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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Aus dänischer Zeit

sahen dabei weit in die Ferne. An was dachte er wohl? An die siebzehn¬
jährige Frau und den ,,Kinderkram"?

,,Herr Steinberg, wie heißt denn dein Stück?" fragte ich.

Er fuhr etwas zusammen und lächelte. ,,Es hat gar keinen Namen!"

"Aber jemand hat es sich doch gewiß ausgedacht und dem Stück einen
Namen gegeben! Mein Stück heißt doch die "letzte Rose," und Jürgen
spielt ein Stück, das heißt "Die Schlacht von Prag." Da schießen die Ka¬
nonen darin, und die Verwundeten schreien!"

"Meine Melodie hat keinen Namen!" murmelte er. ,,Sie ist schon lange
in mir gewesen. Einmal habe ich sie aufgeschrieben mit andern Sachen und
dem Hofkapellmeister gegeben. Und er sagte, ich sollte ihm nur mehr bringen."

Der Stadtmusikus spielte leise weiter bei diesen Worten, und ich sah unser
altes Klavier mit einiger Verwunderung an. Konnte es wirklich so hübsch
klingen? ,,Hast dn ihm denn mehr Stücke gebracht?" fragte ich, und Stein-
berg nickte. ,,Jch brachte ihm wohl mehr. Aber -- als nachher die Oper
vom Herrn Hofkapellmeister aufgeführt wurde und meine Melodie" drin waren,
da meinte ich--" Hier stockte er, und das Klavier ward auch still.

"Es kam alles anders, als ich dachte!" sagte er nach einer Pause. "Es
waren auch nicht meine Melodien, die der Herr Kapellmeister genommen hatte,
ich hatte mich geirrt und -- mußte fort!"

Er stand auf und drehte an den Saiten. Frau Harding nahte weiter
und nickte mit dem Kopfe. "Irren ist menschlich!" sagte sie salbungsvoll.
"Das kommt wirklich furchtbar leicht vor, denn ich meinte auch, Sie wären all
an die Siebzig, aber das war ein Irrtum. Viele Leute sagen auch, ich wäre
vierzig; das ist eine großartige Lüge, weil ich erst letzte Weihnacht achtund-
dreißig geworden bin!"

Ob der Stadtmusikus das gehört hatte, weiß ich nicht; er saß noch immer
und sah still vor sich hin, wahrend ich das Zimmer verließ. Vier Wochen
später nähte Frau Harding wieder bei uns. "Das ist aber zum letztenmal!"
sagte sie mit wichtigem Gesicht. "Lieber Gott, Herr Steinberg ist doch zu
furchtbar allein; das kauu ja jedem Christenmenschen leid thun! Er hat mir
gefragt, ob ich nicht für ihn kochen wollte. Meinen kleinen Jungen kann ich
mitbringen, und ein klein bischen Geld habe ich ja noch von meinem ver¬
storbenen Mann, so brauche ich von ihm keinen Lohn!"

Also zog Frau .Harding zu Herrn Steinberg, und die Leute meinten,
beide würden sich wohl heiraten. Der Stadtmusikus aber ging immer stiller
herum. Wenn er zu uns zum Stimmen kam, dann spielte er gar keine hübschen
Melodien mehr, sondern starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Und eines Tages
hatte Großvaters Schreiber, Rasmus, eine Neuigkeit zu berichten: der Stadt¬
musikus hatte sich erschossen! In seinem kleinen, engen Zimmer hatten sie ihn
gefunden, deu Kopf auf die Kreidezeichnung eines schönen, jungen Weibes ge-


Aus dänischer Zeit

sahen dabei weit in die Ferne. An was dachte er wohl? An die siebzehn¬
jährige Frau und den ,,Kinderkram"?

,,Herr Steinberg, wie heißt denn dein Stück?" fragte ich.

Er fuhr etwas zusammen und lächelte. ,,Es hat gar keinen Namen!"

„Aber jemand hat es sich doch gewiß ausgedacht und dem Stück einen
Namen gegeben! Mein Stück heißt doch die »letzte Rose,« und Jürgen
spielt ein Stück, das heißt »Die Schlacht von Prag.« Da schießen die Ka¬
nonen darin, und die Verwundeten schreien!"

„Meine Melodie hat keinen Namen!" murmelte er. ,,Sie ist schon lange
in mir gewesen. Einmal habe ich sie aufgeschrieben mit andern Sachen und
dem Hofkapellmeister gegeben. Und er sagte, ich sollte ihm nur mehr bringen."

Der Stadtmusikus spielte leise weiter bei diesen Worten, und ich sah unser
altes Klavier mit einiger Verwunderung an. Konnte es wirklich so hübsch
klingen? ,,Hast dn ihm denn mehr Stücke gebracht?" fragte ich, und Stein-
berg nickte. ,,Jch brachte ihm wohl mehr. Aber — als nachher die Oper
vom Herrn Hofkapellmeister aufgeführt wurde und meine Melodie» drin waren,
da meinte ich--" Hier stockte er, und das Klavier ward auch still.

„Es kam alles anders, als ich dachte!" sagte er nach einer Pause. „Es
waren auch nicht meine Melodien, die der Herr Kapellmeister genommen hatte,
ich hatte mich geirrt und — mußte fort!"

