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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die deutsch-soziale Bewegung und die konservative Partei

in der Presse, und schließlich mußte mau sich beschämt eingestehen, daß man sich
geirrt, und daß auch hier die "schmachvolle" Bewegung Eingang gefunden habe.

Wir haben nie zu denen gehört, die dem Antisemitismus oder, wie wir
ihn lieber nennen, der deutsch-sozialen Bewegung jede Bedeutung und jede
Berechtigung abgesprochen haben; wir haben es immer für eine der beklagens¬
wertesten Thatsachen gehalten, daß der weitaus größte Teil der deutschen Presse,
statt die Ursachen dieser Bewegung aufzusuchen, sie verstehen zu lernen
und dadurch ein objektives Urteil über sie zu gewinnen, sie von vornherein
bedingungslos verdammt und von ihr nichts weiteres zu sagen gewußt hat,
als daß sie eine Schmach für Deutschland sei.

Noch immer hat es sich sowohl im Leben des Einzelnen wie im Leben
der Völker aufs schwerste gerächt, wenn man die Thatsachen, statt sie zu be¬
greifen, nur beklagte, und wenn man den alten Weisheitsspruch aller Geschichte
und aller Politik außer acht ließ: rsruin eoMOsosrö eMW. Nicht darum
handelt es sich in der Politik, zu sagen, ob eine Bewegung, die die Volks-
massen ergreift, revolutionär, verwerflich, kulturfeindlich, schmachvoll sei, oder
wie sonst die Beiwörter heißen mögen, mit denen man die antisemitische Be¬
wegung bezeichnet hat, sondern nur das steht in Frage, ob die Bewegung
eine innere Berechtigung habe, ob Mißstände bestehen, denen sie ihren Ursprung
verdankt, und die beseitigt werden müssen, wenn die Bewegung nicht eine Ge¬
fahr für die Gesamtheit werden soll. Nur eine derartige Betrachtungsweise
führt zu fruchtbringenden Ergebnissen, macht uns zu Herren der Bewegung
und verhindert, daß sie sich in das uferlose Meer eines gefährlichen und plan¬
losen Radikalismus verliert.

Was für die Sozialdemokratie gilt, das gilt auch in Bezug auf die Be¬
handlung ihres feindlichen Bruders, des auf demselben Nährboden der Unzu¬
friedenheit entstandenen Antisemitismus; es wäre nichts gefährlicher ihnen
gegenüber als eine Politik des Zornes und der Übeln Laune. Während man
hoch über der Bewegung zu stehen meinte und sie durch ein strenges Straf¬
gericht moralisch vernichtet zu haben wähnte, hatte man in Wahrheit ihrer
Einseitigkeit die eigne, ihren Vorurteilen die eignen entgegengestellt, den Zorn
und die üble Laune auf der andern Seite vermehrt, die trennenden Schranken
erhöht, die Möglichkeit einer Verständigung in die Ferne gerückt und so das
Seine dazu gethan, daß der unheilvolle Ausgang auch wirklich einträte, den
man als unvermeidlich darzustellen bestrebt ist.

Es ist die höchste Zeit, daß diese Politik des wüsten und planlosen Drein-
schlagcns endlich verlassen werde, und namentlich ist es die Aufgabe der wahr¬
haft kouservcitivcu und staatserhaltenden Partei, sie zu verlassen.

Fürst Vismarck hat kürzlich in einer inhaltreichen Ansprache, die er vor
einer Deputation des Kieler konservativen Vereins hielt, darauf hingewiesen,
daß der Konservativismus keineswegs gleichbedeutend sei mit einer ruheseligen


Die deutsch-soziale Bewegung und die konservative Partei

in der Presse, und schließlich mußte mau sich beschämt eingestehen, daß man sich
geirrt, und daß auch hier die „schmachvolle" Bewegung Eingang gefunden habe.

Wir haben nie zu denen gehört, die dem Antisemitismus oder, wie wir
ihn lieber nennen, der deutsch-sozialen Bewegung jede Bedeutung und jede
Berechtigung abgesprochen haben; wir haben es immer für eine der beklagens¬
wertesten Thatsachen gehalten, daß der weitaus größte Teil der deutschen Presse,
statt die Ursachen dieser Bewegung aufzusuchen, sie verstehen zu lernen
und dadurch ein objektives Urteil über sie zu gewinnen, sie von vornherein
bedingungslos verdammt und von ihr nichts weiteres zu sagen gewußt hat,
als daß sie eine Schmach für Deutschland sei.

Noch immer hat es sich sowohl im Leben des Einzelnen wie im Leben
der Völker aufs schwerste gerächt, wenn man die Thatsachen, statt sie zu be¬
greifen, nur beklagte, und wenn man den alten Weisheitsspruch aller Geschichte
und aller Politik außer acht ließ: rsruin eoMOsosrö eMW. Nicht darum
handelt es sich in der Politik, zu sagen, ob eine Bewegung, die die Volks-
massen ergreift, revolutionär, verwerflich, kulturfeindlich, schmachvoll sei, oder
wie sonst die Beiwörter heißen mögen, mit denen man die antisemitische Be¬
wegung bezeichnet hat, sondern nur das steht in Frage, ob die Bewegung
eine innere Berechtigung habe, ob Mißstände bestehen, denen sie ihren Ursprung
verdankt, und die beseitigt werden müssen, wenn die Bewegung nicht eine Ge¬
fahr für die Gesamtheit werden soll. Nur eine derartige Betrachtungsweise
führt zu fruchtbringenden Ergebnissen, macht uns zu Herren der Bewegung
und verhindert, daß sie sich in das uferlose Meer eines gefährlichen und plan¬
losen Radikalismus verliert.

