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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Lhre und der Strafrichter

wenn an Stelle des ironischen Wortes oder Satzes aus dem Zusammenhange
oder den Umständen der eigentliche, aber nur versteckt angedeutete Sinn er¬
mittelt worden ist. Dabei geschieht jedoch dem ironischen Beleidiger nicht
selten dadurch Unrecht, daß der scheinbar ehrende Ausdruck durch die ganze
Stufenleiter der denkbaren gegensätzlichen Bezeichnungen hinunter gleich in den
Ausdruck äußerster Unehre verkehrt wird. Im ironischen Sinne ist nicht not¬
wendig Held Memme, Ehrenmann Schurke, "dies Kind, kein Engel ist
so rein" -- "du bist nun einmal eine Hur." Um gerecht zu sein, wird man
sich meist genügen lassen dürfen, nur die Verneinung als den wahren Sinn fest¬
zustellen, also Held ----- nicht mutig, nicht tapfer, Ehrenmann ----- nicht ehren¬
haft, rein ------ nicht rein, nicht keusch zu setzen. Immerhin bewegt sich auch
diese Prüfung noch streng auf dem Gebiete des objektiven Thatbestandes, wie
auch die als Ausleguugsmittel besonders wichtigen, vom Gesetz selbst erwähnten
"Umstände" durchaus zu den äußern Begriffsmerkmalen der Beleidigung
gehören.

Sind diese richtig erkannt, so bietet die Prüfung der subjektiven Seite,
des Beleidiguugswillens, des äolus (die Seeschlange der Jurisprudenz genannt)
wissenschaftlich keine, thatsächlich um so größere Schwierigkeiten. Die Auf¬
gabe des modernen Richters, in der Seele des Angeklagten und zwar nach
ihrer Verfassung zur Zeit der That zu lesen, ist um so verantwortlicher, als
das Gesetz heute alle die formalistischen Beweisregeln des alten Prozesses be¬
seitigt und den Richter einfach angewiesen hat, über das Ergebnis der Beweis¬
aufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften
Überzeugung zu entscheiden.

Zwar wenn es sich um die zoologischen oder die der leblosen Natur ent¬
lehnten Kraftausdrücke der Gasse handelt, wird die Frage, ob der Sprechende
deren ehrenrühriger Sinn erkannt habe, meist leicht zu bejahen sein. Auch
geschieht ihm regelmäßig mit der Annahme nicht Unrecht, daß er das Schimpf¬
wort in der Bedeutung, die jedermann damit verbindet, also mit dem Vorsatz,
seinen Widerpart dadurch zu verunehren, gebraucht habe. Und doch dienen
auch solche Kraftcmsdrücke in der Sprache des gewöhnlichen Lebens oft nur
zur Würze der Rede, ja geradezu, namentlich im Diminutiv, der "Koseform,"
als Liebkosungen. Der Sprechende darf häufig überzeugt sein, daß sie auch
vom Hörer gar uicht anders verstanden werden. Dies geht, gleich den Mode¬
flüchen und Modebeteueruugen, manchmal bis ziemlich hoch in die gebildeten
Kreise hinauf, wie ja etwas Stallgeruch auch zum vornehmsten Modeparfüm
gehört. Dann liegen vielleicht sehr ungebührliche Vertraulichkeiten, aber keine
Beleidigungen vor. In dem weiten Bereiche der doppelsinnigen und mehr¬
deutigen Ausdrücke oder auf dem Grenzgebiete zwischen den ehrenrühriger und
den bloß unangenehmen, nicht gern gehörten Thatsachen wird der verständige
Richter die alten und doch niemals veraltenden Beweisregeln: quilibet


Die Lhre und der Strafrichter

wenn an Stelle des ironischen Wortes oder Satzes aus dem Zusammenhange
oder den Umständen der eigentliche, aber nur versteckt angedeutete Sinn er¬
mittelt worden ist. Dabei geschieht jedoch dem ironischen Beleidiger nicht
selten dadurch Unrecht, daß der scheinbar ehrende Ausdruck durch die ganze
Stufenleiter der denkbaren gegensätzlichen Bezeichnungen hinunter gleich in den
Ausdruck äußerster Unehre verkehrt wird. Im ironischen Sinne ist nicht not¬
wendig Held Memme, Ehrenmann Schurke, „dies Kind, kein Engel ist
so rein" — „du bist nun einmal eine Hur." Um gerecht zu sein, wird man
sich meist genügen lassen dürfen, nur die Verneinung als den wahren Sinn fest¬
zustellen, also Held ----- nicht mutig, nicht tapfer, Ehrenmann ----- nicht ehren¬
haft, rein ------ nicht rein, nicht keusch zu setzen. Immerhin bewegt sich auch
diese Prüfung noch streng auf dem Gebiete des objektiven Thatbestandes, wie
auch die als Ausleguugsmittel besonders wichtigen, vom Gesetz selbst erwähnten
„Umstände" durchaus zu den äußern Begriffsmerkmalen der Beleidigung
gehören.

Sind diese richtig erkannt, so bietet die Prüfung der subjektiven Seite,
des Beleidiguugswillens, des äolus (die Seeschlange der Jurisprudenz genannt)
wissenschaftlich keine, thatsächlich um so größere Schwierigkeiten. Die Auf¬
gabe des modernen Richters, in der Seele des Angeklagten und zwar nach
ihrer Verfassung zur Zeit der That zu lesen, ist um so verantwortlicher, als
das Gesetz heute alle die formalistischen Beweisregeln des alten Prozesses be¬
seitigt und den Richter einfach angewiesen hat, über das Ergebnis der Beweis¬
aufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften
Überzeugung zu entscheiden.

