Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Die Lhro und der Strafrichter

Daß dies von der Parteileitung genügend berücksichtigt werde, muß be¬
zweifelt werden. Geschähe es, und beachtete man die Klagen des Mittelstandes
etwas mehr, nähme mau sich ihrer auch mir in demselben Maße um, wie
man die Interessen des Großgrundbesitzes versieht, und löste man vor allem
das unnatürliche und gänzlich unfruchtbare Bündnis mit den weiter links
stehenden Parteien, das jede Initiative lahmt und die Partei aus der schwäch¬
lichen Verteidigungsstellung gar nicht herauskommen läßt, dann wäre der
Unterwühluug der konservativen Partei ein Ziel gesetzt und dem Antisemitismus
der Boden abgegrabeu. Mit fliegenden Fahnen würden dann die Kerntruppen
des Konservativismus, ohne die er hoffnungslos dahinschwinden muß, in die
verjüngte Partei zurückkehren, die sie mir verlassen haben, weil man ihren
lauter und lauter werdende,: Klagen nicht Rechnung trägt, und der Anti¬
semitismus, der grimme Aufschrei ihrer Unzufriedenheit würde von selbst
verstummen.

Nur an der konservativen Partei liegt es, ob dieser Ausgang eintreten
soll oder nicht. Bon ihren Thaten und Unterlassungen wird es abhängen,
ob die wilde deutsch-soziale Bewegung mit ihrer urwüchsigen Kraft, in geordnete
Bahnen geleitet, Segen stiften, oder ob sie nichts andres bringen wird, als
die Zerstörung. Die konservative Partei wird sich zu entschließen haben, ob
sie die breiten Schichten des Mittelstandes der drohenden Vernichtung entziehen
will, ob sie seine Klagen mehr als bisher zu den ihren machen will oder nicht.
Sie wird damit zugleich über ihr eignes Schicksal entscheiden. Denn sie wird
dann sozialreformatorisch, ja bis zu einem gewissen Grade sozial-radikal sein
müssen, oder -- sie wird überhaupt zu sein aufhören.



Die Ghre und der Strafrichter

cum der Staat unter die zu schützenden Ncchtsgüter auch die
Ehre aufgenommen hat, so meint er nicht Ehre im Sinne von
innerm Wert der Persönlichkeit oder Bewußtsein dieses innern
Wertes. Dieses Bewußtsein, nächst dem Frieden mit Gott viel¬
leicht das köstlichste aller Güter, bedarf keines Schutzes. Es ist,
außer durch den Trüger der Ehre selbst, schlechthin unverletzlich. Gemeine ist
vielmehr der Anspruch auf Anerkennung des eignen Wertes durch Dritte im
Verkehr der Staatsbürger uuter einander. Beleidigung im weitesten Sinne


Die Lhro und der Strafrichter

Daß dies von der Parteileitung genügend berücksichtigt werde, muß be¬
zweifelt werden. Geschähe es, und beachtete man die Klagen des Mittelstandes
etwas mehr, nähme mau sich ihrer auch mir in demselben Maße um, wie
man die Interessen des Großgrundbesitzes versieht, und löste man vor allem
das unnatürliche und gänzlich unfruchtbare Bündnis mit den weiter links
stehenden Parteien, das jede Initiative lahmt und die Partei aus der schwäch¬
lichen Verteidigungsstellung gar nicht herauskommen läßt, dann wäre der
Unterwühluug der konservativen Partei ein Ziel gesetzt und dem Antisemitismus
der Boden abgegrabeu. Mit fliegenden Fahnen würden dann die Kerntruppen
des Konservativismus, ohne die er hoffnungslos dahinschwinden muß, in die
verjüngte Partei zurückkehren, die sie mir verlassen haben, weil man ihren
lauter und lauter werdende,: Klagen nicht Rechnung trägt, und der Anti¬
semitismus, der grimme Aufschrei ihrer Unzufriedenheit würde von selbst
verstummen.

Nur an der konservativen Partei liegt es, ob dieser Ausgang eintreten
soll oder nicht. Bon ihren Thaten und Unterlassungen wird es abhängen,
ob die wilde deutsch-soziale Bewegung mit ihrer urwüchsigen Kraft, in geordnete
Bahnen geleitet, Segen stiften, oder ob sie nichts andres bringen wird, als
die Zerstörung. Die konservative Partei wird sich zu entschließen haben, ob
sie die breiten Schichten des Mittelstandes der drohenden Vernichtung entziehen
will, ob sie seine Klagen mehr als bisher zu den ihren machen will oder nicht.
Sie wird damit zugleich über ihr eignes Schicksal entscheiden. Denn sie wird
dann sozialreformatorisch, ja bis zu einem gewissen Grade sozial-radikal sein
müssen, oder — sie wird überhaupt zu sein aufhören.



Die Ghre und der Strafrichter

cum der Staat unter die zu schützenden Ncchtsgüter auch die
Ehre aufgenommen hat, so meint er nicht Ehre im Sinne von
innerm Wert der Persönlichkeit oder Bewußtsein dieses innern
Wertes. Dieses Bewußtsein, nächst dem Frieden mit Gott viel¬
leicht das köstlichste aller Güter, bedarf keines Schutzes. Es ist,
außer durch den Trüger der Ehre selbst, schlechthin unverletzlich. Gemeine ist
vielmehr der Anspruch auf Anerkennung des eignen Wertes durch Dritte im
Verkehr der Staatsbürger uuter einander. Beleidigung im weitesten Sinne


