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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

und Gegenwart stammenden Gedankcnlösnngen, aus denen sich von selbst neue
Krystalle absetzten. Diese geistigen Verbindungen wieder in die einzelnen Be¬
standteile zu zerlegen, ähnlich wie es der Chemiker mit seinen Stoffen thut,
das soll die Aufgabe der analytischen Kritik und der wahren modernen Litteratur¬
geschichte sein. Taine, der Begründer dieser analytischen Methode, hat die von
Sainte-Beuve metaphorisch gebrauchte Bezeichnung, die Litteraturgeschichte sei
eine Histoiro naturelle ach ksprits, wörtlich genommen und die Gesetze des
physischen Lebens in vollem Umfange auf das geistige und seelische Leben
übertragen. Die Naturforscher, sagt er, haben bemerkt, daß die verschiednen
Organe eines Tieres von einander abhängig sind, daß sich z. B. die Zähne,
der Magen, die Füße, der Instinkt und viele andre Dinge immer zu gleicher
Zeit und in bestimmten Verhältnissen verändern, und zwar so, daß jede Ver¬
änderung des einen Teiles auch die übrigen entsprechend umgestaltet. Ebenso
konnten, meint Taine, die Geschichtsforscher bemerken, daß die verschiednen
Fähigkeiten und Neigungen eines Menschen, einer Rasse oder auch einer
ganzen Zeit mit einander derartig verbunden seien, daß eine einzige Verände-
rung eines wesentlichen Zuges alle Fähigkeiten und Neigungen der Menschen
beeinflusse. Die Naturforscher hätten festgestellt, daß die übermäßige Ent¬
wicklung eines Organs bei einem Tiere die Verkrüpplnng oder das völlige
Verschwinden andrer Organe zur Folge habe. Ebenso könnten die Geschichts¬
forscher bestätigen, daß die außerordentliche Entwicklung einer einzigen
Fähigkeit, z. B. die moralische Anlage bei der germanischen oder die meta¬
physische und religiöse bei der indischen Rasse, die entgegengesetzten Fähigkeiten
unverkennbar schwache oder völlig lähme. Die Naturforscher hätten bewiesen,
daß unter den Charakterzügen einer Tier- oder einer Pflanzengattung die
einen untergeordnet, veränderlich oder verkümmert seien, andre dagegen, z. B.
die konzentrischen Lagerungen in einer Pflanze oder der Aufbau um eine
Wirbelsäule beim Tiere, vorherrschten und die ganze Form des Einzelwesens
bestimmten. Ebenso könnten die Geschichtsforscher beweisen, daß unter den
Charakterzügen einer Menschengruppe oder einer einzelnen Person die einen
nebensächlich und unbedeutend seien, während andre, z. B. der vorwiegende
Reichtum an Bildern und Ideen oder die Fähigkeit, allgemeine Begriffe zu
bilden, vorherrschten und von vornherein dem betreffenden Menschen die Rich¬
tung seines Lebens und seiner 'geistigen Thätigkeit unverrückbar bestimmten.
Taine nennt diese Erscheinung der Wechselbeziehungen 1a loi Ass cksvenä-inovs
rnuwellös und bezeichnet seine litterarische Methode als eine angewandte
Botanik, die es jedoch nicht mit Pflanzen, sondern mit Werken des mensch¬
lichen Geistes zu thun habe. Nur dort könne eine Pflanze gedeihen, sich
beständig entwickeln, üppig blühen und neues Leben bergende Früchte erzengen,
wo sich alle äußern Bedingungen für ihr Wachstum: Keimgesundheit, Boden,
Klima, Umgebung, zu einer günstigen gemeinsamen Triebkraft vereinigt hätten;


