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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

sein wird, sowohl weil die geistigen Anlagen als auch weil die äußern Ver¬
hältnisse bei jedem anders sind; daher wird auch ihre Wechselwirkung ein
verschiednes Ergebnis haben. Diese Verschiedenheit der Bedürfnisse ist sogar
eine Bedingung des menschlichen Fortschritts, sie bringt jene Gegensätze und
Übereinstimmungen uuter den Einzelnen hervor, die Leben und Bewegung in
die Gesellschaft bringen, indem sie einerseits Einigkeit, andrerseits Kampf in
ihr erzengen. Wären die Bedürfnisse aller gleich, so müßte ein Gleichgewicht
aller Bestrebungen entstehen, bei dem eine Entwicklung nicht denkbar wäre.

Nun kam? aber der sozialdemokratische Staat den Bedürfnisse!? der Ein¬
zelnen nur sehr geringen Spielraum? lassen, ist aber doch auch uicht imstande,
die geistigen und physischen Anlage?? sowie die äußern Verhältnisse der
Einzelnen auszugleichen. Daß der sozialdemokratische Staat die geistigen und
Physischen Anlagen der Einzelnen nicht ausgleichen kaun, leuchtet von selbst
ein; aber auch die außer?? Verhältnisse kann er nicht bei allen gleich gestalten,
wenn er auch in wirtschaftlicher Beziehung hier viel zu leisten vermag.
Die Verschiedenheit der äußern Natur hat ja doch zur Ausbildung der ver-
schiednen geistigen und physischen Anlage?? sehr viel beigetragen (wenn sie sie
nicht geschaffen hat), und alle drei zusammen haben die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse erzeugt, uicht umgekehrt, wenn auch die Wechselwirkung zwischen
diesen beiden Gruppen von Verhältnissen nicht zi? unterschätzen sein wird.
Diese Verschiedenheit der äußern Natur bleibt aber fortbestehe?? und wird in
Verbindung mit der Verschiedenheit der geistigen und physischen Anlagen auch
eigentmnliche Charaktere und Bedürfnisse erzeugen. Diese Verschiedenheit der
Bedürfnisse wird Verschiedenheit der Arbeit, sie wird die Berufswahl erfordern.
Diese Berufswahl muß der Sozialismus wegen seiner Zentmlisirung der
Arbeit, seiner einheitlichen Organisation der Arbeit außerordei?euch beschränke??.
Wo ein Rad so ins andre greifen müßte, wie im sozialdemokratischen Staate,
könnte es nicht den? Belieben des Einzelnen überlassen bleiben, wo er das
Rad sein und ob er Rad oder Kurbel oder Schleife sein will; auch wäre es
unmöglich, bei dem Einzelnen vor seiner Ausbildung zu bestimmen, wozu er
taugt; auch konnte?? Versetzungen von eine??? Beruf zum ander?? uur in ge¬
ringen? Maße stattfinden, wenn nicht wieder die Einheit der Arbeit in Frage
gestellt werden und eine Menge Arbeitskraft durch stets erneuerte Ausbildung
verloren gehen sollte.

Auch heutzutage ist zwar die Berufswahl beschränkt durch die Mittel
zur Ausbildung und durch die Aussicht auf Fortkommen; aber es ist ein
großer Unterschied, ob ich durch äußere Verhältnisse bewogen werde, meinen
Bedürfnissen diese oder jene Richtung zu geben, oder ob ich darin einem
fremden Willen gehorchen muß; das letztere ist viel unleidlicher als das erstere.
Auch hier kann man wieder sagen, dasselbe, was jetzt zur Sozialdemokratie
treibt, würde aus ihr hinaustreiben. Die unbemittelten Leute sind ii? ihrer


Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

sein wird, sowohl weil die geistigen Anlagen als auch weil die äußern Ver¬
hältnisse bei jedem anders sind; daher wird auch ihre Wechselwirkung ein
verschiednes Ergebnis haben. Diese Verschiedenheit der Bedürfnisse ist sogar
eine Bedingung des menschlichen Fortschritts, sie bringt jene Gegensätze und
Übereinstimmungen uuter den Einzelnen hervor, die Leben und Bewegung in
die Gesellschaft bringen, indem sie einerseits Einigkeit, andrerseits Kampf in
ihr erzengen. Wären die Bedürfnisse aller gleich, so müßte ein Gleichgewicht
aller Bestrebungen entstehen, bei dem eine Entwicklung nicht denkbar wäre.

