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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

abgeleitete Erkenntnis ist, den Mut hat, eine glückliche Unkenntnis in vielen
Dingen der bloßen Kenntnis der Surrogate dieser Dinge vorzuziehen! Nicht
als ob wir in der philologischen Richtung unsrer Zeit die einzige Ursache dieser
Übelstände sähen: allein sie nährt und perpetuirt (?) sie immer wieder und
macht eine energische Bekämpfung so unendlich schwer."

Es ist richtig, das litterargeschichtliche Studium unsrer Philologen hat
es oft weniger mit dem lebendigen Geiste und dem Ideengehalt in den Dich¬
tungen zu thun, als mit toten Formen und leeren Äußerlichkeiten. Ihr ganzes
Streben ist häufig nur darauf gerichtet, über die den Dichter und sein Werk
behandelnden Dissertationen, Abhandlungen und Bücher möglichst genaue und
vollständige Kenntnis zu erlangen und damit gleichsam die Bibliographie zur
Grundlage ihrer Wissenschaft zu machen. Statt das Bauwerk im ganzen zu
überschauen, seine künstlerische Anlage, seinen Charakter und Zweck, seinen Stil
und seine Formen durch eine vergleichende Betrachtung zu erfassen, glaubt
man ein richtiges Bild dadurch zu gewinnen, daß man die Inschriften, Ur¬
teile und Erklärungen eifrig studirt und notirt, die frühere Ausleger und
Kritiker in die einzelnen Bausteine eingeritzt haben. Man spricht sogar schon
von einer Dantelitteratur, Shakespearelitteratur, Goetheliiteratnr n. s. w.,
meint damit aber nicht etwa die Werke dieser Dichter, sondern alle seit ihrem
Auftreten über sie verfaßten Schriften. Dadurch, daß mau die Methode der
Philologie unverändert auf die Litteraturgeschichte übertragen hat, ist ihr Be¬
griff völlig verschoben worden und aus einer Geschichte der dichterischen Ideen
eine Geschichte der Bücher, der Ausgaben und Texte geworden. Im günstigsten
Falle ist man ans diesem Wege zu einer Geschichte der Kritik gekommen, d. h.
zu einer Geschichte der richtigen und irrtümlichen Ansichten früherer und gegen¬
wärtiger Zeit über die litterarischen Werke. Der Geschichtschreiber der Litteratur
aber hat vor allen Dingen den geistigen Inhalt der poetischen Erzeugnisse
aus den Quellen zu erfassen, und dazu giebt es nur ein Mittel, nämlich das,
daß man selbst Geist genug hat, den Geist des Dichters zu erkennen und zu
verstehen. Wer keine goethische Phantasie besitzt, dem bleibt Goethe allezeit
ein dunkles Land, er mag der gediegenste "Goetheforscher" und der gelehrteste
"Faustphilologe" fein und noch so viel kleine und große Fackeln der Text¬
kritik in qualmenden Brand setzen. Die litterarische Kritik der philologischen
Schule ist durch ihr geschäftiges Zusammenschleppen und Aufspeichern wirr
durch einander gemengter, zum Teil völlig wertloser Materialien in der That
am meisten schuld daran, daß das Ansehen der Litteraturgeschichte bei den
Gebildeten immer mehr gesunken ist, daß man sie sür eine bloße Sache des
Fleißes und der Ausdauer und nicht der Begabung hält und allgemein in
La Bruheres Urteil einstimmt: 1^ oritiauiz souvsnt n'sse xas uns soisuos,
v'the un mvtior on it kaut xlus als 8g,ues "no Ä'esxrit, xlu" als er-z-van
Ah oaxavitv, xlus et'IiiMwcl" puo as Kerls.


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

abgeleitete Erkenntnis ist, den Mut hat, eine glückliche Unkenntnis in vielen
Dingen der bloßen Kenntnis der Surrogate dieser Dinge vorzuziehen! Nicht
als ob wir in der philologischen Richtung unsrer Zeit die einzige Ursache dieser
Übelstände sähen: allein sie nährt und perpetuirt (?) sie immer wieder und
macht eine energische Bekämpfung so unendlich schwer."

Es ist richtig, das litterargeschichtliche Studium unsrer Philologen hat
es oft weniger mit dem lebendigen Geiste und dem Ideengehalt in den Dich¬
tungen zu thun, als mit toten Formen und leeren Äußerlichkeiten. Ihr ganzes
Streben ist häufig nur darauf gerichtet, über die den Dichter und sein Werk
behandelnden Dissertationen, Abhandlungen und Bücher möglichst genaue und
vollständige Kenntnis zu erlangen und damit gleichsam die Bibliographie zur
Grundlage ihrer Wissenschaft zu machen. Statt das Bauwerk im ganzen zu
überschauen, seine künstlerische Anlage, seinen Charakter und Zweck, seinen Stil
und seine Formen durch eine vergleichende Betrachtung zu erfassen, glaubt
man ein richtiges Bild dadurch zu gewinnen, daß man die Inschriften, Ur¬
teile und Erklärungen eifrig studirt und notirt, die frühere Ausleger und
Kritiker in die einzelnen Bausteine eingeritzt haben. Man spricht sogar schon
von einer Dantelitteratur, Shakespearelitteratur, Goetheliiteratnr n. s. w.,
meint damit aber nicht etwa die Werke dieser Dichter, sondern alle seit ihrem
Auftreten über sie verfaßten Schriften. Dadurch, daß mau die Methode der
Philologie unverändert auf die Litteraturgeschichte übertragen hat, ist ihr Be¬
griff völlig verschoben worden und aus einer Geschichte der dichterischen Ideen
eine Geschichte der Bücher, der Ausgaben und Texte geworden. Im günstigsten
Falle ist man ans diesem Wege zu einer Geschichte der Kritik gekommen, d. h.
zu einer Geschichte der richtigen und irrtümlichen Ansichten früherer und gegen¬
wärtiger Zeit über die litterarischen Werke. Der Geschichtschreiber der Litteratur
aber hat vor allen Dingen den geistigen Inhalt der poetischen Erzeugnisse
aus den Quellen zu erfassen, und dazu giebt es nur ein Mittel, nämlich das,
daß man selbst Geist genug hat, den Geist des Dichters zu erkennen und zu
verstehen. Wer keine goethische Phantasie besitzt, dem bleibt Goethe allezeit
ein dunkles Land, er mag der gediegenste „Goetheforscher" und der gelehrteste
„Faustphilologe" fein und noch so viel kleine und große Fackeln der Text¬
kritik in qualmenden Brand setzen. Die litterarische Kritik der philologischen
Schule ist durch ihr geschäftiges Zusammenschleppen und Aufspeichern wirr
durch einander gemengter, zum Teil völlig wertloser Materialien in der That
am meisten schuld daran, daß das Ansehen der Litteraturgeschichte bei den
Gebildeten immer mehr gesunken ist, daß man sie sür eine bloße Sache des
Fleißes und der Ausdauer und nicht der Begabung hält und allgemein in
La Bruheres Urteil einstimmt: 1^ oritiauiz souvsnt n'sse xas uns soisuos,
v'the un mvtior on it kaut xlus als 8g,ues «no Ä'esxrit, xlu« als er-z-van
Ah oaxavitv, xlus et'IiiMwcl« puo as Kerls.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/271>, abgerufen am 26.08.2024.