Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Schiller, Friedrich Schlegel u. a. fanden in der vergleichenden Betrachtung
litterarischer Werke das beste Mittel zu ihrer gründlichen Kenntnis. Je mehr
sich die litterarischen Untersuchungen zersplitterten, und je weniger Frucht die
mühevollen Arbeiten aufwiesen, desto nachdrücklicher verlangten Männer wie
Carriere und Goedeke eine vergleichende Litteraturbetrachtung. Ihre Aufgabe
sollte es sein, alle Einzelforschungen in einem universalhistorischen Geiste zu¬
sammenzufassen, aufzudecken, wie die Dichtkunst mit allen übrigen Äußerungen
des menschlichen Geistes zusammenhänge, wie die Litteratur der verschiednen
Völker auf einander eingewirkt hätte, wie gewisse Stoffe und Ideen durch
verschiedne Nationen wanderten und sich dabei veränderten. Neben dieser
universalhistorischen und internationalen Bestimmung wird ihr noch die Auf¬
gabe zugeteilt, den Charakter der einzelnen Litteraturperiodeu durch Vergleichung
zu bestimmen, die von verschiednen Dichtern behandelten gleichen Stoffe neben
einander zu stellen und dadurch das innere Wesen, den psychologischen Grund¬
zug der Dichter aufzuweisen. Wetz schränkt in seinem erwähnten Buche über
Shakespeare den Kreis dieser Aufgaben bedeutend ein. Sache der vergleichenden
Litteraturgeschichte, sagt er, sei es, analoge Erscheinungen mit einander zu
vergleichen und dadurch in das innerste Wesen jeder einzelnen einzudringen
und die Gesetze zu entdecken, die die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten be¬
wirkt haben. "Durch Vergleichung sucht sie zunächst die Eigentümlichkeiten
litterarischer Erscheinungen möglichst scharf und vollständig zu erkennen. Erst
dann beginnt ihr Hauptgeschäft, für diese eine kausale Erklärung zu geben.
Sie muß zu dem Behufe eine intime, wenn auch mehr in die Tiefe als in
die Breite gehende Vertrautheit mit mehreren Litteraturen besitzen, denn nur
so kann sie sich immer zahlreiche verwandte Erscheinungen gegenwärtig halten
und dem Fehler entgehen, Äußerliches mit Wesentlichen zu verwechseln, Zu¬
fälligen übertriebene Bedeutung beizulegen."

Es ist wohl keine Frage, daß die vergleichende Litteraturgeschichte eine
Zukunft hat, daß erst sie uns eine wirkliche Geschichte der dichtenden Phantasie,
des nationalen Denkens und Empfindens liefern wird, daß erst aus ihr eine
neue, auf Psychologie und Geschichte sicher gebaute Ästhetik entstehen und
dadurch der Weg zu eiuer Psychologie der Litteraturgeschichte gebahnt werden
kann. Wenn Goedeke in seinem "Grundriß zur Geschichte der deutschen
Dichtung" sagt, die ganze deutsche Litteratur seit der Reformation stehe fort¬
dauernd bald unter dem Einfluß der Niederländer, Franzosen, Spanier, bald
unter dem der Engländer, Griechen, Römer, bald unter dem Einfluß aller Welt,
so muß man zugeben, daß der erschreckend dürftige Nest an dichterischer Selb¬
ständigkeit in unsrer Litteratur auf keinem andern Wege als durch eine ver¬
gleichende Kritik ermittelt werden kann. Eine Vergleichung zweier oder mehrerer
Dinge ist aber erst möglich, wenn man jedes einzelne genau kennt. Eine
vergleichende Litteraturgeschichte kann daher nur Sinn und Wort haben, wenn ^


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Schiller, Friedrich Schlegel u. a. fanden in der vergleichenden Betrachtung
litterarischer Werke das beste Mittel zu ihrer gründlichen Kenntnis. Je mehr
sich die litterarischen Untersuchungen zersplitterten, und je weniger Frucht die
mühevollen Arbeiten aufwiesen, desto nachdrücklicher verlangten Männer wie
Carriere und Goedeke eine vergleichende Litteraturbetrachtung. Ihre Aufgabe
sollte es sein, alle Einzelforschungen in einem universalhistorischen Geiste zu¬
sammenzufassen, aufzudecken, wie die Dichtkunst mit allen übrigen Äußerungen
des menschlichen Geistes zusammenhänge, wie die Litteratur der verschiednen
Völker auf einander eingewirkt hätte, wie gewisse Stoffe und Ideen durch
verschiedne Nationen wanderten und sich dabei veränderten. Neben dieser
universalhistorischen und internationalen Bestimmung wird ihr noch die Auf¬
gabe zugeteilt, den Charakter der einzelnen Litteraturperiodeu durch Vergleichung
zu bestimmen, die von verschiednen Dichtern behandelten gleichen Stoffe neben
einander zu stellen und dadurch das innere Wesen, den psychologischen Grund¬
zug der Dichter aufzuweisen. Wetz schränkt in seinem erwähnten Buche über
Shakespeare den Kreis dieser Aufgaben bedeutend ein. Sache der vergleichenden
Litteraturgeschichte, sagt er, sei es, analoge Erscheinungen mit einander zu
vergleichen und dadurch in das innerste Wesen jeder einzelnen einzudringen
und die Gesetze zu entdecken, die die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten be¬
wirkt haben. „Durch Vergleichung sucht sie zunächst die Eigentümlichkeiten
litterarischer Erscheinungen möglichst scharf und vollständig zu erkennen. Erst
dann beginnt ihr Hauptgeschäft, für diese eine kausale Erklärung zu geben.
