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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Vas Naumburger Airschfest

als die Naumburger Kinder mit Zweigen und Früchten vor ihm niederfielen
und um Schonung der Stadt flehten. Weiß doch die Geschichte von mehreren
ähnlichen Fällen zu erzählen, wo es hartbedrängte Städte vorgezogen haben,
statt eines aussichtslosen Sturmes auf die feindlichen Truppen einen Sturm
auf das Herz des feindlichen Anführers zu unternehmen, und zwar durch
Entsendung hilfloser Personen (Kinder, Frauen, Greise), die in feierlichem
Aufzuge durch die rührende Gewalt ihrer Fürsprache das drohende Unheil
abwenden mußten. Hilfloser Unschuld hat die Natur einen großen Zauber
verliehen.

Coriolan wurde 491 v. Chr. durch das Flehen der vor ihm erscheinenden
römischen Edelfrauen mit Veturia und Volumnia an der Spitze zur Auf¬
hebung der Belagerung Roms und zum Abzüge bestimmt. Kurfürst Friedrich
der sanftmütige von Sachsen ließ sich während des Bruderkrieges von einer
harten Maßregel gegen die Stadt Freiberg im Erzgebirge abbringen, als die
ehrwürdigen Ratsherren unter Führung ihres hochbetagten Bürgermeisters mit
Sterbegewändern auf den Annen vor ihm Fürsprache einlegten. Die Stadt
Schleusingen entging 1634 einer Einäscherung durch Jsolani und seine Kroaten
dadurch, daß die Schüler des dortigen Gymnasiums unter Führung des Rek¬
tors dem feindlichen Anführer feierlich geschmückt entgegenzogen, sangen und
um Gnade flehten. Ähnlich rettete der Superintendent Lange um die Wende
der Jahre 1644 und 1645 das Städtchen Pegau in Sachsen vor einer Zer¬
störung durch die Schweden unter Torstenson, indem er mit zwölf wei߬
gekleideten Knaben ins Lager des Feindes zog und feine Fürbitte durch Gesang
der Kinder verstärken ließ.

Beim Herzog Wilhelm hat vermutlich vor Naumburg auch noch etwas
andres angesprochen als die augenblickliche Rührung. Er hatte nämlich
erst kurze Zeit vor der Stadt gelegen, da erhielt er höhnische Briefe von
dem auf der andern Seite stehenden jungen Heinrich Reuß von Gen und
zugleich die Botschaft, daß dieser sengend und plündernd in das herzogliche
Gebiet bei Roda eingefallen sei. Wichtiger als die aufhültliche Belagerung
Naumburgs schien es dem Herzoge wohl zu sein, sich auf der Stelle an
dem jungen Heinrich von Gera zu rächen, aber er war eben erst von
einer vergeblichen Belagerung Pegaus ruhmlos abgezogen und mußte für
seinen Ruf fürchten, wenn er nun auch vor Naumburg wiche, ohne etwas
erreicht zu haben. Da mag ihm der rührende Eindruck der Kindergesandt¬
schaft aus der Stadt ganz erwünscht gewesen sein, um aus dem Dilemma
herauszukommen. Er konnte sich durch Erhören der kindlichen Fürsprache mit
dem Glorienschein großmütiger Gesinnung umgeben, die Belagerung unbe¬
schadet seines Feldherrenansehens abbrechen und alsbald gegen den verhaßten
Geraer vorrücken. Diesem gegenüber ließ Herzog Wilhelm seiner Erbitterung
voll Rachsucht und Ingrimm die Zügel schießen. Nach längerer Belagerung


Vas Naumburger Airschfest

als die Naumburger Kinder mit Zweigen und Früchten vor ihm niederfielen
und um Schonung der Stadt flehten. Weiß doch die Geschichte von mehreren
ähnlichen Fällen zu erzählen, wo es hartbedrängte Städte vorgezogen haben,
statt eines aussichtslosen Sturmes auf die feindlichen Truppen einen Sturm
auf das Herz des feindlichen Anführers zu unternehmen, und zwar durch
Entsendung hilfloser Personen (Kinder, Frauen, Greise), die in feierlichem
Aufzuge durch die rührende Gewalt ihrer Fürsprache das drohende Unheil
abwenden mußten. Hilfloser Unschuld hat die Natur einen großen Zauber
verliehen.

Coriolan wurde 491 v. Chr. durch das Flehen der vor ihm erscheinenden
römischen Edelfrauen mit Veturia und Volumnia an der Spitze zur Auf¬
hebung der Belagerung Roms und zum Abzüge bestimmt. Kurfürst Friedrich
der sanftmütige von Sachsen ließ sich während des Bruderkrieges von einer
harten Maßregel gegen die Stadt Freiberg im Erzgebirge abbringen, als die
ehrwürdigen Ratsherren unter Führung ihres hochbetagten Bürgermeisters mit
Sterbegewändern auf den Annen vor ihm Fürsprache einlegten. Die Stadt
Schleusingen entging 1634 einer Einäscherung durch Jsolani und seine Kroaten
dadurch, daß die Schüler des dortigen Gymnasiums unter Führung des Rek¬
tors dem feindlichen Anführer feierlich geschmückt entgegenzogen, sangen und
um Gnade flehten. Ähnlich rettete der Superintendent Lange um die Wende
der Jahre 1644 und 1645 das Städtchen Pegau in Sachsen vor einer Zer¬
störung durch die Schweden unter Torstenson, indem er mit zwölf wei߬
gekleideten Knaben ins Lager des Feindes zog und feine Fürbitte durch Gesang
der Kinder verstärken ließ.

