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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Vie Aufgabe der Litteraturgeschichte

geschichtlichen Litteratnrbehandlung; und in diesem Verhalten, aber auch nur
hierin, reicht er der Philologie die Hand. "Ich habe -- sagt er in seiner Ge¬
schichte der deutschen Dichtung -- mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen
nichts zu thun. Der ästhetische Beurteiler zeigt uns eines Gedichtes Ent¬
stehung aus sich selbst, sein inneres Wachstum und >seine^ Vollendung, seinen
absolute" Wert, sein Verhältnis zu seiner Gattung und etwa zu der Natur
und dem Charakter des Dichters. Der Ästhetiker thut am besten, eine Dich¬
tung so wenig als möglich mit andern und fremden zu vergleichen, dem Ge¬
schichtschreiber ist diese Vergleich ung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt
uns uicht eines Gedichtes, sondern aller dichterischen Erzeugnisse Erflehung
aus der Zeit, aus dem Kreis ihrer Ideen. Thaten und Schicksale; er weist
darin nach, was diesen entspricht oder widerspricht, er sucht unes deu Ursache"
ihres Werdens und ihren Wirkungen und beurteilt ihren Wert hauptsächlich
nach diesen; er vergleicht sie mit dem größte" der Kunstgattung gerade dieser
Zeit und dieses Volkes, in dem sie entstanden, oder je nachdem er seinen Ge¬
sichtskreis ausdehnt, mit den weitern verwandten Erscheinungen in andern
Zeiten und Völkern."

In el"e"t frühern Greuzbotenaufsatze, "Kulturgeschichte und Litteratur¬
geschichte," ist auszuführen versucht worden, daß diese hauptsächlich von Ger-
vinus, Hettner und Lotheißen vertretenen kulturgeschichtlichen Grundsätze un¬
möglich allgemeine Geltung haben können, da der Begriff der Kultur ebenso
schwankend sei wie der der Litteratur, und die Wechselbeziehungen zwischen
beiden gar nicht so selbstverständlich und notwendig seien, wie diese Literar¬
historiker annehmen. Man ist neuerdings auch über das Verhältnis der
politischen Geschichte zur Kulturgeschichte in heftige Fehde geraten.") Während
die einen, deren Vorkämpfer Gothein ist, behaupten, die politische Geschichte
habe einfach in den Dienst der Kulturgeschichte zu treten, nur in der Kultur
eines Volkes liege seine wahre Geschichte und seine ganze Weltstellung be¬
gründet, die wechselnden Staatsformen und politischen Zustände seien weiter
nichts als Folgen der jeweiligen Knlturverhältuisse, sind die andern unter
Schüfers Führung der Ansicht, daß das staatliche Leben die unbedingte Vor¬
aussetzung für jede nationale Kultur sei, daß nicht die Kultur den Staat,
sondern der Staat die Kultur schaffe, und daher nicht das wirtschaftliche, sitt¬
liche oder geistige Leben eines Volkes, sondern der Staat und die politischen
Kämpfe den Mittelpunkt historischer Forschung bilden müßten.

Nun muß man allerdings sagen, daß es Zeiten genug giebt, wo sich das
wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse, sittliche, litterarische und künstlerische
Dasein ganz unabhängig von den politischen Haupt- und Staatsaktionen be-



^) Dietrich Schäfer, Geschichte und Kulturgeschichte. Eine Erwiderung.
Jena, 1891.
Grenzboten til 1891 ^4
Vie Aufgabe der Litteraturgeschichte

geschichtlichen Litteratnrbehandlung; und in diesem Verhalten, aber auch nur
hierin, reicht er der Philologie die Hand. „Ich habe — sagt er in seiner Ge¬
schichte der deutschen Dichtung — mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen
nichts zu thun. Der ästhetische Beurteiler zeigt uns eines Gedichtes Ent¬
stehung aus sich selbst, sein inneres Wachstum und >seine^ Vollendung, seinen
absolute« Wert, sein Verhältnis zu seiner Gattung und etwa zu der Natur
und dem Charakter des Dichters. Der Ästhetiker thut am besten, eine Dich¬
tung so wenig als möglich mit andern und fremden zu vergleichen, dem Ge¬
schichtschreiber ist diese Vergleich ung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt
uns uicht eines Gedichtes, sondern aller dichterischen Erzeugnisse Erflehung
aus der Zeit, aus dem Kreis ihrer Ideen. Thaten und Schicksale; er weist
darin nach, was diesen entspricht oder widerspricht, er sucht unes deu Ursache»
ihres Werdens und ihren Wirkungen und beurteilt ihren Wert hauptsächlich
nach diesen; er vergleicht sie mit dem größte» der Kunstgattung gerade dieser
Zeit und dieses Volkes, in dem sie entstanden, oder je nachdem er seinen Ge¬
sichtskreis ausdehnt, mit den weitern verwandten Erscheinungen in andern
Zeiten und Völkern."

