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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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demselben Augenblick umdrehte! Wie mit Blut übergössen saß ich da und
erwartete den Todesstoß. Die fürchterlichsten Strafen stiegen vor meiner Seele
auf. Betäubend brauste es mir vor den Ohren: Weh dem, der zu der Wahr¬
heit kommt durch Schuld! Er sah mich an und wiegte leise den Kopf hin
und her. Dann ging ein Lächeln um seinen Mund, und mit den Worten:
Sie Kindskopf! schritt er langsam aus Pult zurück.

Da fuhr ich zusammen. Ein Papierkügelchen hatte mich gerade unter
der Nase getroffen, sodaß ein kurzer Schreckenslaut meinem Munde entfuhr.
Ich räusperte mich zwar gleich darauf, als hätte es nichts zu bedeuten gehabt,
aber es streifte mich doch ein flüchtiger Blick aus Professor Knittels Augen.
Was mußte er von mir denken! Er, für den ich mein Leben hätte hinwerfen
können! Ärgerlich sah ich zu Irma, der Urheberin, hinüber. Sie saß mit dem
leidenden Gesicht einer Märtyrerin da. Alle ihre Gedanken schienen einzig in
Schiller aufzugehen. Irma, flüsterte ich, das verbitt ich mir! Verständnislos
sah sie mich an mit ihren großen, blauen, treuherzigen Augen. O, wie kannte ich
diese Augen! Und auch den Mund darunter, um den es gleich fernem Wetter¬
leuchten vor herunterprasselndem Gewitter zuckte.

Da klang eine helle Glocke, und alle Gesichter atmeten auf. Professor
Knittel erhob sich und verließ mit den Worten: Bitte, bleiben Sie sitzen,
meine Damen, das Zimmer. Ich warf noch einen scheuen Blick in sein bleiches
Antlitz, dann schloß sich die Thür hinter seiner verehrten gedrungenen Gestalt.
Und in demselben Angenblick standen auch alle Plätze der "Damen" leer. Es
entstand ein wildes Chaos, ein Lachen, Rufen, der Tafelschwamm sauste dnrch
die Luft.

Um mich von meinem Schrecken zu erholen, der mir wirklich in alle
Glieder gefahren war, ging ich auf den Flur hinaus. Da lag unter dein
Bogenfenster, wie am Morgen, der kleine Garten. Gedankenvoll sah ich hin¬
unter. Doch gleich darauf fuhr ich erschreckt in die Höhe. Es hatte mir
jemand fürchterlich ins Ohr geblasen. Ich drehte mich um und sah in der
Irma ihr ausgelassenes Gesicht. Was machst du da eigentlich? fragte sie
und schaute sich neugierig um, zog mich aber, als sie nichts entdecken konnte,
ungeduldig mit sich fort. Dn, das war köstlich heut in der Stunde, hast du
übrigens gesehen, wie er dich angeschmachtet hat? Wer? fragte ich gedankenlos.
Sie sah mich an, als zweifelte sie an meinem Verstände. Ja so, Professor
Knittel meinst du! Seit wann nennst du ihn denn nicht mehr Franz?

Wir kamen ins Klassenzimmer zurück, wo alles noch drunter und drüber
ging. Zentnerschwer fiel mir die Rechnung aufs Herz, und ich fragte die Irma:
Hast du sie? Natürlich! Das war ein Stich. Wenn die Irma sie verstanden
hatte, dann war ich die einzige in der Klasse, die sie nicht hatte lösen können.
Ich sah sie verwundert, wie ungläubig, an, sodaß sie lachend fragte: Bist du
übergeschnappt? Oder hast nnr deinen Verstand noch nicht ausgepackt? Es kam


demselben Augenblick umdrehte! Wie mit Blut übergössen saß ich da und
erwartete den Todesstoß. Die fürchterlichsten Strafen stiegen vor meiner Seele
auf. Betäubend brauste es mir vor den Ohren: Weh dem, der zu der Wahr¬
heit kommt durch Schuld! Er sah mich an und wiegte leise den Kopf hin
und her. Dann ging ein Lächeln um seinen Mund, und mit den Worten:
Sie Kindskopf! schritt er langsam aus Pult zurück.

Da fuhr ich zusammen. Ein Papierkügelchen hatte mich gerade unter
der Nase getroffen, sodaß ein kurzer Schreckenslaut meinem Munde entfuhr.
Ich räusperte mich zwar gleich darauf, als hätte es nichts zu bedeuten gehabt,
aber es streifte mich doch ein flüchtiger Blick aus Professor Knittels Augen.
Was mußte er von mir denken! Er, für den ich mein Leben hätte hinwerfen
können! Ärgerlich sah ich zu Irma, der Urheberin, hinüber. Sie saß mit dem
leidenden Gesicht einer Märtyrerin da. Alle ihre Gedanken schienen einzig in
Schiller aufzugehen. Irma, flüsterte ich, das verbitt ich mir! Verständnislos
sah sie mich an mit ihren großen, blauen, treuherzigen Augen. O, wie kannte ich
diese Augen! Und auch den Mund darunter, um den es gleich fernem Wetter¬
leuchten vor herunterprasselndem Gewitter zuckte.

Da klang eine helle Glocke, und alle Gesichter atmeten auf. Professor
Knittel erhob sich und verließ mit den Worten: Bitte, bleiben Sie sitzen,
meine Damen, das Zimmer. Ich warf noch einen scheuen Blick in sein bleiches
Antlitz, dann schloß sich die Thür hinter seiner verehrten gedrungenen Gestalt.
Und in demselben Angenblick standen auch alle Plätze der „Damen" leer. Es
entstand ein wildes Chaos, ein Lachen, Rufen, der Tafelschwamm sauste dnrch
die Luft.

Um mich von meinem Schrecken zu erholen, der mir wirklich in alle
Glieder gefahren war, ging ich auf den Flur hinaus. Da lag unter dein
Bogenfenster, wie am Morgen, der kleine Garten. Gedankenvoll sah ich hin¬
unter. Doch gleich darauf fuhr ich erschreckt in die Höhe. Es hatte mir
jemand fürchterlich ins Ohr geblasen. Ich drehte mich um und sah in der
Irma ihr ausgelassenes Gesicht. Was machst du da eigentlich? fragte sie
und schaute sich neugierig um, zog mich aber, als sie nichts entdecken konnte,
ungeduldig mit sich fort. Dn, das war köstlich heut in der Stunde, hast du
übrigens gesehen, wie er dich angeschmachtet hat? Wer? fragte ich gedankenlos.
Sie sah mich an, als zweifelte sie an meinem Verstände. Ja so, Professor
Knittel meinst du! Seit wann nennst du ihn denn nicht mehr Franz?

Wir kamen ins Klassenzimmer zurück, wo alles noch drunter und drüber
ging. Zentnerschwer fiel mir die Rechnung aufs Herz, und ich fragte die Irma:
Hast du sie? Natürlich! Das war ein Stich. Wenn die Irma sie verstanden
hatte, dann war ich die einzige in der Klasse, die sie nicht hatte lösen können.
Ich sah sie verwundert, wie ungläubig, an, sodaß sie lachend fragte: Bist du
übergeschnappt? Oder hast nnr deinen Verstand noch nicht ausgepackt? Es kam


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/334>, abgerufen am 26.08.2024.