der Schlosser Wilhelm Wolf, der damals gerade Viertelsmeifter war,
den Vorschlag, Frauen und Jungfrauen sollten mit fliegenden Haaren ins
feindliche Lager ziehen, einen Fußfall vor Prokop thun und um Gnade flehen.
Der Rat kann sich hierzu nicht verstehen, dagegen wird beschlossen, alle Kinder
zwischen sieben und vierzehn Jahren in feierlichem Zuge hinaufzusenden und
um Schonung flehen zu lasten. Trotz des verzweifelten Widerspruchs der
Mütter dringt dieser Vorschlag durch, der Viertelsmeister Wolf, selbst Vater
von acht Kindern, zieht am 28. Juli Halbzwei Uhr mittags mit 238 Knäblein
und 321 Mägdlein, alle weißgekleidet, hinauf in das Hussitenlager, und vor
Prokops Zelt fällt die ganze Schar auf die Kniee und ruft „Gnade, Gnade!"
Der grimme Feldherr wird gerührt, läßt Kirschen, Birnen und Wein zur
Bewirtung der Kinder herbeibringen und durch seine böhmischen Spielleute
den Kleinen zum Tanz aufspielen. Endlich gegen sieben Uhr abends entläßt
Prokop alle in Frieden, befiehlt den Knaben „Victoria Hussiata" (!) zu rufen,
wenn sie wieder an die Stadtthore kämen, und den Bürgern zu sagen, er wolle
Gnade ergehen lassen, morgen früh werde kein Mann von den Hussiten mehr
zu sehen sein. Und so geschah es. Rat und Bürgerschaft aber beschlossen,
das Andenken an diese wunderbare Errettung jährlich am 28. Juli durch ein
besondres Fest zu feiern.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/382>, abgerufen am 26.08.2024.