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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Lhre und der Strafrichter

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legung und Versöhnung vieler Meinungsverschiedenheiten, ehe man sich über
die objektiv beleidigende Beschaffenheit jener Ausdrücke und Thatsachen ge¬
einigt hat. Der Veleidiguugsbeklagte wird dagegen fast immer in der Leiden¬
schaft des Zornes, des Hasses und andrer das klare Urteil verwirrender Em¬
pfindungen geredet oder geschrieben haben. Wie gern wird ihm oft geglaubt
werden dürfen, wenn er sich verteidigt: er habe den Gegner zwar kränken wollen,
ihm aber nicht an die Ehre gewollt. Liest man die Sammlung der Ent-
scheidungen des Reichsgerichts, so kann man sich des Eindrucks uicht erwehren,
als seien die Beweisgründe der Untergeriehte für Bejahung der sogenannten
Dolnsfrage nicht immer stichhaltig. Es hat zuweilen einen bedauernden Bei¬
klang, wenn sich der oberste Gerichtshof an diese "einen Rechtsirrtum nicht
erkennen lassenden, mit der Revision nicht angreifbaren" Feststellungen über
alles das für gebunden erklärt, was sich der Angeklagte bei der That gedacht
oder eventuell gedacht oder nicht gedacht habe. Es ist ein alter weiser Rat,
der eignen Entscheidung immer dann zu mißtrauen, wenn man sie nicht besser
als mit den Worten: "offenbar" oder "zweifellos" wollte der Angeklagte u.s. w.
begründen kann. Denn darüber besteht Einverständnis, daß der deutsche
Richter, Schöffe und Geschworene sich nicht an der sogenannten eonvieUon
instmvtivo der französischen Jury genügen lassen, sondern nur der eonviotion
lÄsonnvö, der Überzeugung, die sich auch über ihre Gründe Rechenschaft zu
gebe" weiß, solgen darf. Für diese Rechenschaftslegung bleibt freilich wenig
Zeit, wenn ein "schneidiger" Vorsitzender an einem Sitzungstage zehn Straf¬
sachen mit fünfzehn Angeklagten und dreißig Zeugen herunterarbeitet. Denkt
man daran, was für diese Angeklagten auf dem Spiele steht, so will uns
das heute verspottete Bild des alten Kreisrichters in Frack und Vater¬
mördern, der vor lauter Bedenklichkeiten kaum das Urteil zu finden vermochte,
doch sehr viel ehrwürdiger und sympathischer erscheinen. Die Verantwortung
fällt zugleich auf die Justizverwaltungen und die Landesvertretungen zurück,
wenn durch allzu kärgliche Besetzung die Gerichte, um nicht in den
Geschäften zu ersticken, zu diesem beschleunigten Tempo gezwungen werden.
Es ist behauptet worden, auch das Sozialistengesetz und die daraus ent¬
sprungenen zahlreichen politischen Prozesse des letzten Jahrzehntes hätten die
deutschen Richter unmerklich geneigter gemacht, die strafbare Willensbeschaffen¬
heit gewisser Angeklagten als bewiesen anzunehmen. Für die erste Zeit nach
den Attentaten, wo heißer Schmerz und heiliger Zorn das ganze deutsche
Volk, die deutschen Richter nicht ausgeschlossen, durchzitterten, mag dies zu¬
getroffen haben. Immerhin blieben die politischen Bestrebungen eines stets
wachsenden Teiles unsers Volkes offiziell, durch das Gesetz selbst, als "den
Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckend" ge-


Die Lhre und der Strafrichter

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die objektiv beleidigende Beschaffenheit jener Ausdrücke und Thatsachen ge¬
einigt hat. Der Veleidiguugsbeklagte wird dagegen fast immer in der Leiden¬
schaft des Zornes, des Hasses und andrer das klare Urteil verwirrender Em¬
pfindungen geredet oder geschrieben haben. Wie gern wird ihm oft geglaubt
werden dürfen, wenn er sich verteidigt: er habe den Gegner zwar kränken wollen,
ihm aber nicht an die Ehre gewollt. Liest man die Sammlung der Ent-
scheidungen des Reichsgerichts, so kann man sich des Eindrucks uicht erwehren,
als seien die Beweisgründe der Untergeriehte für Bejahung der sogenannten
Dolnsfrage nicht immer stichhaltig. Es hat zuweilen einen bedauernden Bei¬
klang, wenn sich der oberste Gerichtshof an diese „einen Rechtsirrtum nicht
erkennen lassenden, mit der Revision nicht angreifbaren" Feststellungen über
alles das für gebunden erklärt, was sich der Angeklagte bei der That gedacht
oder eventuell gedacht oder nicht gedacht habe. Es ist ein alter weiser Rat,
der eignen Entscheidung immer dann zu mißtrauen, wenn man sie nicht besser
als mit den Worten: „offenbar" oder „zweifellos" wollte der Angeklagte u.s. w.
begründen kann. Denn darüber besteht Einverständnis, daß der deutsche
Richter, Schöffe und Geschworene sich nicht an der sogenannten eonvieUon
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lÄsonnvö, der Überzeugung, die sich auch über ihre Gründe Rechenschaft zu
gebe» weiß, solgen darf. Für diese Rechenschaftslegung bleibt freilich wenig
Zeit, wenn ein „schneidiger" Vorsitzender an einem Sitzungstage zehn Straf¬
sachen mit fünfzehn Angeklagten und dreißig Zeugen herunterarbeitet. Denkt
man daran, was für diese Angeklagten auf dem Spiele steht, so will uns
das heute verspottete Bild des alten Kreisrichters in Frack und Vater¬
mördern, der vor lauter Bedenklichkeiten kaum das Urteil zu finden vermochte,
doch sehr viel ehrwürdiger und sympathischer erscheinen. Die Verantwortung
fällt zugleich auf die Justizverwaltungen und die Landesvertretungen zurück,
wenn durch allzu kärgliche Besetzung die Gerichte, um nicht in den
Geschäften zu ersticken, zu diesem beschleunigten Tempo gezwungen werden.
Es ist behauptet worden, auch das Sozialistengesetz und die daraus ent¬
sprungenen zahlreichen politischen Prozesse des letzten Jahrzehntes hätten die
deutschen Richter unmerklich geneigter gemacht, die strafbare Willensbeschaffen¬
heit gewisser Angeklagten als bewiesen anzunehmen. Für die erste Zeit nach
den Attentaten, wo heißer Schmerz und heiliger Zorn das ganze deutsche
Volk, die deutschen Richter nicht ausgeschlossen, durchzitterten, mag dies zu¬
getroffen haben. Immerhin blieben die politischen Bestrebungen eines stets
wachsenden Teiles unsers Volkes offiziell, durch das Gesetz selbst, als „den
Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckend" ge-