Er stand auf und drehte an den Saiten. Frau Harding nahte weiter
und nickte mit dem Kopfe. „Irren ist menschlich!" sagte sie salbungsvoll.
„Das kommt wirklich furchtbar leicht vor, denn ich meinte auch, Sie wären all
an die Siebzig, aber das war ein Irrtum. Viele Leute sagen auch, ich wäre
vierzig; das ist eine großartige Lüge, weil ich erst letzte Weihnacht achtund-
dreißig geworden bin!"

Ob der Stadtmusikus das gehört hatte, weiß ich nicht; er saß noch immer
und sah still vor sich hin, wahrend ich das Zimmer verließ. Vier Wochen
später nähte Frau Harding wieder bei uns. „Das ist aber zum letztenmal!"
sagte sie mit wichtigem Gesicht. „Lieber Gott, Herr Steinberg ist doch zu
furchtbar allein; das kauu ja jedem Christenmenschen leid thun! Er hat mir
gefragt, ob ich nicht für ihn kochen wollte. Meinen kleinen Jungen kann ich
mitbringen, und ein klein bischen Geld habe ich ja noch von meinem ver¬
storbenen Mann, so brauche ich von ihm keinen Lohn!"

Also zog Frau .Harding zu Herrn Steinberg, und die Leute meinten,
beide würden sich wohl heiraten. Der Stadtmusikus aber ging immer stiller
herum. Wenn er zu uns zum Stimmen kam, dann spielte er gar keine hübschen
Melodien mehr, sondern starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Und eines Tages
hatte Großvaters Schreiber, Rasmus, eine Neuigkeit zu berichten: der Stadt¬
musikus hatte sich erschossen! In seinem kleinen, engen Zimmer hatten sie ihn
gefunden, deu Kopf auf die Kreidezeichnung eines schönen, jungen Weibes ge-


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[0294] Aus dänischer Zeit sahen dabei weit in die Ferne. An was dachte er wohl? An die siebzehn¬ jährige Frau und den ,,Kinderkram"? ,,Herr Steinberg, wie heißt denn dein Stück?" fragte ich. Er fuhr etwas zusammen und lächelte. ,,Es hat gar keinen Namen!" „Aber jemand hat es sich doch gewiß ausgedacht und dem Stück einen Namen gegeben! Mein Stück heißt doch die »letzte Rose,« und Jürgen spielt ein Stück, das heißt »Die Schlacht von Prag.« Da schießen die Ka¬ nonen darin, und die Verwundeten schreien!" „Meine Melodie hat keinen Namen!" murmelte er. ,,Sie ist schon lange in mir gewesen. Einmal habe ich sie aufgeschrieben mit andern Sachen und dem Hofkapellmeister gegeben. Und er sagte, ich sollte ihm nur mehr bringen." Der Stadtmusikus spielte leise weiter bei diesen Worten, und ich sah unser altes Klavier mit einiger Verwunderung an. Konnte es wirklich so hübsch klingen? ,,Hast dn ihm denn mehr Stücke gebracht?" fragte ich, und Stein- berg nickte. ,,Jch brachte ihm wohl mehr. Aber — als nachher die Oper vom Herrn Hofkapellmeister aufgeführt wurde und meine Melodie» drin waren, da meinte ich--" Hier stockte er, und das Klavier ward auch still. „Es kam alles anders, als ich dachte!" sagte er nach einer Pause. „Es waren auch nicht meine Melodien, die der Herr Kapellmeister genommen hatte, ich hatte mich geirrt und — mußte fort!" Er stand auf und drehte an den Saiten. Frau Harding nahte weiter und nickte mit dem Kopfe. „Irren ist menschlich!" sagte sie salbungsvoll. „Das kommt wirklich furchtbar leicht vor, denn ich meinte auch, Sie wären all an die Siebzig, aber das war ein Irrtum. Viele Leute sagen auch, ich wäre vierzig; das ist eine großartige Lüge, weil ich erst letzte Weihnacht achtund- dreißig geworden bin!" Ob der Stadtmusikus das gehört hatte, weiß ich nicht; er saß noch immer und sah still vor sich hin, wahrend ich das Zimmer verließ. Vier Wochen später nähte Frau Harding wieder bei uns. „Das ist aber zum letztenmal!" sagte sie mit wichtigem Gesicht. „Lieber Gott, Herr Steinberg ist doch zu furchtbar allein; das kauu ja jedem Christenmenschen leid thun! Er hat mir gefragt, ob ich nicht für ihn kochen wollte. Meinen kleinen Jungen kann ich mitbringen, und ein klein bischen Geld habe ich ja noch von meinem ver¬ storbenen Mann, so brauche ich von ihm keinen Lohn!" Also zog Frau .Harding zu Herrn Steinberg, und die Leute meinten, beide würden sich wohl heiraten. Der Stadtmusikus aber ging immer stiller herum. Wenn er zu uns zum Stimmen kam, dann spielte er gar keine hübschen Melodien mehr, sondern starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Und eines Tages hatte Großvaters Schreiber, Rasmus, eine Neuigkeit zu berichten: der Stadt¬ musikus hatte sich erschossen! In seinem kleinen, engen Zimmer hatten sie ihn gefunden, deu Kopf auf die Kreidezeichnung eines schönen, jungen Weibes ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/294>, abgerufen am 26.08.2024.