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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Das Naumburger Uirschfest

pfeifend und trommelnd durch die Stadt, bald uach der Mittagsstunde aber mit
Musik in Begleitung der Lehrer nach der Stadtkirche (Se. Weuzelskirche).
Dort findet ein Festgottesdienst statt, und nach dessen Beendigung geht der
Zug weiter auf die Vogelwiese, die zur Feier des Festes schönstens hergerichtet
ist. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Pavillon sür die Stadtkapelle,
deren Musik während der ganzen Festtage selten ruhen darf. Die beiden
Langseiten der Vogelwiese sind mit Zelten und Buden besetzt. Sie gehören
teils den behäbigen Bürgern und werden von diesen während der Festtage
zu Gastereien und Geselligkeiten benutzt, teils siud sie Eigentum von Konditoren
und Wirten und dienen zur Unterkunft und Erfrischung der Fremden und
auch der Stadtbewohner, die kein eignes Zelt haben. Die Referendare der
Naumburger Gerichte besitzen seit 1816 ihr besondres "Referendarienzelt." Ein
paar Karusselle und ein kleiner Naschmarkt schließen die Reihe. In der Mitte
des Platzes neben der Musik sind Räume für die Jugendspiele umhegt. Be¬
wirtet werden die Knaben mit Kirschen, sonstigem Obst und Gebäck meistens
schon des Morgens auf dem Vürgergarten. Auf der Vogelwiese schießen sie
mit Armbrüsten nach Adlern, Sternen u. s. w., wobei die besten Treffer mit
Preisen belohnt werden. Turuspiele, Gesang u. dergl. schließen sich an, abends
ist der Platz festlich erleuchtet, die Jugend zieht mit Papierlaternen umher,
und die Erwachsenen lustwandeln unter den Jungen oder vergnügen sich in
den Zelten oder dem angrenzenden Schützenhause. Der zweite Tag, Dienstag,
verläuft ähnlich wie der erste, doch ohne Gottesdienst und Auszug, und erhält
abends seinen Abschluß durch den Gesang eines Kirchenliedes. Am Mittwoch
ist Ruhetag, der Donnerstag und Freitag aber bringt das "Mädchenkirschfest,"
in dem mit geziemender Rücksicht auf das schöne Geschlecht der Höhepunkt
der Feier erblickt wird. Der Verlauf entspricht ganz den Festlichkeiten
der Knaben, nur daß der Morgenumzug wegfällt, statt der Armbrust der
Stechvogel eingesetzt wird, infolge der größern Kleiderpracht der Mädchen
der Festplatz ein farbenglänzenderes Bild darbietet und der Andrang von
Einheimischen und Fremden am stärksten ist. Es gewährt aber auch wirklich
einen lieblichen Anblick, die kleinen Mädchen in hellen, buntbeschleiften Klei¬
dern und mit farbigen Kränzchen auf den Köpfen dahinziehen oder sich fröh¬
lich tummeln zu sehen! Selbst die ärmsten Leute betrachten es als Ehrensache,
ihre Kinder bei diesem Feste aufs schönste herauszuputzen, und lieber wird das
letzte Bett ins Leihhaus getragen und acht Tage lang daheim gehungert, als
daß man sich beim Kirschfeste lumpen ließe.

Wesentliche Punkte der Feier dürften in der gegebenen Beschreibung kaum
fehlen. Zieht man den größern Glanz und Luxus*) unsrer Zeit davon ab,



*) Im Anfang unsers Jahrhunderts wurden zuerst drei Zelte aufgeschlagen, für die
Jugend gab es einige Laubhütten, das Publikum lagerte sich auf dem damals reichlichen Rasen.
Das Naumburger Uirschfest

pfeifend und trommelnd durch die Stadt, bald uach der Mittagsstunde aber mit
Musik in Begleitung der Lehrer nach der Stadtkirche (Se. Weuzelskirche).
Dort findet ein Festgottesdienst statt, und nach dessen Beendigung geht der
Zug weiter auf die Vogelwiese, die zur Feier des Festes schönstens hergerichtet
ist. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Pavillon sür die Stadtkapelle,
deren Musik während der ganzen Festtage selten ruhen darf. Die beiden
Langseiten der Vogelwiese sind mit Zelten und Buden besetzt. Sie gehören
teils den behäbigen Bürgern und werden von diesen während der Festtage
zu Gastereien und Geselligkeiten benutzt, teils siud sie Eigentum von Konditoren
und Wirten und dienen zur Unterkunft und Erfrischung der Fremden und
auch der Stadtbewohner, die kein eignes Zelt haben. Die Referendare der
Naumburger Gerichte besitzen seit 1816 ihr besondres „Referendarienzelt." Ein
paar Karusselle und ein kleiner Naschmarkt schließen die Reihe. In der Mitte
des Platzes neben der Musik sind Räume für die Jugendspiele umhegt. Be¬
wirtet werden die Knaben mit Kirschen, sonstigem Obst und Gebäck meistens
schon des Morgens auf dem Vürgergarten. Auf der Vogelwiese schießen sie
mit Armbrüsten nach Adlern, Sternen u. s. w., wobei die besten Treffer mit
Preisen belohnt werden. Turuspiele, Gesang u. dergl. schließen sich an, abends
ist der Platz festlich erleuchtet, die Jugend zieht mit Papierlaternen umher,
und die Erwachsenen lustwandeln unter den Jungen oder vergnügen sich in
den Zelten oder dem angrenzenden Schützenhause. Der zweite Tag, Dienstag,
verläuft ähnlich wie der erste, doch ohne Gottesdienst und Auszug, und erhält
abends seinen Abschluß durch den Gesang eines Kirchenliedes. Am Mittwoch
ist Ruhetag, der Donnerstag und Freitag aber bringt das „Mädchenkirschfest,"
in dem mit geziemender Rücksicht auf das schöne Geschlecht der Höhepunkt
der Feier erblickt wird. Der Verlauf entspricht ganz den Festlichkeiten
der Knaben, nur daß der Morgenumzug wegfällt, statt der Armbrust der
Stechvogel eingesetzt wird, infolge der größern Kleiderpracht der Mädchen
der Festplatz ein farbenglänzenderes Bild darbietet und der Andrang von
Einheimischen und Fremden am stärksten ist. Es gewährt aber auch wirklich
einen lieblichen Anblick, die kleinen Mädchen in hellen, buntbeschleiften Klei¬
dern und mit farbigen Kränzchen auf den Köpfen dahinziehen oder sich fröh¬
lich tummeln zu sehen! Selbst die ärmsten Leute betrachten es als Ehrensache,
ihre Kinder bei diesem Feste aufs schönste herauszuputzen, und lieber wird das
letzte Bett ins Leihhaus getragen und acht Tage lang daheim gehungert, als
daß man sich beim Kirschfeste lumpen ließe.

