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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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mir schon vorhin so vor. Schau doch mal in der Schultasche nach! Jeti ging
an meinen Platz, wo mir meine Nachbarin Martha mit ihren stillen Augen zu¬
lächelte. Aber ich schämte mich, ihr zu gestehen, daß ich die Rechnung nicht
verstanden hätte. Da ist sie! rief die Irma und streckte mir ein Blatt über
die Bank. Mich wundert, daß du sie herausgebracht hast, sagte ich. Sie
schaute mich erstaunt an, dann sagte sie: Rasch, nimm, er kommt! Nein,
du brauchst sie ja jetzt! Jetzt? Meine Geistesverwirrung schien für sie den
Höhepunkt erreicht zu haben, denn sie tupfte sich nnr mit dem Zeigefinger
auf die Stirn und sah mich stumm an.

In diesem Augenblicke ging die Thür ans. Grabesstille legte sich über
das Zimmer. Heiße Wißbegierde leuchtete dem Eintretenden ans allen Ge¬
sichtern entgegen. Doch der sah wenig davon. Er ließ nur einen zerstreuten
Blick über die Köpfe gleiten, dann schritt seine magere, eingedrückte Gestalt
auf das Pult zu. Ich faltete rasch das Blatt auseinander, um mir wenigstens
die Rechnung flüchtig anzusehen.

Fast hätte ich laut ausgelacht. Nun war mir freilich alles klar. Statt
der erwarteten Ziffern schaute mich ein fürchterlich ins Knrikaturenhafte ge¬
zogenes Bild des Herrn Blümle an. Jetzt fiel mir ein, daß wir gestern davon
gesprochen hatten, wir wollten beide versuchen, ihn so komisch wie möglich zu
zeichnen. Ich kritzelte "Ausgezeichnet!" ans ein Fetzchcn Papier und schnellte
es der Irma hinüber. Aber es verfehlte seine Richtung und sprang auf den
Boden vor das Pult. Mein Herz stockte einen Augenblick, denn Herrn Vlümles
Augen sahen gerade darauf nieder. Doch dann blickten sie zerstreut zur Decke
empor, als ob es da heruntergekommen wäre, und sein Mund sagte: Wir
haben in der letzten Stunde -- nicht aufgepaßt, hörte ich die Irma brummen --
eine neue Rechenart durchgenommen, fuhr er fort, ich habe Ihnen eine Auf¬
gabe zu lösen gegeben; wer sie nicht verstanden hat, mag sich erheben. Tiefe
Stille. Nur vor mir knackte etwas, und ich sah die Irma langsam ans der
Bank emporwachsen. Sonst blieb alles sitzen. Voll Scham blickte ich vor
nur nieder, dann machte ich eine Bewegung, um gleichfalls aufzustehen.
Doch da zupfte mich eine Hand um Ärmel, und eine Stimme flüsterte: Bleib
doch sitzen, du hast sie ja! Verwirre schlug ich mein Heft auf, wahrhaftig,
da stand sie, sauber und deutlich! Ich kannte die Schrift wohl und stotterte:
Martha, wie soll ich dir danken! Woher wußtest du , wann hast du es ge-
than? Sie sah mich lächelnd an und sagte: Ich dachte es mir so halb, drum
schaute ich einmal in dein Heft hinein, vorhin, als du mit der Irma warst. Ich
drückte ihr gerührt die Hand und gelobte mir, von nun an immer aufzupassen.

Da wandelte mich plötzlich ein furchtbarer Lachreiz an: noch immer ragte
die Irma einsam aus der Bank empor! Jetzt traf sie der Blick des Herrn Blümle,
und mit einem schmerzlichen Lächeln sagte er: Hesse, Sie werden es nie lernen.
Sie nickte stumm mit dein Kopfe, denn setzte sie sich.


mir schon vorhin so vor. Schau doch mal in der Schultasche nach! Jeti ging
an meinen Platz, wo mir meine Nachbarin Martha mit ihren stillen Augen zu¬
lächelte. Aber ich schämte mich, ihr zu gestehen, daß ich die Rechnung nicht
verstanden hätte. Da ist sie! rief die Irma und streckte mir ein Blatt über
die Bank. Mich wundert, daß du sie herausgebracht hast, sagte ich. Sie
schaute mich erstaunt an, dann sagte sie: Rasch, nimm, er kommt! Nein,
du brauchst sie ja jetzt! Jetzt? Meine Geistesverwirrung schien für sie den
Höhepunkt erreicht zu haben, denn sie tupfte sich nnr mit dem Zeigefinger
auf die Stirn und sah mich stumm an.

In diesem Augenblicke ging die Thür ans. Grabesstille legte sich über
das Zimmer. Heiße Wißbegierde leuchtete dem Eintretenden ans allen Ge¬
sichtern entgegen. Doch der sah wenig davon. Er ließ nur einen zerstreuten
Blick über die Köpfe gleiten, dann schritt seine magere, eingedrückte Gestalt
auf das Pult zu. Ich faltete rasch das Blatt auseinander, um mir wenigstens
die Rechnung flüchtig anzusehen.

Fast hätte ich laut ausgelacht. Nun war mir freilich alles klar. Statt
der erwarteten Ziffern schaute mich ein fürchterlich ins Knrikaturenhafte ge¬
zogenes Bild des Herrn Blümle an. Jetzt fiel mir ein, daß wir gestern davon
gesprochen hatten, wir wollten beide versuchen, ihn so komisch wie möglich zu
zeichnen. Ich kritzelte „Ausgezeichnet!" ans ein Fetzchcn Papier und schnellte
es der Irma hinüber. Aber es verfehlte seine Richtung und sprang auf den
Boden vor das Pult. Mein Herz stockte einen Augenblick, denn Herrn Vlümles
Augen sahen gerade darauf nieder. Doch dann blickten sie zerstreut zur Decke
empor, als ob es da heruntergekommen wäre, und sein Mund sagte: Wir
haben in der letzten Stunde — nicht aufgepaßt, hörte ich die Irma brummen —
eine neue Rechenart durchgenommen, fuhr er fort, ich habe Ihnen eine Auf¬
gabe zu lösen gegeben; wer sie nicht verstanden hat, mag sich erheben. Tiefe
Stille. Nur vor mir knackte etwas, und ich sah die Irma langsam ans der
Bank emporwachsen. Sonst blieb alles sitzen. Voll Scham blickte ich vor
nur nieder, dann machte ich eine Bewegung, um gleichfalls aufzustehen.
Doch da zupfte mich eine Hand um Ärmel, und eine Stimme flüsterte: Bleib
doch sitzen, du hast sie ja! Verwirre schlug ich mein Heft auf, wahrhaftig,
da stand sie, sauber und deutlich! Ich kannte die Schrift wohl und stotterte:
Martha, wie soll ich dir danken! Woher wußtest du , wann hast du es ge-
than? Sie sah mich lächelnd an und sagte: Ich dachte es mir so halb, drum
schaute ich einmal in dein Heft hinein, vorhin, als du mit der Irma warst. Ich
drückte ihr gerührt die Hand und gelobte mir, von nun an immer aufzupassen.

Da wandelte mich plötzlich ein furchtbarer Lachreiz an: noch immer ragte
die Irma einsam aus der Bank empor! Jetzt traf sie der Blick des Herrn Blümle,
und mit einem schmerzlichen Lächeln sagte er: Hesse, Sie werden es nie lernen.
Sie nickte stumm mit dein Kopfe, denn setzte sie sich.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/335>, abgerufen am 26.08.2024.