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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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(Lin Morgen in der Mädchenschule

er alte Klostergang der Mädchenschule lag noch lautlos still;
es war fast eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts.
Aber mein schlechtes Gewissen hatte mich von zu Hause fort¬
getrieben, die leere Seite meines Rechenheftes gähnte mich überall
gespenstisch an, obgleich sie wohlverpackt in der dunkeln Schul¬
tasche steckte. Ich will doch mal sehen, wer in dieser Stunde aufgepaßt hat,
es wird sich ja an der Losung der Aufgabe zeigen. Diese Worte klangen
mir noch im Ohre, mir war, als fühlte ich noch den kurzen Seitenblick, der
mich dabei gestreift hatte. Warum eigentlich mich? Ich hatte wohl gesehen,
wie die Irma vor mir unter der Bank ihre Nägel schnitt, mit jedesmaliger
Freude, wenn ein Stückchen davon hoch in die Luft schnellte und verschwand.
Aber ich? Hatte ich nicht gerade gestern, aufmerksamer denn je, Herrn Blümle
fortwährend ansehen müssen, da mir in der Pause anvertraut worden war,
er hätte eine Perücke? Dann war die Stunde zu Ende gewesen, und mit
jenen verhängnisvollen Worten hatte Herr Blümle das Klassenzimmer ver¬
lassen, und mit jenem Seitenblick. Der war wahrhaftig überflüssig -- eigentlich
unverschämt. Es war gestern sehr warm gewesen. Ob diesen Nachmittag
wohl Hitzefericn sein wurden? hatte ich bei mir gedacht, da könntest du ja
ein bischen zur Martha gehen, um die Rechenaufgabe mit ihr zusammen zu
machen. Aber es waren keine gewesen, und ich hatte mich abends allein
davor gesetzt, war aber zum Glück bald dahintergekommen, daß das Ganze
doch der reine Blödsinn sei: da müsse doch wenigstens eine Erklärung voran¬
gehen, wie man die Aufgabe anzupacken habe! Nein, Herr Blümle war doch
recht ungenügend für die Rechenschule; das zeigte sich hier wieder einmal
deutlich. Es wird' sie niemand gelöst haben, sagte ich etwas unbehaglich
zu mir selbst, als ich mich am andern Morgen, eine halbe Stunde früher als
sonst, auf den Schulweg machte.

Unter solchen Betrachtungen schritt ich den gewölbten Gang hinunter.
Wie totenstill es noch war, fast unheimlich! Nur vom andern Ende tönte
der schlürfende Schritt des alten Schuldieuers herüber. Der hat es eigentlich
gut, dachte ich bei mir, und sprang vorsichtig über die Ritzen zwischen den
großen Steinplatten.




(Lin Morgen in der Mädchenschule

er alte Klostergang der Mädchenschule lag noch lautlos still;
es war fast eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts.
Aber mein schlechtes Gewissen hatte mich von zu Hause fort¬
getrieben, die leere Seite meines Rechenheftes gähnte mich überall
gespenstisch an, obgleich sie wohlverpackt in der dunkeln Schul¬
tasche steckte. Ich will doch mal sehen, wer in dieser Stunde aufgepaßt hat,
es wird sich ja an der Losung der Aufgabe zeigen. Diese Worte klangen
mir noch im Ohre, mir war, als fühlte ich noch den kurzen Seitenblick, der
mich dabei gestreift hatte. Warum eigentlich mich? Ich hatte wohl gesehen,
wie die Irma vor mir unter der Bank ihre Nägel schnitt, mit jedesmaliger
Freude, wenn ein Stückchen davon hoch in die Luft schnellte und verschwand.
Aber ich? Hatte ich nicht gerade gestern, aufmerksamer denn je, Herrn Blümle
fortwährend ansehen müssen, da mir in der Pause anvertraut worden war,
er hätte eine Perücke? Dann war die Stunde zu Ende gewesen, und mit
jenen verhängnisvollen Worten hatte Herr Blümle das Klassenzimmer ver¬
lassen, und mit jenem Seitenblick. Der war wahrhaftig überflüssig — eigentlich
unverschämt. Es war gestern sehr warm gewesen. Ob diesen Nachmittag
wohl Hitzefericn sein wurden? hatte ich bei mir gedacht, da könntest du ja
ein bischen zur Martha gehen, um die Rechenaufgabe mit ihr zusammen zu
machen. Aber es waren keine gewesen, und ich hatte mich abends allein
davor gesetzt, war aber zum Glück bald dahintergekommen, daß das Ganze
doch der reine Blödsinn sei: da müsse doch wenigstens eine Erklärung voran¬
gehen, wie man die Aufgabe anzupacken habe! Nein, Herr Blümle war doch
recht ungenügend für die Rechenschule; das zeigte sich hier wieder einmal
deutlich. Es wird' sie niemand gelöst haben, sagte ich etwas unbehaglich
zu mir selbst, als ich mich am andern Morgen, eine halbe Stunde früher als
sonst, auf den Schulweg machte.

Unter solchen Betrachtungen schritt ich den gewölbten Gang hinunter.
Wie totenstill es noch war, fast unheimlich! Nur vom andern Ende tönte
der schlürfende Schritt des alten Schuldieuers herüber. Der hat es eigentlich
gut, dachte ich bei mir, und sprang vorsichtig über die Ritzen zwischen den
großen Steinplatten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/330>, abgerufen am 13.11.2024.