Was für die Sozialdemokratie gilt, das gilt auch in Bezug auf die Be¬
handlung ihres feindlichen Bruders, des auf demselben Nährboden der Unzu¬
friedenheit entstandenen Antisemitismus; es wäre nichts gefährlicher ihnen
gegenüber als eine Politik des Zornes und der Übeln Laune. Während man
hoch über der Bewegung zu stehen meinte und sie durch ein strenges Straf¬
gericht moralisch vernichtet zu haben wähnte, hatte man in Wahrheit ihrer
Einseitigkeit die eigne, ihren Vorurteilen die eignen entgegengestellt, den Zorn
und die üble Laune auf der andern Seite vermehrt, die trennenden Schranken
erhöht, die Möglichkeit einer Verständigung in die Ferne gerückt und so das
Seine dazu gethan, daß der unheilvolle Ausgang auch wirklich einträte, den
man als unvermeidlich darzustellen bestrebt ist.

Es ist die höchste Zeit, daß diese Politik des wüsten und planlosen Drein-
schlagcns endlich verlassen werde, und namentlich ist es die Aufgabe der wahr¬
haft kouservcitivcu und staatserhaltenden Partei, sie zu verlassen.

Fürst Vismarck hat kürzlich in einer inhaltreichen Ansprache, die er vor
einer Deputation des Kieler konservativen Vereins hielt, darauf hingewiesen,
daß der Konservativismus keineswegs gleichbedeutend sei mit einer ruheseligen


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[0346] Die deutsch-soziale Bewegung und die konservative Partei in der Presse, und schließlich mußte mau sich beschämt eingestehen, daß man sich geirrt, und daß auch hier die „schmachvolle" Bewegung Eingang gefunden habe. Wir haben nie zu denen gehört, die dem Antisemitismus oder, wie wir ihn lieber nennen, der deutsch-sozialen Bewegung jede Bedeutung und jede Berechtigung abgesprochen haben; wir haben es immer für eine der beklagens¬ wertesten Thatsachen gehalten, daß der weitaus größte Teil der deutschen Presse, statt die Ursachen dieser Bewegung aufzusuchen, sie verstehen zu lernen und dadurch ein objektives Urteil über sie zu gewinnen, sie von vornherein bedingungslos verdammt und von ihr nichts weiteres zu sagen gewußt hat, als daß sie eine Schmach für Deutschland sei. Noch immer hat es sich sowohl im Leben des Einzelnen wie im Leben der Völker aufs schwerste gerächt, wenn man die Thatsachen, statt sie zu be¬ greifen, nur beklagte, und wenn man den alten Weisheitsspruch aller Geschichte und aller Politik außer acht ließ: rsruin eoMOsosrö eMW. Nicht darum handelt es sich in der Politik, zu sagen, ob eine Bewegung, die die Volks- massen ergreift, revolutionär, verwerflich, kulturfeindlich, schmachvoll sei, oder wie sonst die Beiwörter heißen mögen, mit denen man die antisemitische Be¬ wegung bezeichnet hat, sondern nur das steht in Frage, ob die Bewegung eine innere Berechtigung habe, ob Mißstände bestehen, denen sie ihren Ursprung verdankt, und die beseitigt werden müssen, wenn die Bewegung nicht eine Ge¬ fahr für die Gesamtheit werden soll. Nur eine derartige Betrachtungsweise führt zu fruchtbringenden Ergebnissen, macht uns zu Herren der Bewegung und verhindert, daß sie sich in das uferlose Meer eines gefährlichen und plan¬ losen Radikalismus verliert. Was für die Sozialdemokratie gilt, das gilt auch in Bezug auf die Be¬ handlung ihres feindlichen Bruders, des auf demselben Nährboden der Unzu¬ friedenheit entstandenen Antisemitismus; es wäre nichts gefährlicher ihnen gegenüber als eine Politik des Zornes und der Übeln Laune. Während man hoch über der Bewegung zu stehen meinte und sie durch ein strenges Straf¬ gericht moralisch vernichtet zu haben wähnte, hatte man in Wahrheit ihrer Einseitigkeit die eigne, ihren Vorurteilen die eignen entgegengestellt, den Zorn und die üble Laune auf der andern Seite vermehrt, die trennenden Schranken erhöht, die Möglichkeit einer Verständigung in die Ferne gerückt und so das Seine dazu gethan, daß der unheilvolle Ausgang auch wirklich einträte, den man als unvermeidlich darzustellen bestrebt ist. Es ist die höchste Zeit, daß diese Politik des wüsten und planlosen Drein- schlagcns endlich verlassen werde, und namentlich ist es die Aufgabe der wahr¬ haft kouservcitivcu und staatserhaltenden Partei, sie zu verlassen. Fürst Vismarck hat kürzlich in einer inhaltreichen Ansprache, die er vor einer Deputation des Kieler konservativen Vereins hielt, darauf hingewiesen, daß der Konservativismus keineswegs gleichbedeutend sei mit einer ruheseligen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/346>, abgerufen am 26.08.2024.