Wesentliche Punkte der Feier dürften in der gegebenen Beschreibung kaum
fehlen. Zieht man den größern Glanz und Luxus*) unsrer Zeit davon ab,



*) Im Anfang unsers Jahrhunderts wurden zuerst drei Zelte aufgeschlagen, für die
Jugend gab es einige Laubhütten, das Publikum lagerte sich auf dem damals reichlichen Rasen.
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[0376] Das Naumburger Uirschfest pfeifend und trommelnd durch die Stadt, bald uach der Mittagsstunde aber mit Musik in Begleitung der Lehrer nach der Stadtkirche (Se. Weuzelskirche). Dort findet ein Festgottesdienst statt, und nach dessen Beendigung geht der Zug weiter auf die Vogelwiese, die zur Feier des Festes schönstens hergerichtet ist. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Pavillon sür die Stadtkapelle, deren Musik während der ganzen Festtage selten ruhen darf. Die beiden Langseiten der Vogelwiese sind mit Zelten und Buden besetzt. Sie gehören teils den behäbigen Bürgern und werden von diesen während der Festtage zu Gastereien und Geselligkeiten benutzt, teils siud sie Eigentum von Konditoren und Wirten und dienen zur Unterkunft und Erfrischung der Fremden und auch der Stadtbewohner, die kein eignes Zelt haben. Die Referendare der Naumburger Gerichte besitzen seit 1816 ihr besondres „Referendarienzelt." Ein paar Karusselle und ein kleiner Naschmarkt schließen die Reihe. In der Mitte des Platzes neben der Musik sind Räume für die Jugendspiele umhegt. Be¬ wirtet werden die Knaben mit Kirschen, sonstigem Obst und Gebäck meistens schon des Morgens auf dem Vürgergarten. Auf der Vogelwiese schießen sie mit Armbrüsten nach Adlern, Sternen u. s. w., wobei die besten Treffer mit Preisen belohnt werden. Turuspiele, Gesang u. dergl. schließen sich an, abends ist der Platz festlich erleuchtet, die Jugend zieht mit Papierlaternen umher, und die Erwachsenen lustwandeln unter den Jungen oder vergnügen sich in den Zelten oder dem angrenzenden Schützenhause. Der zweite Tag, Dienstag, verläuft ähnlich wie der erste, doch ohne Gottesdienst und Auszug, und erhält abends seinen Abschluß durch den Gesang eines Kirchenliedes. Am Mittwoch ist Ruhetag, der Donnerstag und Freitag aber bringt das „Mädchenkirschfest," in dem mit geziemender Rücksicht auf das schöne Geschlecht der Höhepunkt der Feier erblickt wird. Der Verlauf entspricht ganz den Festlichkeiten der Knaben, nur daß der Morgenumzug wegfällt, statt der Armbrust der Stechvogel eingesetzt wird, infolge der größern Kleiderpracht der Mädchen der Festplatz ein farbenglänzenderes Bild darbietet und der Andrang von Einheimischen und Fremden am stärksten ist. Es gewährt aber auch wirklich einen lieblichen Anblick, die kleinen Mädchen in hellen, buntbeschleiften Klei¬ dern und mit farbigen Kränzchen auf den Köpfen dahinziehen oder sich fröh¬ lich tummeln zu sehen! Selbst die ärmsten Leute betrachten es als Ehrensache, ihre Kinder bei diesem Feste aufs schönste herauszuputzen, und lieber wird das letzte Bett ins Leihhaus getragen und acht Tage lang daheim gehungert, als daß man sich beim Kirschfeste lumpen ließe. Wesentliche Punkte der Feier dürften in der gegebenen Beschreibung kaum fehlen. Zieht man den größern Glanz und Luxus*) unsrer Zeit davon ab, *) Im Anfang unsers Jahrhunderts wurden zuerst drei Zelte aufgeschlagen, für die Jugend gab es einige Laubhütten, das Publikum lagerte sich auf dem damals reichlichen Rasen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/376>, abgerufen am 26.08.2024.