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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Sittengesetz nicht im Einklang findet. Die falsche Behauptung, der Börsen¬
baron von Jtzig oder der Korpsstudent von Prudelwitz sei von Berlin nach
Breslau dritter Klasse gefahren, mag beide in ihren Kreisen aufs äußerste
verächtlich machen, den Richter wird sie kalt lassen. Umgekehrt wird er den
Verleumder, der im Kreise neidisch aufhorchender Wüstlinge von A erzählt,
ihm sei es gelungen, die keusche Primadonna N zu verführen, nicht mit der
noch so glaubwürdigen Verteidigung hören, er habe dem A damit nur ein
Kompliment sagen wollen.

Gerade die Prüfung des objektiven Thatbestandes der Beleidigung hat
von jeher als eine der interessantesten, aber auch schwierigsten juristischen Auf¬
gaben gegolten. Gehört doch zu ihrer Lösung nicht bloß Sinn für wahre
Ehre, sondern auch Vertrautheit mit den Gesetzen der Sprachwissenschaft, ja
selbst mit der dialektischen Entwicklung und ein feines Ohr für alle Eigen¬
tümlichkeiten, gewissermaßen für die Dynamik der Sprache. Denn in der
großen Masse der Fälle wird es sich allerdings, wie auch das Reichsgericht
hervorhebt, "um zweideutige oder vieldeutige Ausdrücke und gewisse Rede¬
wendungen handeln, die je nach Interpunktion oder Betonung oder syntak¬
tischer Verbindung entweder einen vollkommen unverfänglichen oder einen
ehrenrühriger Charakter zunehmen können." Nur ist es ein Widerspruch,
wenn es unmittelbar darauf mit einer Lieblingswendung des neuern oberst¬
richterlichen Kurialstils als "verfehlt" bezeichnet wird, "den an sich gar nicht
vorhandenen objektiven Wert solcher Sprachformen aufsuchen zu Wollen und
sodann erst den subjektiven Thatbestand zu erörtern." Denn einer Vorprüfung,
ob denn das zur Anklage gestellte Wort überhaupt zu jenen zwei- oder viel¬
deutigen Ausdrücken gehöre, oder ob es nur eine einzige und zwar schlechter¬
dings nicht beleidigende Bedeutung habe, soll sich der Richter doch wohl nicht
entziehen dürfen. Man müßte denn leugnen, daß die Sprache überhaupt
ehrende oder auch nur neutrale Ausdrücke besitze und den Satz aufstellen
wollen, daß jedes gesprochene oder geschriebene Wort beleidigen könne.

Sache des Kulturhistorikers und Sprachsorschers ist es, zu verfolgen,
wie viele heute als schlechthin beleidigend geltende Wörter erst allmählich
diesen Sinn gewonnen haben (schlecht, niederträchtig), wie andre noch heute
mitten in dieser Entwicklung stehen (Kerl, gemein im Sinne von unsittlich
oder gewöhnlich), welch feine Übergänge bis zur Beleidigung hinüber in den
Negativverbindungen enthalten sind (nicht günstig, ungünstig, abgünstig, mi߬
günstig gesinnt sein), welch merkwürdige Rolle endlich das Fremdwort in der
Beleidigung spielt. Ist es ein Zeichen zunehmender Verfeinerung des Ver¬
kehrs oder ein Beweis wachsender Raffinirtheit in der Kunst, andern wehe zu
thun, daß die alten hagebüchenen Kraftausdrücke unsrer ehrlichen Mutter¬
sprache französischen "Medisancen" mehr und mehr Platz machen? Wer denkt
nicht an die Klage Aureliens in Wilhelm Meister: "Was er in seiner Mutter-


Sittengesetz nicht im Einklang findet. Die falsche Behauptung, der Börsen¬
baron von Jtzig oder der Korpsstudent von Prudelwitz sei von Berlin nach
Breslau dritter Klasse gefahren, mag beide in ihren Kreisen aufs äußerste
verächtlich machen, den Richter wird sie kalt lassen. Umgekehrt wird er den
Verleumder, der im Kreise neidisch aufhorchender Wüstlinge von A erzählt,
ihm sei es gelungen, die keusche Primadonna N zu verführen, nicht mit der
noch so glaubwürdigen Verteidigung hören, er habe dem A damit nur ein
Kompliment sagen wollen.

Gerade die Prüfung des objektiven Thatbestandes der Beleidigung hat
von jeher als eine der interessantesten, aber auch schwierigsten juristischen Auf¬
gaben gegolten. Gehört doch zu ihrer Lösung nicht bloß Sinn für wahre
Ehre, sondern auch Vertrautheit mit den Gesetzen der Sprachwissenschaft, ja
selbst mit der dialektischen Entwicklung und ein feines Ohr für alle Eigen¬
tümlichkeiten, gewissermaßen für die Dynamik der Sprache. Denn in der
großen Masse der Fälle wird es sich allerdings, wie auch das Reichsgericht
hervorhebt, „um zweideutige oder vieldeutige Ausdrücke und gewisse Rede¬
wendungen handeln, die je nach Interpunktion oder Betonung oder syntak¬
tischer Verbindung entweder einen vollkommen unverfänglichen oder einen
ehrenrühriger Charakter zunehmen können." Nur ist es ein Widerspruch,
wenn es unmittelbar darauf mit einer Lieblingswendung des neuern oberst¬
richterlichen Kurialstils als „verfehlt" bezeichnet wird, „den an sich gar nicht
vorhandenen objektiven Wert solcher Sprachformen aufsuchen zu Wollen und
sodann erst den subjektiven Thatbestand zu erörtern." Denn einer Vorprüfung,
ob denn das zur Anklage gestellte Wort überhaupt zu jenen zwei- oder viel¬
deutigen Ausdrücken gehöre, oder ob es nur eine einzige und zwar schlechter¬
dings nicht beleidigende Bedeutung habe, soll sich der Richter doch wohl nicht
entziehen dürfen. Man müßte denn leugnen, daß die Sprache überhaupt
ehrende oder auch nur neutrale Ausdrücke besitze und den Satz aufstellen
wollen, daß jedes gesprochene oder geschriebene Wort beleidigen könne.

