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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

er will sie vererben auf seine Kinder. Ständig aber wird die Macht nur auf
Grundlage des Besitzes, Grundbesitzes oder Kapitals. Die Ehrgeizigen müßten
darnach streben, etwas dem gleichwertiges zu schaffen, vielleicht Grundbesitz
und Kapital unter unteren Namen einzuführen: denn nur der hat Macht über
andre, der die Macht hat über die Mittel zur Befriedigung ihrer notwendigsten
Lebensbedürfnisse. Wer die Macht in den Händen hat, wird andre Ehr¬
geizige durch Verleihung von Grund- und Kapitalbesitz und andern materiellen
Vorteilen an sich fesseln müssen, um nicht bloß geistige und rechtliche, sondern
auch Physische Macht in seinen Händen zu haben. Wahrscheinlich war das
auch einer der Wege, die aus dem alten Gemeineigentum zum Privateigentum
geführt haben, daß die Mächtigen des Stammes (Häuptlinge, Priester) ihren
besonders willfährigen oder geschickten Anhängern, vielleicht auch hie und da
Rivnleu das Recht des ausschließlichen Gebrauches gewisser Güter verliehen
(Tabu); was vielleicht anfangs persönlich war, wurde später erblich. Jeden¬
falls ist die Macht die Grundlage des Privateigentums an Boden und Ka¬
pital und wird stets wieder dahinführen. Im sozialdemokratischen Staate
würde nur der Prozeß von neuem beginnen, der sich bisher vollzogen hat.

Überblicken wir das bisher gewonnene, so sehen wir, daß alles das, was
die Einzelnen zum sozialdemokratischen Staate hintreibt, sie nach seiner Grün¬
dung wieder hinaustreiben müßte. Wir sehen, daß sich die Vergleich ungsge-
fühle Verstürken würden, daß die Unselbständigkeit der Arbeiter zunehmen würde,
daß der unvernünftige Egoismus die Güte der Arbeit Herabdrücken würde, daß
die Bedürfnisse des Einzelnen nicht berücksichtigt werden könnten, daß der Ehr¬
geiz wieder zur Schaffung von Grundbesitz und Kapital führen würde, daß also
im sozialdemokratischen Staat jene Entwicklung nur von neuem beginnen würde,
die sich bisher aus den Urzeiten des Gemeineigentums heraus vollzogen hat.

Der Sozialismus ist überhaupt inkonsequent: er ist einerseits materia¬
listisch, andrerseits idealistisch. Er berücksichtigt nur materielle Gitter, uur die
wirtschaftliche Seite der Gesellschaft und des Staates, er hat wenig Achtung
vor rein geistiger Arbeit, er weist die Religion größtenteils zurück. Und doch
spricht er von sittlichen und menschlichen Pflichten, von den allgemeinen
Menschenrechten, vom Recht auf Arbeit. Er stellt sich also auf den Stand¬
punkt, daß es gewisse ursprüngliche und unveräußerliche Menschenrechte gebe,
d. h. auf den idealen Standpunkt des Naturrechts. Dieser ideale Standpunkt
ist materialistisch gar nicht zu begründen. Aber er ist überhaupt falsch, sobald
man von Thatsachen und nicht von metaphysischen Hirngespinsten ausgeht.
Es giebt kein Recht, bevor nicht eine gesellschaftliche Macht ein positives Recht
geschaffen hat. Vor dem positiven Recht kann es nur gesellschaftliche Be¬
dürfnisse geben und Forderungen, die in diesen Bedürfnissen begründet, aber
keine rechtlichen sind. Ebenso wird es von den sittlichen Anschauungen der
Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit abhängen, ob sie glaubt, daß solche For-


Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

er will sie vererben auf seine Kinder. Ständig aber wird die Macht nur auf
Grundlage des Besitzes, Grundbesitzes oder Kapitals. Die Ehrgeizigen müßten
darnach streben, etwas dem gleichwertiges zu schaffen, vielleicht Grundbesitz
und Kapital unter unteren Namen einzuführen: denn nur der hat Macht über
andre, der die Macht hat über die Mittel zur Befriedigung ihrer notwendigsten
Lebensbedürfnisse. Wer die Macht in den Händen hat, wird andre Ehr¬
geizige durch Verleihung von Grund- und Kapitalbesitz und andern materiellen
Vorteilen an sich fesseln müssen, um nicht bloß geistige und rechtliche, sondern
auch Physische Macht in seinen Händen zu haben. Wahrscheinlich war das
auch einer der Wege, die aus dem alten Gemeineigentum zum Privateigentum
geführt haben, daß die Mächtigen des Stammes (Häuptlinge, Priester) ihren
besonders willfährigen oder geschickten Anhängern, vielleicht auch hie und da
Rivnleu das Recht des ausschließlichen Gebrauches gewisser Güter verliehen
(Tabu); was vielleicht anfangs persönlich war, wurde später erblich. Jeden¬
falls ist die Macht die Grundlage des Privateigentums an Boden und Ka¬
pital und wird stets wieder dahinführen. Im sozialdemokratischen Staate
würde nur der Prozeß von neuem beginnen, der sich bisher vollzogen hat.

