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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Theodor Aörners Braut

war so groß, daß man behauptete, es sei kein Auge trocken geblieben, so rüh¬
rend sei ich gewesen. So viel sprach man nach Beendigung der Vorstellung
von meinem großen Talent, und ich sah in den Augen meiner Mutter eine
so lebhafte Satisfaktion darüber, daß ich aus dem Erstaunen gar nicht heraus¬
kommen konnte. Ja dieses Erstaunen war noch viel größer als meine Freude,
denn ich konnte gar nicht begreifen, wo denn das Talent gesteckt habe, von
dem nun so viel gesprochen wurde, und auf welches früher niemand verfallen
war."

Solange ihre Eltern lebten (bis 1804), genoß Toni eine sorgfältige Er¬
ziehung in dem Geiste und Geschmacke jener Zeit. Sie giebt davon selbst
folgende treffliche Schilderung: "Als ich zur Welt kam, hatte" die französischen
Moden ganz Deutschland überschwemmt, aber nicht nur Moden waren es, die
in Ballen versendet wurden und zur Notwendigkeit geworden zu sein schienen,
auch Lehrer und Erzieher, Gouvernanten und Bonnen wurden überall nach
Deutschland berufen, und gar manches Mädchen verlor durch solche Erziehung
den richtigen Leitfaden für das Leben, gar manches tiefe Gemüt ging unter
und wurde störrisch, weil es der Anforderung, sprudelnden Geist zu entwickeln,
nicht zu genügen vermochte. Und im entgegengesetzten Falle gestaltete sich die
Sache nicht selten noch schlimmer, denn so manches talentvolle und lebhafte
Mädchen würde unter einer einfach häuslichen Leitung, die damals bespöttelt
wurde, ein schönes Gleichgewicht erlangt haben. Rousseau hatte seine ver¬
lockenden Schriften über die Welt verbreitet, und jedenfalls sind ihr, was man
auch über ihn sagen mag, seine Grundsätze zu gefährlichem Gifte geworden,
am meisten für uns nachahmende Deutsche. Alles sollte uur geistsprühend sein,
und jeder wollte im Schoße seiner Familie eine Gattung Emil erziehen. In
unser Haus aber mochte dies weniger als in viele andre passen. Und den¬
noch hielt sich dasselbe, so schlicht und einfach es an und für sich auch sein
mochte, von jenem Abwege nicht vollkommen fern. Um die Mädchen mutig,
kraftvoll, degagirt, wie man sich ausdrückte, zu machen, kleidete man sie als
Knaben. Auf die Bäume zu klettern, über Stock und Stein zu springen, jede
Art von körperlicher Ungezwungenheit einzuüben, war Mode geworden. Die
Schaukel mit dein eignen Beine so hoch als möglich zu schleudern, mußte er¬
lernt, zu nicht sehr hohen Fenstern aus- und einzuspringen, mußte versucht
werden, und jedes Handgemenge mit Jungen gereichte dem Mädchen zur Ehre.
Ach, und auch ich war ein in diesem Sinne wohlerzognes Kind! Außer
meinem Bruder Heinrich, der fast sechs Jahr älter war als ich, war ich das
stärkste unter uus Geschwistern. Kräftig gebaut, aber dafür auch unbändig,
wurde mir das letztere immer verziehen, und wenn ich selbst nicht begreifen
konnte, was denn Schönes an meinen Kämpfen mit meinen Brüdern sei, so
unterhielten sie mich doch sehr, besonders wenn ich dabei die Siegerin blieb.
Beklagte ich mich aber je einmal, daß sie mich allzusehr geschlagen hätten, so


Theodor Aörners Braut

war so groß, daß man behauptete, es sei kein Auge trocken geblieben, so rüh¬
rend sei ich gewesen. So viel sprach man nach Beendigung der Vorstellung
von meinem großen Talent, und ich sah in den Augen meiner Mutter eine
so lebhafte Satisfaktion darüber, daß ich aus dem Erstaunen gar nicht heraus¬
kommen konnte. Ja dieses Erstaunen war noch viel größer als meine Freude,
denn ich konnte gar nicht begreifen, wo denn das Talent gesteckt habe, von
dem nun so viel gesprochen wurde, und auf welches früher niemand verfallen
war."