Sie muß zu dem Behufe eine intime, wenn auch mehr in die Tiefe als in
die Breite gehende Vertrautheit mit mehreren Litteraturen besitzen, denn nur
so kann sie sich immer zahlreiche verwandte Erscheinungen gegenwärtig halten
und dem Fehler entgehen, Äußerliches mit Wesentlichen zu verwechseln, Zu¬
fälligen übertriebene Bedeutung beizulegen."

Es ist wohl keine Frage, daß die vergleichende Litteraturgeschichte eine
Zukunft hat, daß erst sie uns eine wirkliche Geschichte der dichtenden Phantasie,
des nationalen Denkens und Empfindens liefern wird, daß erst aus ihr eine
neue, auf Psychologie und Geschichte sicher gebaute Ästhetik entstehen und
dadurch der Weg zu eiuer Psychologie der Litteraturgeschichte gebahnt werden
kann. Wenn Goedeke in seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen
Dichtung" sagt, die ganze deutsche Litteratur seit der Reformation stehe fort¬
dauernd bald unter dem Einfluß der Niederländer, Franzosen, Spanier, bald
unter dem der Engländer, Griechen, Römer, bald unter dem Einfluß aller Welt,
so muß man zugeben, daß der erschreckend dürftige Nest an dichterischer Selb¬
ständigkeit in unsrer Litteratur auf keinem andern Wege als durch eine ver¬
gleichende Kritik ermittelt werden kann. Eine Vergleichung zweier oder mehrerer
Dinge ist aber erst möglich, wenn man jedes einzelne genau kennt. Eine
vergleichende Litteraturgeschichte kann daher nur Sinn und Wort haben, wenn ^


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0282" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290051"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Aufgabe der Litteraturgeschichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_777" prev="#ID_776"> Schiller, Friedrich Schlegel u. a. fanden in der vergleichenden Betrachtung<lb/>
litterarischer Werke das beste Mittel zu ihrer gründlichen Kenntnis. Je mehr<lb/>
sich die litterarischen Untersuchungen zersplitterten, und je weniger Frucht die<lb/>
mühevollen Arbeiten aufwiesen, desto nachdrücklicher verlangten Männer wie<lb/>
Carriere und Goedeke eine vergleichende Litteraturbetrachtung. Ihre Aufgabe<lb/>
sollte es sein, alle Einzelforschungen in einem universalhistorischen Geiste zu¬<lb/>
sammenzufassen, aufzudecken, wie die Dichtkunst mit allen übrigen Äußerungen<lb/>
des menschlichen Geistes zusammenhänge, wie die Litteratur der verschiednen<lb/>
Völker auf einander eingewirkt hätte, wie gewisse Stoffe und Ideen durch<lb/>
verschiedne Nationen wanderten und sich dabei veränderten. Neben dieser<lb/>
universalhistorischen und internationalen Bestimmung wird ihr noch die Auf¬<lb/>
gabe zugeteilt, den Charakter der einzelnen Litteraturperiodeu durch Vergleichung<lb/>
zu bestimmen, die von verschiednen Dichtern behandelten gleichen Stoffe neben<lb/>
einander zu stellen und dadurch das innere Wesen, den psychologischen Grund¬<lb/>
zug der Dichter aufzuweisen. Wetz schränkt in seinem erwähnten Buche über<lb/>
Shakespeare den Kreis dieser Aufgaben bedeutend ein. Sache der vergleichenden<lb/>
Litteraturgeschichte, sagt er, sei es, analoge Erscheinungen mit einander zu<lb/>
vergleichen und dadurch in das innerste Wesen jeder einzelnen einzudringen<lb/>
und die Gesetze zu entdecken, die die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten be¬<lb/>
wirkt haben. &#x201E;Durch Vergleichung sucht sie zunächst die Eigentümlichkeiten<lb/>
litterarischer Erscheinungen möglichst scharf und vollständig zu erkennen. Erst<lb/>
dann beginnt ihr Hauptgeschäft, für diese eine kausale Erklärung zu geben.<lb/>
Sie muß zu dem Behufe eine intime, wenn auch mehr in die Tiefe als in<lb/>
die Breite gehende Vertrautheit mit mehreren Litteraturen besitzen, denn nur<lb/>
so kann sie sich immer zahlreiche verwandte Erscheinungen gegenwärtig halten<lb/>
und dem Fehler entgehen, Äußerliches mit Wesentlichen zu verwechseln, Zu¬<lb/>
fälligen übertriebene Bedeutung beizulegen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_778" next="#ID_779"> Es ist wohl keine Frage, daß die vergleichende Litteraturgeschichte eine<lb/>
Zukunft hat, daß erst sie uns eine wirkliche Geschichte der dichtenden Phantasie,<lb/>
des nationalen Denkens und Empfindens liefern wird, daß erst aus ihr eine<lb/>