Sache des Kulturhistorikers und Sprachsorschers ist es, zu verfolgen,
wie viele heute als schlechthin beleidigend geltende Wörter erst allmählich
diesen Sinn gewonnen haben (schlecht, niederträchtig), wie andre noch heute
mitten in dieser Entwicklung stehen (Kerl, gemein im Sinne von unsittlich
oder gewöhnlich), welch feine Übergänge bis zur Beleidigung hinüber in den
Negativverbindungen enthalten sind (nicht günstig, ungünstig, abgünstig, mi߬
günstig gesinnt sein), welch merkwürdige Rolle endlich das Fremdwort in der
Beleidigung spielt. Ist es ein Zeichen zunehmender Verfeinerung des Ver¬
kehrs oder ein Beweis wachsender Raffinirtheit in der Kunst, andern wehe zu
thun, daß die alten hagebüchenen Kraftausdrücke unsrer ehrlichen Mutter¬
sprache französischen „Medisancen" mehr und mehr Platz machen? Wer denkt
nicht an die Klage Aureliens in Wilhelm Meister: „Was er in seiner Mutter-


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[0354] Sittengesetz nicht im Einklang findet. Die falsche Behauptung, der Börsen¬ baron von Jtzig oder der Korpsstudent von Prudelwitz sei von Berlin nach Breslau dritter Klasse gefahren, mag beide in ihren Kreisen aufs äußerste verächtlich machen, den Richter wird sie kalt lassen. Umgekehrt wird er den Verleumder, der im Kreise neidisch aufhorchender Wüstlinge von A erzählt, ihm sei es gelungen, die keusche Primadonna N zu verführen, nicht mit der noch so glaubwürdigen Verteidigung hören, er habe dem A damit nur ein Kompliment sagen wollen. Gerade die Prüfung des objektiven Thatbestandes der Beleidigung hat von jeher als eine der interessantesten, aber auch schwierigsten juristischen Auf¬ gaben gegolten. Gehört doch zu ihrer Lösung nicht bloß Sinn für wahre Ehre, sondern auch Vertrautheit mit den Gesetzen der Sprachwissenschaft, ja selbst mit der dialektischen Entwicklung und ein feines Ohr für alle Eigen¬ tümlichkeiten, gewissermaßen für die Dynamik der Sprache. Denn in der großen Masse der Fälle wird es sich allerdings, wie auch das Reichsgericht hervorhebt, „um zweideutige oder vieldeutige Ausdrücke und gewisse Rede¬ wendungen handeln, die je nach Interpunktion oder Betonung oder syntak¬ tischer Verbindung entweder einen vollkommen unverfänglichen oder einen ehrenrühriger Charakter zunehmen können." Nur ist es ein Widerspruch, wenn es unmittelbar darauf mit einer Lieblingswendung des neuern oberst¬ richterlichen Kurialstils als „verfehlt" bezeichnet wird, „den an sich gar nicht vorhandenen objektiven Wert solcher Sprachformen aufsuchen zu Wollen und sodann erst den subjektiven Thatbestand zu erörtern." Denn einer Vorprüfung, ob denn das zur Anklage gestellte Wort überhaupt zu jenen zwei- oder viel¬ deutigen Ausdrücken gehöre, oder ob es nur eine einzige und zwar schlechter¬ dings nicht beleidigende Bedeutung habe, soll sich der Richter doch wohl nicht entziehen dürfen. Man müßte denn leugnen, daß die Sprache überhaupt ehrende oder auch nur neutrale Ausdrücke besitze und den Satz aufstellen wollen, daß jedes gesprochene oder geschriebene Wort beleidigen könne. Sache des Kulturhistorikers und Sprachsorschers ist es, zu verfolgen, wie viele heute als schlechthin beleidigend geltende Wörter erst allmählich diesen Sinn gewonnen haben (schlecht, niederträchtig), wie andre noch heute mitten in dieser Entwicklung stehen (Kerl, gemein im Sinne von unsittlich oder gewöhnlich), welch feine Übergänge bis zur Beleidigung hinüber in den Negativverbindungen enthalten sind (nicht günstig, ungünstig, abgünstig, mi߬ günstig gesinnt sein), welch merkwürdige Rolle endlich das Fremdwort in der Beleidigung spielt. Ist es ein Zeichen zunehmender Verfeinerung des Ver¬ kehrs oder ein Beweis wachsender Raffinirtheit in der Kunst, andern wehe zu thun, daß die alten hagebüchenen Kraftausdrücke unsrer ehrlichen Mutter¬ sprache französischen „Medisancen" mehr und mehr Platz machen? Wer denkt nicht an die Klage Aureliens in Wilhelm Meister: „Was er in seiner Mutter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/354>, abgerufen am 26.08.2024.