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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die freie Bühne und der Naturalismus

selten der Dialekte in voller Breite auftischt, das wird, fürchte ich, sehr
dazu beitrage", unser geliebtes Deutsch, das sich schon seit Jahren abwärts
bewegt, nur noch rascher herunterzubringen.

Es scheint, daß die ganze Verirrung dnrch den unseligen Einfluß Ibsens
erzeugt worden ist, der zu einer Größe aufgeblasen wird, die er, nach sehr
weit verbreiteter Meinung, nicht im entferntesten besitzt. Ibsen sieht die Natur
uicht mit zwei Augen, sondern nur mit einem, und dieses Auge ist, um bei
dem vorhin gebrauchten Bilde zu bleiben, nicht das Auge Murillos. sondern
das des Lumpensammlers; es ist deshalb nicht die Wahrheit der Natur, die
er uns auftischt, sondern es sind, zuweilen in sehr schmutziger Schüssel, die
Lügen des Naturalismus. Wo er sich vor einen großen Stoff gestellt sieht,
Wie im Julian (Kaiser und Galiläer -- er selbst nennt das Stück großwortig
ein welthistorisches Schauspiel) da zeigt sich sein ganzes künstlerisches Unver¬
mögen und der Mangel jeder dichterischen Phantasie. Gerade beim Julian
fließen die Quellen sehr reichlich; wir haben seine eignen Schriften, die Schriften
seiner Lehrer und die Schmähschriften seiner christlichen Gegner. Sichtlich hat
Ibsen sie alle durchstudirt und ausgeschrieben, jede kleinste Anekdote findet sich
in seinem Buche dramatisirt wieder. Damit aber schafft man kein einheitliches
Kunstwerk und flößt seinen Figuren nicht einen einzigen Tropfen warmqnellenden
Lebensblutes ein, noch genügt es, das Gepräge und die Farbe der Zeit wieder¬
zugeben. Wenn man will, ist auch der Shakespearische Julius Cäsar nichts
weiter als ein dramatisirter Plutarch; es ist auch Shakespeare nicht gelungen,
die Handlung einheitlich zu gestalten. Aber hiervon abgesehen, welchen Zu¬
sammenhang hat dennoch das ganze Werk, wie drängt sich notwendig das eine
ans dem andern, von welchem wunderbaren Leben sind die Gestalten bis auf
die Knochen erfüllt, und wie echt ist doch trotz des englischen Gewandes das
Römertum gezeichnet!

Krankheiten der Zeit sind ansteckend und ergreifen oft das ganze Volk,
auch wenn sie ursprünglich nur auf einen kleinen Kreis beschränkt waren, oder
gar, wie die Narrheit der Wolltracht, nur vou einer einzelnen Persönlichkeit
ausgingen. Soll Ibsen unser Vorbild werden, dann mag Melpomene in ein
Kloster gehen; im übrigen aber heißt es in den Sprüchen Salomonis: Jeg¬
liches Ding hat seine Zeit: behalten und wegwerfen.




Grenzbvte" III 189141
Die freie Bühne und der Naturalismus

selten der Dialekte in voller Breite auftischt, das wird, fürchte ich, sehr
dazu beitrage», unser geliebtes Deutsch, das sich schon seit Jahren abwärts
bewegt, nur noch rascher herunterzubringen.

Es scheint, daß die ganze Verirrung dnrch den unseligen Einfluß Ibsens
erzeugt worden ist, der zu einer Größe aufgeblasen wird, die er, nach sehr
weit verbreiteter Meinung, nicht im entferntesten besitzt. Ibsen sieht die Natur
uicht mit zwei Augen, sondern nur mit einem, und dieses Auge ist, um bei
dem vorhin gebrauchten Bilde zu bleiben, nicht das Auge Murillos. sondern
das des Lumpensammlers; es ist deshalb nicht die Wahrheit der Natur, die
er uns auftischt, sondern es sind, zuweilen in sehr schmutziger Schüssel, die
Lügen des Naturalismus. Wo er sich vor einen großen Stoff gestellt sieht,
Wie im Julian (Kaiser und Galiläer — er selbst nennt das Stück großwortig
ein welthistorisches Schauspiel) da zeigt sich sein ganzes künstlerisches Unver¬
mögen und der Mangel jeder dichterischen Phantasie. Gerade beim Julian
fließen die Quellen sehr reichlich; wir haben seine eignen Schriften, die Schriften
seiner Lehrer und die Schmähschriften seiner christlichen Gegner. Sichtlich hat
Ibsen sie alle durchstudirt und ausgeschrieben, jede kleinste Anekdote findet sich
in seinem Buche dramatisirt wieder. Damit aber schafft man kein einheitliches
Kunstwerk und flößt seinen Figuren nicht einen einzigen Tropfen warmqnellenden
Lebensblutes ein, noch genügt es, das Gepräge und die Farbe der Zeit wieder¬
zugeben. Wenn man will, ist auch der Shakespearische Julius Cäsar nichts
weiter als ein dramatisirter Plutarch; es ist auch Shakespeare nicht gelungen,
die Handlung einheitlich zu gestalten. Aber hiervon abgesehen, welchen Zu¬
sammenhang hat dennoch das ganze Werk, wie drängt sich notwendig das eine
ans dem andern, von welchem wunderbaren Leben sind die Gestalten bis auf
die Knochen erfüllt, und wie echt ist doch trotz des englischen Gewandes das
Römertum gezeichnet!