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0349" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290118"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Lhro und der Strafrichter</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1005"> Daß dies von der Parteileitung genügend berücksichtigt werde, muß be¬<lb/>
zweifelt werden. Geschähe es, und beachtete man die Klagen des Mittelstandes<lb/>
etwas mehr, nähme mau sich ihrer auch mir in demselben Maße um, wie<lb/>
man die Interessen des Großgrundbesitzes versieht, und löste man vor allem<lb/>
das unnatürliche und gänzlich unfruchtbare Bündnis mit den weiter links<lb/>
stehenden Parteien, das jede Initiative lahmt und die Partei aus der schwäch¬<lb/>
lichen Verteidigungsstellung gar nicht herauskommen läßt, dann wäre der<lb/>
Unterwühluug der konservativen Partei ein Ziel gesetzt und dem Antisemitismus<lb/>
der Boden abgegrabeu. Mit fliegenden Fahnen würden dann die Kerntruppen<lb/>
des Konservativismus, ohne die er hoffnungslos dahinschwinden muß, in die<lb/>
verjüngte Partei zurückkehren, die sie mir verlassen haben, weil man ihren<lb/>
lauter und lauter werdende,: Klagen nicht Rechnung trägt, und der Anti¬<lb/>
semitismus, der grimme Aufschrei ihrer Unzufriedenheit würde von selbst<lb/>
verstummen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1006"> Nur an der konservativen Partei liegt es, ob dieser Ausgang eintreten<lb/>
soll oder nicht. Bon ihren Thaten und Unterlassungen wird es abhängen,<lb/>
ob die wilde deutsch-soziale Bewegung mit ihrer urwüchsigen Kraft, in geordnete<lb/>
Bahnen geleitet, Segen stiften, oder ob sie nichts andres bringen wird, als<lb/>
die Zerstörung. Die konservative Partei wird sich zu entschließen haben, ob<lb/>
sie die breiten Schichten des Mittelstandes der drohenden Vernichtung entziehen<lb/>
will, ob sie seine Klagen mehr als bisher zu den ihren machen will oder nicht.<lb/>
Sie wird damit zugleich über ihr eignes Schicksal entscheiden. Denn sie wird<lb/>
dann sozialreformatorisch, ja bis zu einem gewissen Grade sozial-radikal sein<lb/>
müssen, oder &#x2014; sie wird überhaupt zu sein aufhören.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Ghre und der Strafrichter</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1007" next="#ID_1008"> cum der Staat unter die zu schützenden Ncchtsgüter auch die<lb/>
Ehre aufgenommen hat, so meint er nicht Ehre im Sinne von<lb/>
innerm Wert der Persönlichkeit oder Bewußtsein dieses innern<lb/>
Wertes. Dieses Bewußtsein, nächst dem Frieden mit Gott viel¬<lb/>
leicht das köstlichste aller Güter, bedarf keines Schutzes. Es ist,<lb/>
außer durch den Trüger der Ehre selbst, schlechthin unverletzlich. Gemeine ist<lb/>
vielmehr der Anspruch auf Anerkennung des eignen Wertes durch Dritte im<lb/>
Verkehr der Staatsbürger uuter einander. Beleidigung im weitesten Sinne</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0349] Die Lhro und der Strafrichter Daß dies von der Parteileitung genügend berücksichtigt werde, muß be¬ zweifelt werden. Geschähe es, und beachtete man die Klagen des Mittelstandes etwas mehr, nähme mau sich ihrer auch mir in demselben Maße um, wie man die Interessen des Großgrundbesitzes versieht, und löste man vor allem das unnatürliche und gänzlich unfruchtbare Bündnis mit den weiter links stehenden Parteien, das jede Initiative lahmt und die Partei aus der schwäch¬ lichen Verteidigungsstellung gar nicht herauskommen läßt, dann wäre der Unterwühluug der konservativen Partei ein Ziel gesetzt und dem Antisemitismus der Boden abgegrabeu. Mit fliegenden Fahnen würden dann die Kerntruppen des Konservativismus, ohne die er hoffnungslos dahinschwinden muß, in die verjüngte Partei zurückkehren, die sie mir verlassen haben, weil man ihren lauter und lauter werdende,: Klagen nicht Rechnung trägt, und der Anti¬ semitismus, der grimme Aufschrei ihrer Unzufriedenheit würde von selbst verstummen. Nur an der konservativen Partei liegt es, ob dieser Ausgang eintreten soll oder nicht. Bon ihren Thaten und Unterlassungen wird es abhängen, ob die wilde deutsch-soziale Bewegung mit ihrer urwüchsigen Kraft, in geordnete Bahnen geleitet, Segen stiften, oder ob sie nichts andres bringen wird, als die Zerstörung. Die konservative Partei wird sich zu entschließen haben, ob sie die breiten Schichten des Mittelstandes der drohenden Vernichtung entziehen will, ob sie seine Klagen mehr als bisher zu den ihren machen will oder nicht. Sie wird damit zugleich über ihr eignes Schicksal entscheiden. Denn sie wird dann sozialreformatorisch, ja bis zu einem gewissen Grade sozial-radikal sein müssen, oder — sie wird überhaupt zu sein aufhören. Die Ghre und der Strafrichter cum der Staat unter die zu schützenden Ncchtsgüter auch die Ehre aufgenommen hat, so meint er nicht Ehre im Sinne von innerm Wert der Persönlichkeit oder Bewußtsein dieses innern Wertes. Dieses Bewußtsein, nächst dem Frieden mit Gott viel¬ leicht das köstlichste aller Güter, bedarf keines Schutzes. Es ist, außer durch den Trüger der Ehre selbst, schlechthin unverletzlich. Gemeine ist vielmehr der Anspruch auf Anerkennung des eignen Wertes durch Dritte im Verkehr der Staatsbürger uuter einander. Beleidigung im weitesten Sinne

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/349
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/349>, abgerufen am 23.07.2024.