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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Das Naumburger Airschfest

denkt mein sich ferner die Beteiligung der Erwachsenen hinweg, die das frühere
Schulfest in ein Volksfest verwandelt hat, und berücksichtigt man endlich die
schon erwähnte Veränderung des Festplatzes, so kommt die einfache Gestalt
wieder zum Vorschein, in der sich in frühern Jahrhunderten das Fest abspielte.

Der Name "Kirschfest," der im Jahre 15'26 zum erstenmale mit dem
Feste verknüpft erscheint, siudet feine Erklärung in der Jahreszeit und in den
verteilten Obstspenden. Die alten, aber nicht lückenlos erhaltnen Ratskämmerei¬
rechnungen von Naumburg erwähnen das Fest unter verschiednen Namen bei
Negistriruug des jedesmaligen Zuschusses aus dem Stadtsäckel und bezeugen,
daß es viele Jahrhunderte hindurch von der Schuljugend gefeiert worden
ist. Manchmal heißt es in den Rechnungen schlechthin donvivwin oder mit
slawischer Bezeichnung "Quas" der Schüler, wiederholt auch ?ontansnm, d. h.
Brunnenfest. Dieser letzte Name in Verbindung mit dem Umstände, daß die
Feier vormals ans der Höhe des "Wetthvye" begangen wurde, dessen Quellen
bis zur Errichtung der neuen Wasserleitung im Jahre 1890 die ganze Stadt
mit Trinkwasser versorgt haben, dentet darauf hin, daß sich hier wohl ein
sehr altes religiöses Fest erhalten hat, wie denn auch jetzt noch Gottesdienst
und Kirchengesang zu Anfang und Ende der Feier nicht fehlen.

Bei den Völkern des Altertums sowohl wie des Mittelalters und der
Neuzeit begegnen wir Brunnen- und Quellenfesten zur Verehrung von Natur-
gottheiten oder Heiligen. Im germanischen Heidentum war Freia oder Hulda
(Holle) die Göttin der Quellen, Brunnen und Seen, an ihre Stelle trat mit
dem Christentum die Jungfrau Maria, deren Bild oder Namen viele Brunnen
tragen. Auch die Sorben, die vom sechsten bis zum neunten Jahrhundert im
Osterlande herrschten, scheinen ähnliche Feste gehabt zu haben. Es ist aber
nicht wahrscheinlich, daß das Naumburger Kirschfest in seinen Anfängen so¬
weit zurückreiche; ansprechender ist die Vermutung, es sei zum Andenken an
die erste Versorgung der im elften Jahrhundert entstandnen Stadt mit Quell¬
wasser gestiftet worden. Dann dürfte der Ursprung des Festes spätestens ans
Ende des dreizehnten Jahrhunderts zu setzen sein, denn schon im vierzehnten
waren Naumburgs Vorstädte entwickelt und standen mit der eigentlichen Stadt
in so vielfacher Beziehung, daß ihre Ausschließung von der Teilnahme am
Feste kaum noch anzunehmen wäre.

So ist das Fest lange Zeit in aller Bescheidenheit gefeiert worden, ohne
daß die Stadt selbst oder jemand außer ihr etwas besonders merkwürdiges
darin erblickt Hütte. Das Kirschfest gehörte eben zu den .Kinder-, Schul- und
Naturfehler, die man in vielen Gegenden Deutschlands feierlich beging und
begeht. Es hat namentlich manche gemeinschaftliche Züge mit einem sehr
alten deutschen Schulfeste, das den Namen "Virgatumgehen" (d. h. Zweig¬
schneidengehen) trug. Die Schuljugend begab sich im Beginn der schönen
Jahreszeit unter Führung des Lehrers ins Grüne, brach Ästchen von den


Grenzboten III 1891 47
Das Naumburger Airschfest

denkt mein sich ferner die Beteiligung der Erwachsenen hinweg, die das frühere
Schulfest in ein Volksfest verwandelt hat, und berücksichtigt man endlich die
schon erwähnte Veränderung des Festplatzes, so kommt die einfache Gestalt
wieder zum Vorschein, in der sich in frühern Jahrhunderten das Fest abspielte.

Der Name „Kirschfest," der im Jahre 15'26 zum erstenmale mit dem
Feste verknüpft erscheint, siudet feine Erklärung in der Jahreszeit und in den
verteilten Obstspenden. Die alten, aber nicht lückenlos erhaltnen Ratskämmerei¬
rechnungen von Naumburg erwähnen das Fest unter verschiednen Namen bei
Negistriruug des jedesmaligen Zuschusses aus dem Stadtsäckel und bezeugen,
daß es viele Jahrhunderte hindurch von der Schuljugend gefeiert worden
ist. Manchmal heißt es in den Rechnungen schlechthin donvivwin oder mit
slawischer Bezeichnung „Quas" der Schüler, wiederholt auch ?ontansnm, d. h.
Brunnenfest. Dieser letzte Name in Verbindung mit dem Umstände, daß die
Feier vormals ans der Höhe des „Wetthvye" begangen wurde, dessen Quellen
bis zur Errichtung der neuen Wasserleitung im Jahre 1890 die ganze Stadt
mit Trinkwasser versorgt haben, dentet darauf hin, daß sich hier wohl ein
sehr altes religiöses Fest erhalten hat, wie denn auch jetzt noch Gottesdienst
und Kirchengesang zu Anfang und Ende der Feier nicht fehlen.