neue, auf Psychologie und Geschichte sicher gebaute Ästhetik entstehen und<lb/>
dadurch der Weg zu eiuer Psychologie der Litteraturgeschichte gebahnt werden<lb/>
kann. Wenn Goedeke in seinem &#x201E;Grundriß zur Geschichte der deutschen<lb/>
Dichtung" sagt, die ganze deutsche Litteratur seit der Reformation stehe fort¬<lb/>
dauernd bald unter dem Einfluß der Niederländer, Franzosen, Spanier, bald<lb/>
unter dem der Engländer, Griechen, Römer, bald unter dem Einfluß aller Welt,<lb/>
so muß man zugeben, daß der erschreckend dürftige Nest an dichterischer Selb¬<lb/>
ständigkeit in unsrer Litteratur auf keinem andern Wege als durch eine ver¬<lb/>
gleichende Kritik ermittelt werden kann. Eine Vergleichung zweier oder mehrerer<lb/>
Dinge ist aber erst möglich, wenn man jedes einzelne genau kennt. Eine<lb/>
vergleichende Litteraturgeschichte kann daher nur Sinn und Wort haben, wenn ^</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0282] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte Schiller, Friedrich Schlegel u. a. fanden in der vergleichenden Betrachtung litterarischer Werke das beste Mittel zu ihrer gründlichen Kenntnis. Je mehr sich die litterarischen Untersuchungen zersplitterten, und je weniger Frucht die mühevollen Arbeiten aufwiesen, desto nachdrücklicher verlangten Männer wie Carriere und Goedeke eine vergleichende Litteraturbetrachtung. Ihre Aufgabe sollte es sein, alle Einzelforschungen in einem universalhistorischen Geiste zu¬ sammenzufassen, aufzudecken, wie die Dichtkunst mit allen übrigen Äußerungen des menschlichen Geistes zusammenhänge, wie die Litteratur der verschiednen Völker auf einander eingewirkt hätte, wie gewisse Stoffe und Ideen durch verschiedne Nationen wanderten und sich dabei veränderten. Neben dieser universalhistorischen und internationalen Bestimmung wird ihr noch die Auf¬ gabe zugeteilt, den Charakter der einzelnen Litteraturperiodeu durch Vergleichung zu bestimmen, die von verschiednen Dichtern behandelten gleichen Stoffe neben einander zu stellen und dadurch das innere Wesen, den psychologischen Grund¬ zug der Dichter aufzuweisen. Wetz schränkt in seinem erwähnten Buche über Shakespeare den Kreis dieser Aufgaben bedeutend ein. Sache der vergleichenden Litteraturgeschichte, sagt er, sei es, analoge Erscheinungen mit einander zu vergleichen und dadurch in das innerste Wesen jeder einzelnen einzudringen und die Gesetze zu entdecken, die die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten be¬ wirkt haben. „Durch Vergleichung sucht sie zunächst die Eigentümlichkeiten litterarischer Erscheinungen möglichst scharf und vollständig zu erkennen. Erst dann beginnt ihr Hauptgeschäft, für diese eine kausale Erklärung zu geben. Sie muß zu dem Behufe eine intime, wenn auch mehr in die Tiefe als in die Breite gehende Vertrautheit mit mehreren Litteraturen besitzen, denn nur so kann sie sich immer zahlreiche verwandte Erscheinungen gegenwärtig halten und dem Fehler entgehen, Äußerliches mit Wesentlichen zu verwechseln, Zu¬ fälligen übertriebene Bedeutung beizulegen." Es ist wohl keine Frage, daß die vergleichende Litteraturgeschichte eine Zukunft hat, daß erst sie uns eine wirkliche Geschichte der dichtenden Phantasie, des nationalen Denkens und Empfindens liefern wird, daß erst aus ihr eine neue, auf Psychologie und Geschichte sicher gebaute Ästhetik entstehen und dadurch der Weg zu eiuer Psychologie der Litteraturgeschichte gebahnt werden kann. Wenn Goedeke in seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung" sagt, die ganze deutsche Litteratur seit der Reformation stehe fort¬ dauernd bald unter dem Einfluß der Niederländer, Franzosen, Spanier, bald unter dem der Engländer, Griechen, Römer, bald unter dem Einfluß aller Welt, so muß man zugeben, daß der erschreckend dürftige Nest an dichterischer Selb¬ ständigkeit in unsrer Litteratur auf keinem andern Wege als durch eine ver¬ gleichende Kritik ermittelt werden kann. Eine Vergleichung zweier oder mehrerer Dinge ist aber erst möglich, wenn man jedes einzelne genau kennt. Eine vergleichende Litteraturgeschichte kann daher nur Sinn und Wort haben, wenn ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/282
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/282>, abgerufen am 26.08.2024.