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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Es ist durchaus notwendig, daß sich die Litteratur endlich von dem
Schlepptau der Philologie frei mache und wie die Kunst-, die Kultur-
und die politische Geschichte eine selbständige Stellung im Lehrkörper unsrer
Universitäten einnehme. Ihr Abhüngigkeitsverhältnis von der Philologie ist
ungesund und die Zusammeukoppeluug beider Fächer ebenso unnatürlich, als
wollte man die Philosophie und die Chemie in eine Hand legen. Die Auf¬
gaben der Sprachforscher und der Literarhistoriker sind durchaus verschieden
und bedürfen zu ihrer Losung einer völlig verschiednen Methode. Beide ar¬
beiten nach andern Grundsätzen und müssen daher auch nach andern Gesetzen
beurteilt werden.

Selbst da, wo sie auf demselben Gebiete zusammentreffen, haben sie doch
gänzlich verschiedne Interessen. Für den Philologen sind die litterarischen
Erzeugnisse eines Volkes nur Sprachdenkmäler, für den andern nur Litteratur¬
denkmäler, d. h. Urkunden des denkenden und empfindenden Menschen oder
Volkes. Ein Denkmal kann für den Philologen von großem Werte sein und
doch für den Literarhistoriker nur sehr geringe Bedeutung haben. Wie ver¬
schiedne Kreise muß z. B. die Forschung ziehen, wenn sie die Geschichte der
deutschen Sprache'oder die der deutschen Litteratur untersucht und darstellt!
Die Aufgaben der Litteraturgeschichte sind durch die Philologie allein nicht
zu lösen. Schon Goethe hat in seiner Anzeige von Tiecks dramaturgischen
Blättern darauf hingewiesen, daß sich die litterarische Kritik und die Ästhetik
auch auf Physiologie und Pathologie stützen müßten, "um die Bedingungen
zu erkennen, welchen einzelne Menschen sowohl als ganze Nationen, die all¬
gemeinsten Weltepochen sowohl als der heutige Tag unterworfen sind." Aber
zu den hauptsächlichsten Irrtümern der philologischen Litteraturschreibung ge¬
hört gerade die Ansicht, daß sie mit ihrer Methode jedem denkenden Menschen
das volle Verständnis einer Dichtung zu erschließen vermöge, während doch
in der That nur die wenigen kongenialen Geister dazu gelangen, und daß sie
der Beihilfe andrer Wissenschaften, insbesondre der Knnstphilosophie, völlig
entraten könne. Es gilt unter den philologischen Literarhistorikern noch jetzt
als ein besondres Zeichen gründlicher Wissenschaftlichkeit, auf die Ästhetik mit
Achselzucken hinabzusehen und alle kunstphilosophischen Untersuchungen als
"ästhetisirende Allotria" zu bezeichnen. Wenn man aber genauer zusieht, so
findet man, daß sich die verächtlich hinausgewiesene Ästhetik durch ein Hinter¬
pförtchen sofort wieder einzuschleichen weiß, sobald sich der Verfasser von
seiner philologischen, bibliographischen und biographischen Berichterstattung zu
erheben wagt und die Komposition eines Werkes, seine stilistischen Eigentümlich¬
keiten, seine dichterischen Ideen und künstlerischen Wirkungen darzustellen
versucht.

Dieselbe Abneigung gegen alle Ästhetik und Kunstphilosophie zeigt sich
auch ziemlich stark bei Gervinus, dem eigentlichen Begründer der kultur-


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Es ist durchaus notwendig, daß sich die Litteratur endlich von dem
Schlepptau der Philologie frei mache und wie die Kunst-, die Kultur-
und die politische Geschichte eine selbständige Stellung im Lehrkörper unsrer
Universitäten einnehme. Ihr Abhüngigkeitsverhältnis von der Philologie ist
ungesund und die Zusammeukoppeluug beider Fächer ebenso unnatürlich, als
wollte man die Philosophie und die Chemie in eine Hand legen. Die Auf¬
gaben der Sprachforscher und der Literarhistoriker sind durchaus verschieden
und bedürfen zu ihrer Losung einer völlig verschiednen Methode. Beide ar¬
beiten nach andern Grundsätzen und müssen daher auch nach andern Gesetzen
beurteilt werden.

