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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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wege und entwickelt hat, daß also Staatsgeschichte und Kulturgeschichte durch¬
aus nicht Hand in Hand zu gehen brauchen, im Gegenteil, wie es im acht¬
zehnten Jahrhundert der Fall war, geradezu feindliche Mächte sein können.
Aber ebenso wenig, wie sich Staat und Kultur decken, ebenso wenig decken sich
Kultur und Litteratur, denn beide stehen durchaus nicht in einem so not¬
wendigen Abhängigkeitsverhältnis, daß der Kulturhistoriker die Litteratur¬
geschichte -- wie Gothein meint -- als eine sichere Führerin gebrauchen konnte,
denn aus einer litterarischen Erscheinung von bleibendem Werte kann man nur
selten einen sichern Rückschluß auf die Kultur, d. h. auf die herrschenden Ideen
der Zeit ziehen; oft ist es geradezu unmöglich, die Ursache ihrer Entstehung
in den vorhandenen Kultur- und Zeitverhältnissen zu finden. Um nur ein
Beispiel anzuführen: wer vermöchte eine so reine und keusche Dichtung wie
?g,ni se Vii-g'mis, wenn ihre Entstehungszeit nicht bekannt wäre, in die sittlich
zerfressene französische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts zu versetzen?
Die Litteraturgeschichte kann nicht die Führerin der Kulturgeschichte sein, denn
beide gehen von andern Gesichtspunkten und andern Wertschätzungen aus.
Ein Werk, das der einen bedeutend erscheint, ist es noch lange nicht sür die
andre. Die Kulturgeschichte braucht vor alleu Dingen Typen; aber die großen
Schriftsteller sind niemals die charakteristischen Typen ihrer Zeit, sie heben
sich überall wie ganz anders geartete und von der großen Masse, die doch
das eigentliche Kulturbild liefert, oft gar uicht verstandue Menschen aus ihrer
Zeit heraus; daher sind die Genies in der That die schlechtesten Führer, wo
es sich darum handelt, den allgemeinen, das Volk beherrschenden Zeitgeist
kennen zu lernen. Welchen falschen Rückschluß würde der Kulturhistoriker z. B.
von Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust auf den Charakter der Zeit
und der Gesellschaft oder aus Margarethe vou Mavarms Heptameron auf die
französischen Hofsitten des sechzehnten Jahrhunderts machen! Nur was aus
dem landläufigen Zeitgeschmack hervorgegangen und von ihm anerkannt worden
ist, das Vorübergehende und Gelegentliche, die Tendenzwerke und die Streit¬
schriften, die allgemeinen Satiren und die gefeierten Machwerke der Modegötzen,
das sind für den Kulturhistvriker die wertvollen Quellen aus der Litteratur.
Eine Litteraturgeschichte von rein kulturhistorischen Standpunkte schreiben
heißt also diese kleinen, künstlerisch oft wertlosen Erzeugnisse zu Bausteinen
machen; mit den mächtigen, uicht für eine bestimmte Zeit und für einen ver¬
fliegenden Geschmack gearbeiteten Säulen und Quadern der großen Meister
kann der Kulturhistoriker nichts anfangen. Ein Gassenhauer ist ihm für seine
Zwecke unter Umständen wichtiger als die herrlichste Symphonie.

Der fruchtbare Gedanke, daß jede Litteratur der Ausdruck der Gesellschaft,
I'sxxrsssiou as sooists sei, ist allmählich bis zur Unvernunft übertrieben
worden. Man leugnet den selbständig schöpferischen Geist und möchte das
Genie für ein bloßes Gefäß halten, mit unendlich vielen aus der Vergangenheit


wege und entwickelt hat, daß also Staatsgeschichte und Kulturgeschichte durch¬
aus nicht Hand in Hand zu gehen brauchen, im Gegenteil, wie es im acht¬
zehnten Jahrhundert der Fall war, geradezu feindliche Mächte sein können.
Aber ebenso wenig, wie sich Staat und Kultur decken, ebenso wenig decken sich
Kultur und Litteratur, denn beide stehen durchaus nicht in einem so not¬
wendigen Abhängigkeitsverhältnis, daß der Kulturhistoriker die Litteratur¬
geschichte — wie Gothein meint — als eine sichere Führerin gebrauchen konnte,
denn aus einer litterarischen Erscheinung von bleibendem Werte kann man nur
selten einen sichern Rückschluß auf die Kultur, d. h. auf die herrschenden Ideen
der Zeit ziehen; oft ist es geradezu unmöglich, die Ursache ihrer Entstehung
in den vorhandenen Kultur- und Zeitverhältnissen zu finden. Um nur ein
Beispiel anzuführen: wer vermöchte eine so reine und keusche Dichtung wie
?g,ni se Vii-g'mis, wenn ihre Entstehungszeit nicht bekannt wäre, in die sittlich
zerfressene französische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts zu versetzen?
Die Litteraturgeschichte kann nicht die Führerin der Kulturgeschichte sein, denn
beide gehen von andern Gesichtspunkten und andern Wertschätzungen aus.
Ein Werk, das der einen bedeutend erscheint, ist es noch lange nicht sür die
andre. Die Kulturgeschichte braucht vor alleu Dingen Typen; aber die großen
Schriftsteller sind niemals die charakteristischen Typen ihrer Zeit, sie heben
sich überall wie ganz anders geartete und von der großen Masse, die doch
das eigentliche Kulturbild liefert, oft gar uicht verstandue Menschen aus ihrer
Zeit heraus; daher sind die Genies in der That die schlechtesten Führer, wo
es sich darum handelt, den allgemeinen, das Volk beherrschenden Zeitgeist
kennen zu lernen. Welchen falschen Rückschluß würde der Kulturhistoriker z. B.
von Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust auf den Charakter der Zeit
und der Gesellschaft oder aus Margarethe vou Mavarms Heptameron auf die
französischen Hofsitten des sechzehnten Jahrhunderts machen! Nur was aus
dem landläufigen Zeitgeschmack hervorgegangen und von ihm anerkannt worden
ist, das Vorübergehende und Gelegentliche, die Tendenzwerke und die Streit¬
schriften, die allgemeinen Satiren und die gefeierten Machwerke der Modegötzen,
das sind für den Kulturhistvriker die wertvollen Quellen aus der Litteratur.
Eine Litteraturgeschichte von rein kulturhistorischen Standpunkte schreiben
heißt also diese kleinen, künstlerisch oft wertlosen Erzeugnisse zu Bausteinen
machen; mit den mächtigen, uicht für eine bestimmte Zeit und für einen ver¬
fliegenden Geschmack gearbeiteten Säulen und Quadern der großen Meister
kann der Kulturhistoriker nichts anfangen. Ein Gassenhauer ist ihm für seine
Zwecke unter Umständen wichtiger als die herrlichste Symphonie.