Überblicken wir das bisher gewonnene, so sehen wir, daß alles das, was
die Einzelnen zum sozialdemokratischen Staate hintreibt, sie nach seiner Grün¬
dung wieder hinaustreiben müßte. Wir sehen, daß sich die Vergleich ungsge-
fühle Verstürken würden, daß die Unselbständigkeit der Arbeiter zunehmen würde,
daß der unvernünftige Egoismus die Güte der Arbeit Herabdrücken würde, daß
die Bedürfnisse des Einzelnen nicht berücksichtigt werden könnten, daß der Ehr¬
geiz wieder zur Schaffung von Grundbesitz und Kapital führen würde, daß also
im sozialdemokratischen Staat jene Entwicklung nur von neuem beginnen würde,
die sich bisher aus den Urzeiten des Gemeineigentums heraus vollzogen hat.

Der Sozialismus ist überhaupt inkonsequent: er ist einerseits materia¬
listisch, andrerseits idealistisch. Er berücksichtigt nur materielle Gitter, uur die
wirtschaftliche Seite der Gesellschaft und des Staates, er hat wenig Achtung
vor rein geistiger Arbeit, er weist die Religion größtenteils zurück. Und doch
spricht er von sittlichen und menschlichen Pflichten, von den allgemeinen
Menschenrechten, vom Recht auf Arbeit. Er stellt sich also auf den Stand¬
punkt, daß es gewisse ursprüngliche und unveräußerliche Menschenrechte gebe,
d. h. auf den idealen Standpunkt des Naturrechts. Dieser ideale Standpunkt
ist materialistisch gar nicht zu begründen. Aber er ist überhaupt falsch, sobald
man von Thatsachen und nicht von metaphysischen Hirngespinsten ausgeht.
Es giebt kein Recht, bevor nicht eine gesellschaftliche Macht ein positives Recht
geschaffen hat. Vor dem positiven Recht kann es nur gesellschaftliche Be¬
dürfnisse geben und Forderungen, die in diesen Bedürfnissen begründet, aber
keine rechtlichen sind. Ebenso wird es von den sittlichen Anschauungen der
Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit abhängen, ob sie glaubt, daß solche For-


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[0256] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates er will sie vererben auf seine Kinder. Ständig aber wird die Macht nur auf Grundlage des Besitzes, Grundbesitzes oder Kapitals. Die Ehrgeizigen müßten darnach streben, etwas dem gleichwertiges zu schaffen, vielleicht Grundbesitz und Kapital unter unteren Namen einzuführen: denn nur der hat Macht über andre, der die Macht hat über die Mittel zur Befriedigung ihrer notwendigsten Lebensbedürfnisse. Wer die Macht in den Händen hat, wird andre Ehr¬ geizige durch Verleihung von Grund- und Kapitalbesitz und andern materiellen Vorteilen an sich fesseln müssen, um nicht bloß geistige und rechtliche, sondern auch Physische Macht in seinen Händen zu haben. Wahrscheinlich war das auch einer der Wege, die aus dem alten Gemeineigentum zum Privateigentum geführt haben, daß die Mächtigen des Stammes (Häuptlinge, Priester) ihren besonders willfährigen oder geschickten Anhängern, vielleicht auch hie und da Rivnleu das Recht des ausschließlichen Gebrauches gewisser Güter verliehen (Tabu); was vielleicht anfangs persönlich war, wurde später erblich. Jeden¬ falls ist die Macht die Grundlage des Privateigentums an Boden und Ka¬ pital und wird stets wieder dahinführen. Im sozialdemokratischen Staate würde nur der Prozeß von neuem beginnen, der sich bisher vollzogen hat. Überblicken wir das bisher gewonnene, so sehen wir, daß alles das, was die Einzelnen zum sozialdemokratischen Staate hintreibt, sie nach seiner Grün¬ dung wieder hinaustreiben müßte. Wir sehen, daß sich die Vergleich ungsge- fühle Verstürken würden, daß die Unselbständigkeit der Arbeiter zunehmen würde, daß der unvernünftige Egoismus die Güte der Arbeit Herabdrücken würde, daß die Bedürfnisse des Einzelnen nicht berücksichtigt werden könnten, daß der Ehr¬ geiz wieder zur Schaffung von Grundbesitz und Kapital führen würde, daß also im sozialdemokratischen Staat jene Entwicklung nur von neuem beginnen würde, die sich bisher aus den Urzeiten des Gemeineigentums heraus vollzogen hat. Der Sozialismus ist überhaupt inkonsequent: er ist einerseits materia¬ listisch, andrerseits idealistisch. Er berücksichtigt nur materielle Gitter, uur die wirtschaftliche Seite der Gesellschaft und des Staates, er hat wenig Achtung vor rein geistiger Arbeit, er weist die Religion größtenteils zurück. Und doch spricht er von sittlichen und menschlichen Pflichten, von den allgemeinen Menschenrechten, vom Recht auf Arbeit. Er stellt sich also auf den Stand¬ punkt, daß es gewisse ursprüngliche und unveräußerliche Menschenrechte gebe, d. h. auf den idealen Standpunkt des Naturrechts. Dieser ideale Standpunkt ist materialistisch gar nicht zu begründen. Aber er ist überhaupt falsch, sobald man von Thatsachen und nicht von metaphysischen Hirngespinsten ausgeht. Es giebt kein Recht, bevor nicht eine gesellschaftliche Macht ein positives Recht geschaffen hat. Vor dem positiven Recht kann es nur gesellschaftliche Be¬ dürfnisse geben und Forderungen, die in diesen Bedürfnissen begründet, aber keine rechtlichen sind. Ebenso wird es von den sittlichen Anschauungen der Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit abhängen, ob sie glaubt, daß solche For-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/256>, abgerufen am 26.08.2024.