Beim Herzog Wilhelm hat vermutlich vor Naumburg auch noch etwas
andres angesprochen als die augenblickliche Rührung. Er hatte nämlich
erst kurze Zeit vor der Stadt gelegen, da erhielt er höhnische Briefe von
dem auf der andern Seite stehenden jungen Heinrich Reuß von Gen und
zugleich die Botschaft, daß dieser sengend und plündernd in das herzogliche
Gebiet bei Roda eingefallen sei. Wichtiger als die aufhültliche Belagerung
Naumburgs schien es dem Herzoge wohl zu sein, sich auf der Stelle an
dem jungen Heinrich von Gera zu rächen, aber er war eben erst von
einer vergeblichen Belagerung Pegaus ruhmlos abgezogen und mußte für
seinen Ruf fürchten, wenn er nun auch vor Naumburg wiche, ohne etwas
erreicht zu haben. Da mag ihm der rührende Eindruck der Kindergesandt¬
schaft aus der Stadt ganz erwünscht gewesen sein, um aus dem Dilemma
herauszukommen. Er konnte sich durch Erhören der kindlichen Fürsprache mit
dem Glorienschein großmütiger Gesinnung umgeben, die Belagerung unbe¬
schadet seines Feldherrenansehens abbrechen und alsbald gegen den verhaßten
Geraer vorrücken. Diesem gegenüber ließ Herzog Wilhelm seiner Erbitterung
voll Rachsucht und Ingrimm die Zügel schießen. Nach längerer Belagerung


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[0379] Vas Naumburger Airschfest als die Naumburger Kinder mit Zweigen und Früchten vor ihm niederfielen und um Schonung der Stadt flehten. Weiß doch die Geschichte von mehreren ähnlichen Fällen zu erzählen, wo es hartbedrängte Städte vorgezogen haben, statt eines aussichtslosen Sturmes auf die feindlichen Truppen einen Sturm auf das Herz des feindlichen Anführers zu unternehmen, und zwar durch Entsendung hilfloser Personen (Kinder, Frauen, Greise), die in feierlichem Aufzuge durch die rührende Gewalt ihrer Fürsprache das drohende Unheil abwenden mußten. Hilfloser Unschuld hat die Natur einen großen Zauber verliehen. Coriolan wurde 491 v. Chr. durch das Flehen der vor ihm erscheinenden römischen Edelfrauen mit Veturia und Volumnia an der Spitze zur Auf¬ hebung der Belagerung Roms und zum Abzüge bestimmt. Kurfürst Friedrich der sanftmütige von Sachsen ließ sich während des Bruderkrieges von einer harten Maßregel gegen die Stadt Freiberg im Erzgebirge abbringen, als die ehrwürdigen Ratsherren unter Führung ihres hochbetagten Bürgermeisters mit Sterbegewändern auf den Annen vor ihm Fürsprache einlegten. Die Stadt Schleusingen entging 1634 einer Einäscherung durch Jsolani und seine Kroaten dadurch, daß die Schüler des dortigen Gymnasiums unter Führung des Rek¬ tors dem feindlichen Anführer feierlich geschmückt entgegenzogen, sangen und um Gnade flehten. Ähnlich rettete der Superintendent Lange um die Wende der Jahre 1644 und 1645 das Städtchen Pegau in Sachsen vor einer Zer¬ störung durch die Schweden unter Torstenson, indem er mit zwölf wei߬ gekleideten Knaben ins Lager des Feindes zog und feine Fürbitte durch Gesang der Kinder verstärken ließ. Beim Herzog Wilhelm hat vermutlich vor Naumburg auch noch etwas andres angesprochen als die augenblickliche Rührung. Er hatte nämlich erst kurze Zeit vor der Stadt gelegen, da erhielt er höhnische Briefe von dem auf der andern Seite stehenden jungen Heinrich Reuß von Gen und zugleich die Botschaft, daß dieser sengend und plündernd in das herzogliche Gebiet bei Roda eingefallen sei. Wichtiger als die aufhültliche Belagerung Naumburgs schien es dem Herzoge wohl zu sein, sich auf der Stelle an dem jungen Heinrich von Gera zu rächen, aber er war eben erst von einer vergeblichen Belagerung Pegaus ruhmlos abgezogen und mußte für seinen Ruf fürchten, wenn er nun auch vor Naumburg wiche, ohne etwas erreicht zu haben. Da mag ihm der rührende Eindruck der Kindergesandt¬ schaft aus der Stadt ganz erwünscht gewesen sein, um aus dem Dilemma herauszukommen. Er konnte sich durch Erhören der kindlichen Fürsprache mit dem Glorienschein großmütiger Gesinnung umgeben, die Belagerung unbe¬ schadet seines Feldherrenansehens abbrechen und alsbald gegen den verhaßten Geraer vorrücken. Diesem gegenüber ließ Herzog Wilhelm seiner Erbitterung voll Rachsucht und Ingrimm die Zügel schießen. Nach längerer Belagerung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/379>, abgerufen am 26.08.2024.