Solange ihre Eltern lebten (bis 1804), genoß Toni eine sorgfältige Er¬
ziehung in dem Geiste und Geschmacke jener Zeit. Sie giebt davon selbst
folgende treffliche Schilderung: „Als ich zur Welt kam, hatte» die französischen
Moden ganz Deutschland überschwemmt, aber nicht nur Moden waren es, die
in Ballen versendet wurden und zur Notwendigkeit geworden zu sein schienen,
auch Lehrer und Erzieher, Gouvernanten und Bonnen wurden überall nach
Deutschland berufen, und gar manches Mädchen verlor durch solche Erziehung
den richtigen Leitfaden für das Leben, gar manches tiefe Gemüt ging unter
und wurde störrisch, weil es der Anforderung, sprudelnden Geist zu entwickeln,
nicht zu genügen vermochte. Und im entgegengesetzten Falle gestaltete sich die
Sache nicht selten noch schlimmer, denn so manches talentvolle und lebhafte
Mädchen würde unter einer einfach häuslichen Leitung, die damals bespöttelt
wurde, ein schönes Gleichgewicht erlangt haben. Rousseau hatte seine ver¬
lockenden Schriften über die Welt verbreitet, und jedenfalls sind ihr, was man
auch über ihn sagen mag, seine Grundsätze zu gefährlichem Gifte geworden,
am meisten für uns nachahmende Deutsche. Alles sollte uur geistsprühend sein,
und jeder wollte im Schoße seiner Familie eine Gattung Emil erziehen. In
unser Haus aber mochte dies weniger als in viele andre passen. Und den¬
noch hielt sich dasselbe, so schlicht und einfach es an und für sich auch sein
mochte, von jenem Abwege nicht vollkommen fern. Um die Mädchen mutig,
kraftvoll, degagirt, wie man sich ausdrückte, zu machen, kleidete man sie als
Knaben. Auf die Bäume zu klettern, über Stock und Stein zu springen, jede
Art von körperlicher Ungezwungenheit einzuüben, war Mode geworden. Die
Schaukel mit dein eignen Beine so hoch als möglich zu schleudern, mußte er¬
lernt, zu nicht sehr hohen Fenstern aus- und einzuspringen, mußte versucht
werden, und jedes Handgemenge mit Jungen gereichte dem Mädchen zur Ehre.
Ach, und auch ich war ein in diesem Sinne wohlerzognes Kind! Außer
meinem Bruder Heinrich, der fast sechs Jahr älter war als ich, war ich das
stärkste unter uus Geschwistern. Kräftig gebaut, aber dafür auch unbändig,
wurde mir das letztere immer verziehen, und wenn ich selbst nicht begreifen
konnte, was denn Schönes an meinen Kämpfen mit meinen Brüdern sei, so
unterhielten sie mich doch sehr, besonders wenn ich dabei die Siegerin blieb.
Beklagte ich mich aber je einmal, daß sie mich allzusehr geschlagen hätten, so


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[0286] Theodor Aörners Braut war so groß, daß man behauptete, es sei kein Auge trocken geblieben, so rüh¬ rend sei ich gewesen. So viel sprach man nach Beendigung der Vorstellung von meinem großen Talent, und ich sah in den Augen meiner Mutter eine so lebhafte Satisfaktion darüber, daß ich aus dem Erstaunen gar nicht heraus¬ kommen konnte. Ja dieses Erstaunen war noch viel größer als meine Freude, denn ich konnte gar nicht begreifen, wo denn das Talent gesteckt habe, von dem nun so viel gesprochen wurde, und auf welches früher niemand verfallen war." Solange ihre Eltern lebten (bis 1804), genoß Toni eine sorgfältige Er¬ ziehung in dem Geiste und Geschmacke jener Zeit. Sie giebt davon selbst folgende treffliche Schilderung: „Als ich zur Welt kam, hatte» die französischen Moden ganz Deutschland überschwemmt, aber nicht nur Moden waren es, die in Ballen versendet wurden und zur Notwendigkeit geworden zu sein schienen, auch Lehrer und Erzieher, Gouvernanten und Bonnen wurden überall nach Deutschland berufen, und gar manches Mädchen verlor durch solche Erziehung den richtigen Leitfaden für das Leben, gar manches tiefe Gemüt ging unter und wurde störrisch, weil es der Anforderung, sprudelnden Geist zu entwickeln, nicht zu genügen vermochte. Und im entgegengesetzten Falle gestaltete sich die Sache nicht selten noch schlimmer, denn so manches talentvolle und lebhafte Mädchen würde unter einer einfach häuslichen Leitung, die damals bespöttelt wurde, ein schönes Gleichgewicht erlangt haben. Rousseau hatte seine ver¬ lockenden Schriften über die Welt verbreitet, und jedenfalls sind ihr, was man auch über ihn sagen mag, seine Grundsätze zu gefährlichem Gifte geworden, am meisten für uns nachahmende Deutsche. Alles sollte uur geistsprühend sein, und jeder wollte im Schoße seiner Familie eine Gattung Emil erziehen. In unser Haus aber mochte dies weniger als in viele andre passen. Und den¬ noch hielt sich dasselbe, so schlicht und einfach es an und für sich auch sein mochte, von jenem Abwege nicht vollkommen fern. Um die Mädchen mutig, kraftvoll, degagirt, wie man sich ausdrückte, zu machen, kleidete man sie als Knaben. Auf die Bäume zu klettern, über Stock und Stein zu springen, jede Art von körperlicher Ungezwungenheit einzuüben, war Mode geworden. Die Schaukel mit dein eignen Beine so hoch als möglich zu schleudern, mußte er¬ lernt, zu nicht sehr hohen Fenstern aus- und einzuspringen, mußte versucht werden, und jedes Handgemenge mit Jungen gereichte dem Mädchen zur Ehre. Ach, und auch ich war ein in diesem Sinne wohlerzognes Kind! Außer meinem Bruder Heinrich, der fast sechs Jahr älter war als ich, war ich das stärkste unter uus Geschwistern. Kräftig gebaut, aber dafür auch unbändig, wurde mir das letztere immer verziehen, und wenn ich selbst nicht begreifen konnte, was denn Schönes an meinen Kämpfen mit meinen Brüdern sei, so unterhielten sie mich doch sehr, besonders wenn ich dabei die Siegerin blieb. Beklagte ich mich aber je einmal, daß sie mich allzusehr geschlagen hätten, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/286>, abgerufen am 26.08.2024.