In el»e»t frühern Greuzbotenaufsatze, „Kulturgeschichte und Litteratur¬
geschichte," ist auszuführen versucht worden, daß diese hauptsächlich von Ger-
vinus, Hettner und Lotheißen vertretenen kulturgeschichtlichen Grundsätze un¬
möglich allgemeine Geltung haben können, da der Begriff der Kultur ebenso
schwankend sei wie der der Litteratur, und die Wechselbeziehungen zwischen
beiden gar nicht so selbstverständlich und notwendig seien, wie diese Literar¬
historiker annehmen. Man ist neuerdings auch über das Verhältnis der
politischen Geschichte zur Kulturgeschichte in heftige Fehde geraten.") Während
die einen, deren Vorkämpfer Gothein ist, behaupten, die politische Geschichte
habe einfach in den Dienst der Kulturgeschichte zu treten, nur in der Kultur
eines Volkes liege seine wahre Geschichte und seine ganze Weltstellung be¬
gründet, die wechselnden Staatsformen und politischen Zustände seien weiter
nichts als Folgen der jeweiligen Knlturverhältuisse, sind die andern unter
Schüfers Führung der Ansicht, daß das staatliche Leben die unbedingte Vor¬
aussetzung für jede nationale Kultur sei, daß nicht die Kultur den Staat,
sondern der Staat die Kultur schaffe, und daher nicht das wirtschaftliche, sitt¬
liche oder geistige Leben eines Volkes, sondern der Staat und die politischen
Kämpfe den Mittelpunkt historischer Forschung bilden müßten.

Nun muß man allerdings sagen, daß es Zeiten genug giebt, wo sich das
wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse, sittliche, litterarische und künstlerische
Dasein ganz unabhängig von den politischen Haupt- und Staatsaktionen be-



^) Dietrich Schäfer, Geschichte und Kulturgeschichte. Eine Erwiderung.
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[0273] Vie Aufgabe der Litteraturgeschichte geschichtlichen Litteratnrbehandlung; und in diesem Verhalten, aber auch nur hierin, reicht er der Philologie die Hand. „Ich habe — sagt er in seiner Ge¬ schichte der deutschen Dichtung — mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen nichts zu thun. Der ästhetische Beurteiler zeigt uns eines Gedichtes Ent¬ stehung aus sich selbst, sein inneres Wachstum und >seine^ Vollendung, seinen absolute« Wert, sein Verhältnis zu seiner Gattung und etwa zu der Natur und dem Charakter des Dichters. Der Ästhetiker thut am besten, eine Dich¬ tung so wenig als möglich mit andern und fremden zu vergleichen, dem Ge¬ schichtschreiber ist diese Vergleich ung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt uns uicht eines Gedichtes, sondern aller dichterischen Erzeugnisse Erflehung aus der Zeit, aus dem Kreis ihrer Ideen. Thaten und Schicksale; er weist darin nach, was diesen entspricht oder widerspricht, er sucht unes deu Ursache» ihres Werdens und ihren Wirkungen und beurteilt ihren Wert hauptsächlich nach diesen; er vergleicht sie mit dem größte» der Kunstgattung gerade dieser Zeit und dieses Volkes, in dem sie entstanden, oder je nachdem er seinen Ge¬ sichtskreis ausdehnt, mit den weitern verwandten Erscheinungen in andern Zeiten und Völkern." In el»e»t frühern Greuzbotenaufsatze, „Kulturgeschichte und Litteratur¬ geschichte," ist auszuführen versucht worden, daß diese hauptsächlich von Ger- vinus, Hettner und Lotheißen vertretenen kulturgeschichtlichen Grundsätze un¬ möglich allgemeine Geltung haben können, da der Begriff der Kultur ebenso schwankend sei wie der der Litteratur, und die Wechselbeziehungen zwischen beiden gar nicht so selbstverständlich und notwendig seien, wie diese Literar¬ historiker annehmen. Man ist neuerdings auch über das Verhältnis der politischen Geschichte zur Kulturgeschichte in heftige Fehde geraten.") Während die einen, deren Vorkämpfer Gothein ist, behaupten, die politische Geschichte habe einfach in den Dienst der Kulturgeschichte zu treten, nur in der Kultur eines Volkes liege seine wahre Geschichte und seine ganze Weltstellung be¬ gründet, die wechselnden Staatsformen und politischen Zustände seien weiter nichts als Folgen der jeweiligen Knlturverhältuisse, sind die andern unter Schüfers Führung der Ansicht, daß das staatliche Leben die unbedingte Vor¬ aussetzung für jede nationale Kultur sei, daß nicht die Kultur den Staat, sondern der Staat die Kultur schaffe, und daher nicht das wirtschaftliche, sitt¬ liche oder geistige Leben eines Volkes, sondern der Staat und die politischen Kämpfe den Mittelpunkt historischer Forschung bilden müßten. Nun muß man allerdings sagen, daß es Zeiten genug giebt, wo sich das wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse, sittliche, litterarische und künstlerische Dasein ganz unabhängig von den politischen Haupt- und Staatsaktionen be- ^) Dietrich Schäfer, Geschichte und Kulturgeschichte. Eine Erwiderung. Jena, 1891. Grenzboten til 1891 ^4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/273>, abgerufen am 26.08.2024.