Krankheiten der Zeit sind ansteckend und ergreifen oft das ganze Volk,
auch wenn sie ursprünglich nur auf einen kleinen Kreis beschränkt waren, oder
gar, wie die Narrheit der Wolltracht, nur vou einer einzelnen Persönlichkeit
ausgingen. Soll Ibsen unser Vorbild werden, dann mag Melpomene in ein
Kloster gehen; im übrigen aber heißt es in den Sprüchen Salomonis: Jeg¬
liches Ding hat seine Zeit: behalten und wegwerfen.




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[0329] Die freie Bühne und der Naturalismus selten der Dialekte in voller Breite auftischt, das wird, fürchte ich, sehr dazu beitrage», unser geliebtes Deutsch, das sich schon seit Jahren abwärts bewegt, nur noch rascher herunterzubringen. Es scheint, daß die ganze Verirrung dnrch den unseligen Einfluß Ibsens erzeugt worden ist, der zu einer Größe aufgeblasen wird, die er, nach sehr weit verbreiteter Meinung, nicht im entferntesten besitzt. Ibsen sieht die Natur uicht mit zwei Augen, sondern nur mit einem, und dieses Auge ist, um bei dem vorhin gebrauchten Bilde zu bleiben, nicht das Auge Murillos. sondern das des Lumpensammlers; es ist deshalb nicht die Wahrheit der Natur, die er uns auftischt, sondern es sind, zuweilen in sehr schmutziger Schüssel, die Lügen des Naturalismus. Wo er sich vor einen großen Stoff gestellt sieht, Wie im Julian (Kaiser und Galiläer — er selbst nennt das Stück großwortig ein welthistorisches Schauspiel) da zeigt sich sein ganzes künstlerisches Unver¬ mögen und der Mangel jeder dichterischen Phantasie. Gerade beim Julian fließen die Quellen sehr reichlich; wir haben seine eignen Schriften, die Schriften seiner Lehrer und die Schmähschriften seiner christlichen Gegner. Sichtlich hat Ibsen sie alle durchstudirt und ausgeschrieben, jede kleinste Anekdote findet sich in seinem Buche dramatisirt wieder. Damit aber schafft man kein einheitliches Kunstwerk und flößt seinen Figuren nicht einen einzigen Tropfen warmqnellenden Lebensblutes ein, noch genügt es, das Gepräge und die Farbe der Zeit wieder¬ zugeben. Wenn man will, ist auch der Shakespearische Julius Cäsar nichts weiter als ein dramatisirter Plutarch; es ist auch Shakespeare nicht gelungen, die Handlung einheitlich zu gestalten. Aber hiervon abgesehen, welchen Zu¬ sammenhang hat dennoch das ganze Werk, wie drängt sich notwendig das eine ans dem andern, von welchem wunderbaren Leben sind die Gestalten bis auf die Knochen erfüllt, und wie echt ist doch trotz des englischen Gewandes das Römertum gezeichnet! Krankheiten der Zeit sind ansteckend und ergreifen oft das ganze Volk, auch wenn sie ursprünglich nur auf einen kleinen Kreis beschränkt waren, oder gar, wie die Narrheit der Wolltracht, nur vou einer einzelnen Persönlichkeit ausgingen. Soll Ibsen unser Vorbild werden, dann mag Melpomene in ein Kloster gehen; im übrigen aber heißt es in den Sprüchen Salomonis: Jeg¬ liches Ding hat seine Zeit: behalten und wegwerfen. Grenzbvte» III 189141

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/329>, abgerufen am 26.08.2024.