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

und Gegenwart stammenden Gedankcnlösnngen, aus denen sich von selbst neue
Krystalle absetzten. Diese geistigen Verbindungen wieder in die einzelnen Be¬
standteile zu zerlegen, ähnlich wie es der Chemiker mit seinen Stoffen thut,
das soll die Aufgabe der analytischen Kritik und der wahren modernen Litteratur¬
geschichte sein. Taine, der Begründer dieser analytischen Methode, hat die von
Sainte-Beuve metaphorisch gebrauchte Bezeichnung, die Litteraturgeschichte sei
eine Histoiro naturelle ach ksprits, wörtlich genommen und die Gesetze des
physischen Lebens in vollem Umfange auf das geistige und seelische Leben
übertragen. Die Naturforscher, sagt er, haben bemerkt, daß die verschiednen
Organe eines Tieres von einander abhängig sind, daß sich z. B. die Zähne,
der Magen, die Füße, der Instinkt und viele andre Dinge immer zu gleicher
Zeit und in bestimmten Verhältnissen verändern, und zwar so, daß jede Ver¬
änderung des einen Teiles auch die übrigen entsprechend umgestaltet. Ebenso
konnten, meint Taine, die Geschichtsforscher bemerken, daß die verschiednen
Fähigkeiten und Neigungen eines Menschen, einer Rasse oder auch einer
ganzen Zeit mit einander derartig verbunden seien, daß eine einzige Verände-
rung eines wesentlichen Zuges alle Fähigkeiten und Neigungen der Menschen
beeinflusse. Die Naturforscher hätten festgestellt, daß die übermäßige Ent¬
wicklung eines Organs bei einem Tiere die Verkrüpplnng oder das völlige
Verschwinden andrer Organe zur Folge habe. Ebenso könnten die Geschichts¬
forscher bestätigen, daß die außerordentliche Entwicklung einer einzigen
Fähigkeit, z. B. die moralische Anlage bei der germanischen oder die meta¬
physische und religiöse bei der indischen Rasse, die entgegengesetzten Fähigkeiten
unverkennbar schwache oder völlig lähme. Die Naturforscher hätten bewiesen,
daß unter den Charakterzügen einer Tier- oder einer Pflanzengattung die
einen untergeordnet, veränderlich oder verkümmert seien, andre dagegen, z. B.
die konzentrischen Lagerungen in einer Pflanze oder der Aufbau um eine
Wirbelsäule beim Tiere, vorherrschten und die ganze Form des Einzelwesens
bestimmten. Ebenso könnten die Geschichtsforscher beweisen, daß unter den
Charakterzügen einer Menschengruppe oder einer einzelnen Person die einen
nebensächlich und unbedeutend seien, während andre, z. B. der vorwiegende
Reichtum an Bildern und Ideen oder die Fähigkeit, allgemeine Begriffe zu
bilden, vorherrschten und von vornherein dem betreffenden Menschen die Rich¬
tung seines Lebens und seiner 'geistigen Thätigkeit unverrückbar bestimmten.
Taine nennt diese Erscheinung der Wechselbeziehungen 1a loi Ass cksvenä-inovs
rnuwellös und bezeichnet seine litterarische Methode als eine angewandte
Botanik, die es jedoch nicht mit Pflanzen, sondern mit Werken des mensch¬
lichen Geistes zu thun habe. Nur dort könne eine Pflanze gedeihen, sich
beständig entwickeln, üppig blühen und neues Leben bergende Früchte erzengen,
wo sich alle äußern Bedingungen für ihr Wachstum: Keimgesundheit, Boden,
Klima, Umgebung, zu einer günstigen gemeinsamen Triebkraft vereinigt hätten;


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[0275] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte und Gegenwart stammenden Gedankcnlösnngen, aus denen sich von selbst neue Krystalle absetzten. Diese geistigen Verbindungen wieder in die einzelnen Be¬ standteile zu zerlegen, ähnlich wie es der Chemiker mit seinen Stoffen thut, das soll die Aufgabe der analytischen Kritik und der wahren modernen Litteratur¬ geschichte sein. Taine, der Begründer dieser analytischen Methode, hat die von Sainte-Beuve metaphorisch gebrauchte Bezeichnung, die Litteraturgeschichte sei eine Histoiro naturelle ach ksprits, wörtlich genommen und die Gesetze des physischen Lebens in vollem Umfange auf das geistige und seelische Leben übertragen. Die Naturforscher, sagt er, haben bemerkt, daß die verschiednen Organe eines Tieres von einander abhängig sind, daß sich z. B. die Zähne, der Magen, die Füße, der Instinkt und viele andre Dinge immer zu gleicher Zeit und in bestimmten Verhältnissen verändern, und zwar so, daß jede Ver¬ änderung des einen Teiles auch die übrigen entsprechend umgestaltet. Ebenso konnten, meint Taine, die Geschichtsforscher bemerken, daß die verschiednen Fähigkeiten und Neigungen eines Menschen, einer Rasse oder auch einer ganzen Zeit mit einander derartig verbunden seien, daß eine einzige Verände- rung eines wesentlichen Zuges alle Fähigkeiten und Neigungen der Menschen beeinflusse. Die Naturforscher hätten festgestellt, daß die übermäßige Ent¬ wicklung eines Organs bei einem Tiere die Verkrüpplnng oder das völlige Verschwinden andrer Organe zur Folge habe. Ebenso könnten die Geschichts¬ forscher bestätigen, daß die außerordentliche Entwicklung einer einzigen Fähigkeit, z. B. die moralische Anlage bei der germanischen oder die meta¬ physische und religiöse bei der indischen Rasse, die entgegengesetzten Fähigkeiten unverkennbar schwache oder völlig lähme. Die Naturforscher hätten bewiesen, daß unter den Charakterzügen einer Tier- oder einer Pflanzengattung die einen untergeordnet, veränderlich oder verkümmert seien, andre dagegen, z. B. die konzentrischen Lagerungen in einer Pflanze oder der Aufbau um eine Wirbelsäule beim Tiere, vorherrschten und die ganze Form des Einzelwesens bestimmten. Ebenso könnten die Geschichtsforscher beweisen, daß unter den Charakterzügen einer Menschengruppe oder einer einzelnen Person die einen nebensächlich und unbedeutend seien, während andre, z. B. der vorwiegende Reichtum an Bildern und Ideen oder die Fähigkeit, allgemeine Begriffe zu bilden, vorherrschten und von vornherein dem betreffenden Menschen die Rich¬ tung seines Lebens und seiner 'geistigen Thätigkeit unverrückbar bestimmten. Taine nennt diese Erscheinung der Wechselbeziehungen 1a loi Ass cksvenä-inovs rnuwellös und bezeichnet seine litterarische Methode als eine angewandte Botanik, die es jedoch nicht mit Pflanzen, sondern mit Werken des mensch¬ lichen Geistes zu thun habe. Nur dort könne eine Pflanze gedeihen, sich beständig entwickeln, üppig blühen und neues Leben bergende Früchte erzengen, wo sich alle äußern Bedingungen für ihr Wachstum: Keimgesundheit, Boden, Klima, Umgebung, zu einer günstigen gemeinsamen Triebkraft vereinigt hätten;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/275>, abgerufen am 26.08.2024.