Selbst da, wo sie auf demselben Gebiete zusammentreffen, haben sie doch
gänzlich verschiedne Interessen. Für den Philologen sind die litterarischen
Erzeugnisse eines Volkes nur Sprachdenkmäler, für den andern nur Litteratur¬
denkmäler, d. h. Urkunden des denkenden und empfindenden Menschen oder
Volkes. Ein Denkmal kann für den Philologen von großem Werte sein und
doch für den Literarhistoriker nur sehr geringe Bedeutung haben. Wie ver¬
schiedne Kreise muß z. B. die Forschung ziehen, wenn sie die Geschichte der
deutschen Sprache'oder die der deutschen Litteratur untersucht und darstellt!
Die Aufgaben der Litteraturgeschichte sind durch die Philologie allein nicht
zu lösen. Schon Goethe hat in seiner Anzeige von Tiecks dramaturgischen
Blättern darauf hingewiesen, daß sich die litterarische Kritik und die Ästhetik
auch auf Physiologie und Pathologie stützen müßten, „um die Bedingungen
zu erkennen, welchen einzelne Menschen sowohl als ganze Nationen, die all¬
gemeinsten Weltepochen sowohl als der heutige Tag unterworfen sind." Aber
zu den hauptsächlichsten Irrtümern der philologischen Litteraturschreibung ge¬
hört gerade die Ansicht, daß sie mit ihrer Methode jedem denkenden Menschen
das volle Verständnis einer Dichtung zu erschließen vermöge, während doch
in der That nur die wenigen kongenialen Geister dazu gelangen, und daß sie
der Beihilfe andrer Wissenschaften, insbesondre der Knnstphilosophie, völlig
entraten könne. Es gilt unter den philologischen Literarhistorikern noch jetzt
als ein besondres Zeichen gründlicher Wissenschaftlichkeit, auf die Ästhetik mit
Achselzucken hinabzusehen und alle kunstphilosophischen Untersuchungen als
„ästhetisirende Allotria" zu bezeichnen. Wenn man aber genauer zusieht, so
findet man, daß sich die verächtlich hinausgewiesene Ästhetik durch ein Hinter¬
pförtchen sofort wieder einzuschleichen weiß, sobald sich der Verfasser von
seiner philologischen, bibliographischen und biographischen Berichterstattung zu
erheben wagt und die Komposition eines Werkes, seine stilistischen Eigentümlich¬
keiten, seine dichterischen Ideen und künstlerischen Wirkungen darzustellen
versucht.

Dieselbe Abneigung gegen alle Ästhetik und Kunstphilosophie zeigt sich
auch ziemlich stark bei Gervinus, dem eigentlichen Begründer der kultur-


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[0272] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte Es ist durchaus notwendig, daß sich die Litteratur endlich von dem Schlepptau der Philologie frei mache und wie die Kunst-, die Kultur- und die politische Geschichte eine selbständige Stellung im Lehrkörper unsrer Universitäten einnehme. Ihr Abhüngigkeitsverhältnis von der Philologie ist ungesund und die Zusammeukoppeluug beider Fächer ebenso unnatürlich, als wollte man die Philosophie und die Chemie in eine Hand legen. Die Auf¬ gaben der Sprachforscher und der Literarhistoriker sind durchaus verschieden und bedürfen zu ihrer Losung einer völlig verschiednen Methode. Beide ar¬ beiten nach andern Grundsätzen und müssen daher auch nach andern Gesetzen beurteilt werden. Selbst da, wo sie auf demselben Gebiete zusammentreffen, haben sie doch gänzlich verschiedne Interessen. Für den Philologen sind die litterarischen Erzeugnisse eines Volkes nur Sprachdenkmäler, für den andern nur Litteratur¬ denkmäler, d. h. Urkunden des denkenden und empfindenden Menschen oder Volkes. Ein Denkmal kann für den Philologen von großem Werte sein und doch für den Literarhistoriker nur sehr geringe Bedeutung haben. Wie ver¬ schiedne Kreise muß z. B. die Forschung ziehen, wenn sie die Geschichte der deutschen Sprache'oder die der deutschen Litteratur untersucht und darstellt! Die Aufgaben der Litteraturgeschichte sind durch die Philologie allein nicht zu lösen. Schon Goethe hat in seiner Anzeige von Tiecks dramaturgischen Blättern darauf hingewiesen, daß sich die litterarische Kritik und die Ästhetik auch auf Physiologie und Pathologie stützen müßten, „um die Bedingungen zu erkennen, welchen einzelne Menschen sowohl als ganze Nationen, die all¬ gemeinsten Weltepochen sowohl als der heutige Tag unterworfen sind." Aber zu den hauptsächlichsten Irrtümern der philologischen Litteraturschreibung ge¬ hört gerade die Ansicht, daß sie mit ihrer Methode jedem denkenden Menschen das volle Verständnis einer Dichtung zu erschließen vermöge, während doch in der That nur die wenigen kongenialen Geister dazu gelangen, und daß sie der Beihilfe andrer Wissenschaften, insbesondre der Knnstphilosophie, völlig entraten könne. Es gilt unter den philologischen Literarhistorikern noch jetzt als ein besondres Zeichen gründlicher Wissenschaftlichkeit, auf die Ästhetik mit Achselzucken hinabzusehen und alle kunstphilosophischen Untersuchungen als „ästhetisirende Allotria" zu bezeichnen. Wenn man aber genauer zusieht, so findet man, daß sich die verächtlich hinausgewiesene Ästhetik durch ein Hinter¬ pförtchen sofort wieder einzuschleichen weiß, sobald sich der Verfasser von seiner philologischen, bibliographischen und biographischen Berichterstattung zu erheben wagt und die Komposition eines Werkes, seine stilistischen Eigentümlich¬ keiten, seine dichterischen Ideen und künstlerischen Wirkungen darzustellen versucht. Dieselbe Abneigung gegen alle Ästhetik und Kunstphilosophie zeigt sich auch ziemlich stark bei Gervinus, dem eigentlichen Begründer der kultur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/272>, abgerufen am 26.08.2024.