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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Auch die meisten politischen, konfessionellen und ähnliche Kollektivbezeichnungcn
wird man hierher zu zählen haben. Zwar will es der zunehmenden Verbitte¬
rung unsers öffentlichen Lebens fast gelingen, schon in den Namen der Gegen¬
partei den Inbegriff des Verabscheuuugswttrdigen hineinzulegen. Man beob¬
achte die spitzfindigen Beweisführungen in den Leitartikeln der Pnrteipresse,
die Danaidenarbeit, in das löchrige Faß der gegnerischen Programme immer
neue Schändlichkeiten hineinzugießen, die Beflissenheit, sittliche Verschlungen
einzelner Privaten auf das Schuldkouto der Partei oder Gemeinschaft zu
schreiben, der sie angehören. Der unbefangne Leser wird aus alledem doch
nur das widerwillige Eingeständnis Heranslesen, daß die Art der wirtschaft¬
lichen, politischen, religiösen Gesinnung, die Zugehörigkeit selbst zur extremsten
Richtung, so lange diese nicht bloß den Deckmantel für sittlich verwerfliche
Bestrebungen bildet, den sittlichen Wert der einzelnen Persönlichkeit ganz un¬
berührt läßt. Es sollte daher nicht ernstlich in Frage kommen dürfen, ob im
Verkehr der gewöhnlichen, d. h. der nicht in einem besondern Pflichteilkreise
stehenden Staatsbürger Äußerungen wie: "Der X ist Sozialdemokrat," "der
Z ist Atheist" oder Postkartenaufschriften wie: "An den Juden Cohn, Mühlen¬
damm 2" überhaupt Beleidigungen sein können. Die Gerechtigkeit würde denn
doch wohl erfordern, auch den "Genossen" A mit Strafe zu belegen, der den
Genossen B, um ihn recht tief in seiner Sozialistenehre zu treffen, einen
"Bourgeois" genannt hat. Denn darüber ist, denk unsrer gegenseitigen poli¬
tischen Gehässigkeit, kein Zweifel, daß dieses Epitheton dem waschechter Sozial¬
demokraten mindestens ebenso entwürdigend vorkommt, wie dem "Ordnungs-
scmatiker" die Bezeichnung als Sozialdemokrat. So verlangt auch das Gesetz
selbst bei der durch Behaupten oder Verbreiter von Thatsachen begangenen
Beleidigung, der sogenannten leichtfertig Übeln Nachrede oder der eigentlichen
Verleumdung, daß die Thatsachen "geeignet sein müssen, den andern verächtlich
zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen." Selbstver¬
ständlich ist hiermit nicht die öffentliche Meinung gemeint, die heute Hosianna!
und morgen Kreuzige ihn! ruft, sondern eine feststehendere Größe, eine öffent¬
liche Meinung in tkssi, die wiederum nichts andres zur Richtschnur nehmen
kann, als das ewige, wenn auch nach Zeit, Raum oder Nation (ländlich,
sittlich) einem gewissen Wandel unterworfene Sittengesetz. Zu den Priestern
dieses Gesetzes bestellt, gilt auch von den Gerichten: Der Menschheit Würde
ist in eure Hand gegeben -- bewahret sie! Hebt doch das Recht selbst den
Richter damit über das Recht, wo es im Konflikt mit der Sitte steht. Wer
Kor X fälschlich behauptet, er habe wegen einer erlittenen schweren Beleidigung
an seinen Gegner eine Herausforderung zum Zweikampf erlassen, somit nach
dem Gesetz eine strafbare Handlung begangen (§ 201). wird kaum ein Schuldig
M befürchten haben. Noch weniger kann daher der Richter zum Hüter oder
Diener von Standesanschauuugen und Vorurteilen werden, die er mit dem


Grenzboten III 1891 44

Auch die meisten politischen, konfessionellen und ähnliche Kollektivbezeichnungcn
wird man hierher zu zählen haben. Zwar will es der zunehmenden Verbitte¬
rung unsers öffentlichen Lebens fast gelingen, schon in den Namen der Gegen¬
partei den Inbegriff des Verabscheuuugswttrdigen hineinzulegen. Man beob¬
achte die spitzfindigen Beweisführungen in den Leitartikeln der Pnrteipresse,
die Danaidenarbeit, in das löchrige Faß der gegnerischen Programme immer
neue Schändlichkeiten hineinzugießen, die Beflissenheit, sittliche Verschlungen
einzelner Privaten auf das Schuldkouto der Partei oder Gemeinschaft zu
schreiben, der sie angehören. Der unbefangne Leser wird aus alledem doch
nur das widerwillige Eingeständnis Heranslesen, daß die Art der wirtschaft¬
lichen, politischen, religiösen Gesinnung, die Zugehörigkeit selbst zur extremsten
Richtung, so lange diese nicht bloß den Deckmantel für sittlich verwerfliche
Bestrebungen bildet, den sittlichen Wert der einzelnen Persönlichkeit ganz un¬
berührt läßt. Es sollte daher nicht ernstlich in Frage kommen dürfen, ob im
Verkehr der gewöhnlichen, d. h. der nicht in einem besondern Pflichteilkreise
stehenden Staatsbürger Äußerungen wie: „Der X ist Sozialdemokrat," „der
Z ist Atheist" oder Postkartenaufschriften wie: „An den Juden Cohn, Mühlen¬
damm 2" überhaupt Beleidigungen sein können. Die Gerechtigkeit würde denn
doch wohl erfordern, auch den „Genossen" A mit Strafe zu belegen, der den
Genossen B, um ihn recht tief in seiner Sozialistenehre zu treffen, einen
„Bourgeois" genannt hat. Denn darüber ist, denk unsrer gegenseitigen poli¬
tischen Gehässigkeit, kein Zweifel, daß dieses Epitheton dem waschechter Sozial¬
demokraten mindestens ebenso entwürdigend vorkommt, wie dem „Ordnungs-
scmatiker" die Bezeichnung als Sozialdemokrat. So verlangt auch das Gesetz
selbst bei der durch Behaupten oder Verbreiter von Thatsachen begangenen
Beleidigung, der sogenannten leichtfertig Übeln Nachrede oder der eigentlichen
Verleumdung, daß die Thatsachen „geeignet sein müssen, den andern verächtlich
zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen." Selbstver¬
ständlich ist hiermit nicht die öffentliche Meinung gemeint, die heute Hosianna!
und morgen Kreuzige ihn! ruft, sondern eine feststehendere Größe, eine öffent¬
liche Meinung in tkssi, die wiederum nichts andres zur Richtschnur nehmen
kann, als das ewige, wenn auch nach Zeit, Raum oder Nation (ländlich,
sittlich) einem gewissen Wandel unterworfene Sittengesetz. Zu den Priestern
dieses Gesetzes bestellt, gilt auch von den Gerichten: Der Menschheit Würde
ist in eure Hand gegeben — bewahret sie! Hebt doch das Recht selbst den
Richter damit über das Recht, wo es im Konflikt mit der Sitte steht. Wer
Kor X fälschlich behauptet, er habe wegen einer erlittenen schweren Beleidigung
an seinen Gegner eine Herausforderung zum Zweikampf erlassen, somit nach
dem Gesetz eine strafbare Handlung begangen (§ 201). wird kaum ein Schuldig
M befürchten haben. Noch weniger kann daher der Richter zum Hüter oder
Diener von Standesanschauuugen und Vorurteilen werden, die er mit dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/353>, abgerufen am 26.08.2024.