Bei den Völkern des Altertums sowohl wie des Mittelalters und der
Neuzeit begegnen wir Brunnen- und Quellenfesten zur Verehrung von Natur-
gottheiten oder Heiligen. Im germanischen Heidentum war Freia oder Hulda
(Holle) die Göttin der Quellen, Brunnen und Seen, an ihre Stelle trat mit
dem Christentum die Jungfrau Maria, deren Bild oder Namen viele Brunnen
tragen. Auch die Sorben, die vom sechsten bis zum neunten Jahrhundert im
Osterlande herrschten, scheinen ähnliche Feste gehabt zu haben. Es ist aber
nicht wahrscheinlich, daß das Naumburger Kirschfest in seinen Anfängen so¬
weit zurückreiche; ansprechender ist die Vermutung, es sei zum Andenken an
die erste Versorgung der im elften Jahrhundert entstandnen Stadt mit Quell¬
wasser gestiftet worden. Dann dürfte der Ursprung des Festes spätestens ans
Ende des dreizehnten Jahrhunderts zu setzen sein, denn schon im vierzehnten
waren Naumburgs Vorstädte entwickelt und standen mit der eigentlichen Stadt
in so vielfacher Beziehung, daß ihre Ausschließung von der Teilnahme am
Feste kaum noch anzunehmen wäre.

So ist das Fest lange Zeit in aller Bescheidenheit gefeiert worden, ohne
daß die Stadt selbst oder jemand außer ihr etwas besonders merkwürdiges
darin erblickt Hütte. Das Kirschfest gehörte eben zu den .Kinder-, Schul- und
Naturfehler, die man in vielen Gegenden Deutschlands feierlich beging und
begeht. Es hat namentlich manche gemeinschaftliche Züge mit einem sehr
alten deutschen Schulfeste, das den Namen „Virgatumgehen" (d. h. Zweig¬
schneidengehen) trug. Die Schuljugend begab sich im Beginn der schönen
Jahreszeit unter Führung des Lehrers ins Grüne, brach Ästchen von den


Grenzboten III 1891 47
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[0377] Das Naumburger Airschfest denkt mein sich ferner die Beteiligung der Erwachsenen hinweg, die das frühere Schulfest in ein Volksfest verwandelt hat, und berücksichtigt man endlich die schon erwähnte Veränderung des Festplatzes, so kommt die einfache Gestalt wieder zum Vorschein, in der sich in frühern Jahrhunderten das Fest abspielte. Der Name „Kirschfest," der im Jahre 15'26 zum erstenmale mit dem Feste verknüpft erscheint, siudet feine Erklärung in der Jahreszeit und in den verteilten Obstspenden. Die alten, aber nicht lückenlos erhaltnen Ratskämmerei¬ rechnungen von Naumburg erwähnen das Fest unter verschiednen Namen bei Negistriruug des jedesmaligen Zuschusses aus dem Stadtsäckel und bezeugen, daß es viele Jahrhunderte hindurch von der Schuljugend gefeiert worden ist. Manchmal heißt es in den Rechnungen schlechthin donvivwin oder mit slawischer Bezeichnung „Quas" der Schüler, wiederholt auch ?ontansnm, d. h. Brunnenfest. Dieser letzte Name in Verbindung mit dem Umstände, daß die Feier vormals ans der Höhe des „Wetthvye" begangen wurde, dessen Quellen bis zur Errichtung der neuen Wasserleitung im Jahre 1890 die ganze Stadt mit Trinkwasser versorgt haben, dentet darauf hin, daß sich hier wohl ein sehr altes religiöses Fest erhalten hat, wie denn auch jetzt noch Gottesdienst und Kirchengesang zu Anfang und Ende der Feier nicht fehlen. Bei den Völkern des Altertums sowohl wie des Mittelalters und der Neuzeit begegnen wir Brunnen- und Quellenfesten zur Verehrung von Natur- gottheiten oder Heiligen. Im germanischen Heidentum war Freia oder Hulda (Holle) die Göttin der Quellen, Brunnen und Seen, an ihre Stelle trat mit dem Christentum die Jungfrau Maria, deren Bild oder Namen viele Brunnen tragen. Auch die Sorben, die vom sechsten bis zum neunten Jahrhundert im Osterlande herrschten, scheinen ähnliche Feste gehabt zu haben. Es ist aber nicht wahrscheinlich, daß das Naumburger Kirschfest in seinen Anfängen so¬ weit zurückreiche; ansprechender ist die Vermutung, es sei zum Andenken an die erste Versorgung der im elften Jahrhundert entstandnen Stadt mit Quell¬ wasser gestiftet worden. Dann dürfte der Ursprung des Festes spätestens ans Ende des dreizehnten Jahrhunderts zu setzen sein, denn schon im vierzehnten waren Naumburgs Vorstädte entwickelt und standen mit der eigentlichen Stadt in so vielfacher Beziehung, daß ihre Ausschließung von der Teilnahme am Feste kaum noch anzunehmen wäre. So ist das Fest lange Zeit in aller Bescheidenheit gefeiert worden, ohne daß die Stadt selbst oder jemand außer ihr etwas besonders merkwürdiges darin erblickt Hütte. Das Kirschfest gehörte eben zu den .Kinder-, Schul- und Naturfehler, die man in vielen Gegenden Deutschlands feierlich beging und begeht. Es hat namentlich manche gemeinschaftliche Züge mit einem sehr alten deutschen Schulfeste, das den Namen „Virgatumgehen" (d. h. Zweig¬ schneidengehen) trug. Die Schuljugend begab sich im Beginn der schönen Jahreszeit unter Führung des Lehrers ins Grüne, brach Ästchen von den Grenzboten III 1891 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/377>, abgerufen am 26.08.2024.