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[0357] Die Lhre und der Strafrichter xrav8Uinitur bcinus, clon<z<z xrodswr evntrÄriuin und: in cludio pro rso nicht vergessen. 5!ostet es doch manchmal im kühlen Beratnngszimmer lange Über¬ legung und Versöhnung vieler Meinungsverschiedenheiten, ehe man sich über die objektiv beleidigende Beschaffenheit jener Ausdrücke und Thatsachen ge¬ einigt hat. Der Veleidiguugsbeklagte wird dagegen fast immer in der Leiden¬ schaft des Zornes, des Hasses und andrer das klare Urteil verwirrender Em¬ pfindungen geredet oder geschrieben haben. Wie gern wird ihm oft geglaubt werden dürfen, wenn er sich verteidigt: er habe den Gegner zwar kränken wollen, ihm aber nicht an die Ehre gewollt. Liest man die Sammlung der Ent- scheidungen des Reichsgerichts, so kann man sich des Eindrucks uicht erwehren, als seien die Beweisgründe der Untergeriehte für Bejahung der sogenannten Dolnsfrage nicht immer stichhaltig. Es hat zuweilen einen bedauernden Bei¬ klang, wenn sich der oberste Gerichtshof an diese „einen Rechtsirrtum nicht erkennen lassenden, mit der Revision nicht angreifbaren" Feststellungen über alles das für gebunden erklärt, was sich der Angeklagte bei der That gedacht oder eventuell gedacht oder nicht gedacht habe. Es ist ein alter weiser Rat, der eignen Entscheidung immer dann zu mißtrauen, wenn man sie nicht besser als mit den Worten: „offenbar" oder „zweifellos" wollte der Angeklagte u.s. w. begründen kann. Denn darüber besteht Einverständnis, daß der deutsche Richter, Schöffe und Geschworene sich nicht an der sogenannten eonvieUon instmvtivo der französischen Jury genügen lassen, sondern nur der eonviotion lÄsonnvö, der Überzeugung, die sich auch über ihre Gründe Rechenschaft zu gebe» weiß, solgen darf. Für diese Rechenschaftslegung bleibt freilich wenig Zeit, wenn ein „schneidiger" Vorsitzender an einem Sitzungstage zehn Straf¬ sachen mit fünfzehn Angeklagten und dreißig Zeugen herunterarbeitet. Denkt man daran, was für diese Angeklagten auf dem Spiele steht, so will uns das heute verspottete Bild des alten Kreisrichters in Frack und Vater¬ mördern, der vor lauter Bedenklichkeiten kaum das Urteil zu finden vermochte, doch sehr viel ehrwürdiger und sympathischer erscheinen. Die Verantwortung fällt zugleich auf die Justizverwaltungen und die Landesvertretungen zurück, wenn durch allzu kärgliche Besetzung die Gerichte, um nicht in den Geschäften zu ersticken, zu diesem beschleunigten Tempo gezwungen werden. Es ist behauptet worden, auch das Sozialistengesetz und die daraus ent¬ sprungenen zahlreichen politischen Prozesse des letzten Jahrzehntes hätten die deutschen Richter unmerklich geneigter gemacht, die strafbare Willensbeschaffen¬ heit gewisser Angeklagten als bewiesen anzunehmen. Für die erste Zeit nach den Attentaten, wo heißer Schmerz und heiliger Zorn das ganze deutsche Volk, die deutschen Richter nicht ausgeschlossen, durchzitterten, mag dies zu¬ getroffen haben. Immerhin blieben die politischen Bestrebungen eines stets wachsenden Teiles unsers Volkes offiziell, durch das Gesetz selbst, als „den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckend" ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/357>, abgerufen am 26.08.2024.