Der fruchtbare Gedanke, daß jede Litteratur der Ausdruck der Gesellschaft,
I'sxxrsssiou as sooists sei, ist allmählich bis zur Unvernunft übertrieben
worden. Man leugnet den selbständig schöpferischen Geist und möchte das
Genie für ein bloßes Gefäß halten, mit unendlich vielen aus der Vergangenheit


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[0274] wege und entwickelt hat, daß also Staatsgeschichte und Kulturgeschichte durch¬ aus nicht Hand in Hand zu gehen brauchen, im Gegenteil, wie es im acht¬ zehnten Jahrhundert der Fall war, geradezu feindliche Mächte sein können. Aber ebenso wenig, wie sich Staat und Kultur decken, ebenso wenig decken sich Kultur und Litteratur, denn beide stehen durchaus nicht in einem so not¬ wendigen Abhängigkeitsverhältnis, daß der Kulturhistoriker die Litteratur¬ geschichte — wie Gothein meint — als eine sichere Führerin gebrauchen konnte, denn aus einer litterarischen Erscheinung von bleibendem Werte kann man nur selten einen sichern Rückschluß auf die Kultur, d. h. auf die herrschenden Ideen der Zeit ziehen; oft ist es geradezu unmöglich, die Ursache ihrer Entstehung in den vorhandenen Kultur- und Zeitverhältnissen zu finden. Um nur ein Beispiel anzuführen: wer vermöchte eine so reine und keusche Dichtung wie ?g,ni se Vii-g'mis, wenn ihre Entstehungszeit nicht bekannt wäre, in die sittlich zerfressene französische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts zu versetzen? Die Litteraturgeschichte kann nicht die Führerin der Kulturgeschichte sein, denn beide gehen von andern Gesichtspunkten und andern Wertschätzungen aus. Ein Werk, das der einen bedeutend erscheint, ist es noch lange nicht sür die andre. Die Kulturgeschichte braucht vor alleu Dingen Typen; aber die großen Schriftsteller sind niemals die charakteristischen Typen ihrer Zeit, sie heben sich überall wie ganz anders geartete und von der großen Masse, die doch das eigentliche Kulturbild liefert, oft gar uicht verstandue Menschen aus ihrer Zeit heraus; daher sind die Genies in der That die schlechtesten Führer, wo es sich darum handelt, den allgemeinen, das Volk beherrschenden Zeitgeist kennen zu lernen. Welchen falschen Rückschluß würde der Kulturhistoriker z. B. von Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust auf den Charakter der Zeit und der Gesellschaft oder aus Margarethe vou Mavarms Heptameron auf die französischen Hofsitten des sechzehnten Jahrhunderts machen! Nur was aus dem landläufigen Zeitgeschmack hervorgegangen und von ihm anerkannt worden ist, das Vorübergehende und Gelegentliche, die Tendenzwerke und die Streit¬ schriften, die allgemeinen Satiren und die gefeierten Machwerke der Modegötzen, das sind für den Kulturhistvriker die wertvollen Quellen aus der Litteratur. Eine Litteraturgeschichte von rein kulturhistorischen Standpunkte schreiben heißt also diese kleinen, künstlerisch oft wertlosen Erzeugnisse zu Bausteinen machen; mit den mächtigen, uicht für eine bestimmte Zeit und für einen ver¬ fliegenden Geschmack gearbeiteten Säulen und Quadern der großen Meister kann der Kulturhistoriker nichts anfangen. Ein Gassenhauer ist ihm für seine Zwecke unter Umständen wichtiger als die herrlichste Symphonie. Der fruchtbare Gedanke, daß jede Litteratur der Ausdruck der Gesellschaft, I'sxxrsssiou as sooists sei, ist allmählich bis zur Unvernunft übertrieben worden. Man leugnet den selbständig schöpferischen Geist und möchte das Genie für ein bloßes Gefäß halten, mit unendlich vielen aus der Vergangenheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/274>, abgerufen am 26.08.2024.