Zwar wenn es sich um die zoologischen oder die der leblosen Natur ent¬
lehnten Kraftausdrücke der Gasse handelt, wird die Frage, ob der Sprechende
deren ehrenrühriger Sinn erkannt habe, meist leicht zu bejahen sein. Auch
geschieht ihm regelmäßig mit der Annahme nicht Unrecht, daß er das Schimpf¬
wort in der Bedeutung, die jedermann damit verbindet, also mit dem Vorsatz,
seinen Widerpart dadurch zu verunehren, gebraucht habe. Und doch dienen
auch solche Kraftcmsdrücke in der Sprache des gewöhnlichen Lebens oft nur
zur Würze der Rede, ja geradezu, namentlich im Diminutiv, der „Koseform,"
als Liebkosungen. Der Sprechende darf häufig überzeugt sein, daß sie auch
vom Hörer gar uicht anders verstanden werden. Dies geht, gleich den Mode¬
flüchen und Modebeteueruugen, manchmal bis ziemlich hoch in die gebildeten
Kreise hinauf, wie ja etwas Stallgeruch auch zum vornehmsten Modeparfüm
gehört. Dann liegen vielleicht sehr ungebührliche Vertraulichkeiten, aber keine
Beleidigungen vor. In dem weiten Bereiche der doppelsinnigen und mehr¬
deutigen Ausdrücke oder auf dem Grenzgebiete zwischen den ehrenrühriger und
den bloß unangenehmen, nicht gern gehörten Thatsachen wird der verständige
Richter die alten und doch niemals veraltenden Beweisregeln: quilibet


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[0356] Die Lhre und der Strafrichter wenn an Stelle des ironischen Wortes oder Satzes aus dem Zusammenhange oder den Umständen der eigentliche, aber nur versteckt angedeutete Sinn er¬ mittelt worden ist. Dabei geschieht jedoch dem ironischen Beleidiger nicht selten dadurch Unrecht, daß der scheinbar ehrende Ausdruck durch die ganze Stufenleiter der denkbaren gegensätzlichen Bezeichnungen hinunter gleich in den Ausdruck äußerster Unehre verkehrt wird. Im ironischen Sinne ist nicht not¬ wendig Held Memme, Ehrenmann Schurke, „dies Kind, kein Engel ist so rein" — „du bist nun einmal eine Hur." Um gerecht zu sein, wird man sich meist genügen lassen dürfen, nur die Verneinung als den wahren Sinn fest¬ zustellen, also Held ----- nicht mutig, nicht tapfer, Ehrenmann ----- nicht ehren¬ haft, rein ------ nicht rein, nicht keusch zu setzen. Immerhin bewegt sich auch diese Prüfung noch streng auf dem Gebiete des objektiven Thatbestandes, wie auch die als Ausleguugsmittel besonders wichtigen, vom Gesetz selbst erwähnten „Umstände" durchaus zu den äußern Begriffsmerkmalen der Beleidigung gehören. Sind diese richtig erkannt, so bietet die Prüfung der subjektiven Seite, des Beleidiguugswillens, des äolus (die Seeschlange der Jurisprudenz genannt) wissenschaftlich keine, thatsächlich um so größere Schwierigkeiten. Die Auf¬ gabe des modernen Richters, in der Seele des Angeklagten und zwar nach ihrer Verfassung zur Zeit der That zu lesen, ist um so verantwortlicher, als das Gesetz heute alle die formalistischen Beweisregeln des alten Prozesses be¬ seitigt und den Richter einfach angewiesen hat, über das Ergebnis der Beweis¬ aufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Zwar wenn es sich um die zoologischen oder die der leblosen Natur ent¬ lehnten Kraftausdrücke der Gasse handelt, wird die Frage, ob der Sprechende deren ehrenrühriger Sinn erkannt habe, meist leicht zu bejahen sein. Auch geschieht ihm regelmäßig mit der Annahme nicht Unrecht, daß er das Schimpf¬ wort in der Bedeutung, die jedermann damit verbindet, also mit dem Vorsatz, seinen Widerpart dadurch zu verunehren, gebraucht habe. Und doch dienen auch solche Kraftcmsdrücke in der Sprache des gewöhnlichen Lebens oft nur zur Würze der Rede, ja geradezu, namentlich im Diminutiv, der „Koseform," als Liebkosungen. Der Sprechende darf häufig überzeugt sein, daß sie auch vom Hörer gar uicht anders verstanden werden. Dies geht, gleich den Mode¬ flüchen und Modebeteueruugen, manchmal bis ziemlich hoch in die gebildeten Kreise hinauf, wie ja etwas Stallgeruch auch zum vornehmsten Modeparfüm gehört. Dann liegen vielleicht sehr ungebührliche Vertraulichkeiten, aber keine Beleidigungen vor. In dem weiten Bereiche der doppelsinnigen und mehr¬ deutigen Ausdrücke oder auf dem Grenzgebiete zwischen den ehrenrühriger und den bloß unangenehmen, nicht gern gehörten Thatsachen wird der verständige Richter die alten und doch niemals veraltenden Beweisregeln: quilibet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/356>, abgerufen am 26.08.2024.