Nun kam? aber der sozialdemokratische Staat den Bedürfnisse!? der Ein¬
zelnen nur sehr geringen Spielraum? lassen, ist aber doch auch uicht imstande,
die geistigen und physischen Anlage?? sowie die äußern Verhältnisse der
Einzelnen auszugleichen. Daß der sozialdemokratische Staat die geistigen und
Physischen Anlagen der Einzelnen nicht ausgleichen kaun, leuchtet von selbst
ein; aber auch die außer?? Verhältnisse kann er nicht bei allen gleich gestalten,
wenn er auch in wirtschaftlicher Beziehung hier viel zu leisten vermag.
Die Verschiedenheit der äußern Natur hat ja doch zur Ausbildung der ver-
schiednen geistigen und physischen Anlage?? sehr viel beigetragen (wenn sie sie
nicht geschaffen hat), und alle drei zusammen haben die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse erzeugt, uicht umgekehrt, wenn auch die Wechselwirkung zwischen
diesen beiden Gruppen von Verhältnissen nicht zi? unterschätzen sein wird.
Diese Verschiedenheit der äußern Natur bleibt aber fortbestehe?? und wird in
Verbindung mit der Verschiedenheit der geistigen und physischen Anlagen auch
eigentmnliche Charaktere und Bedürfnisse erzeugen. Diese Verschiedenheit der
Bedürfnisse wird Verschiedenheit der Arbeit, sie wird die Berufswahl erfordern.
Diese Berufswahl muß der Sozialismus wegen seiner Zentmlisirung der
Arbeit, seiner einheitlichen Organisation der Arbeit außerordei?euch beschränke??.
Wo ein Rad so ins andre greifen müßte, wie im sozialdemokratischen Staate,
könnte es nicht den? Belieben des Einzelnen überlassen bleiben, wo er das
Rad sein und ob er Rad oder Kurbel oder Schleife sein will; auch wäre es
unmöglich, bei dem Einzelnen vor seiner Ausbildung zu bestimmen, wozu er
taugt; auch konnte?? Versetzungen von eine??? Beruf zum ander?? uur in ge¬
ringen? Maße stattfinden, wenn nicht wieder die Einheit der Arbeit in Frage
gestellt werden und eine Menge Arbeitskraft durch stets erneuerte Ausbildung
verloren gehen sollte.

Auch heutzutage ist zwar die Berufswahl beschränkt durch die Mittel
zur Ausbildung und durch die Aussicht auf Fortkommen; aber es ist ein
großer Unterschied, ob ich durch äußere Verhältnisse bewogen werde, meinen
Bedürfnissen diese oder jene Richtung zu geben, oder ob ich darin einem
fremden Willen gehorchen muß; das letztere ist viel unleidlicher als das erstere.
Auch hier kann man wieder sagen, dasselbe, was jetzt zur Sozialdemokratie
treibt, würde aus ihr hinaustreiben. Die unbemittelten Leute sind ii? ihrer


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[0253] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates sein wird, sowohl weil die geistigen Anlagen als auch weil die äußern Ver¬ hältnisse bei jedem anders sind; daher wird auch ihre Wechselwirkung ein verschiednes Ergebnis haben. Diese Verschiedenheit der Bedürfnisse ist sogar eine Bedingung des menschlichen Fortschritts, sie bringt jene Gegensätze und Übereinstimmungen uuter den Einzelnen hervor, die Leben und Bewegung in die Gesellschaft bringen, indem sie einerseits Einigkeit, andrerseits Kampf in ihr erzengen. Wären die Bedürfnisse aller gleich, so müßte ein Gleichgewicht aller Bestrebungen entstehen, bei dem eine Entwicklung nicht denkbar wäre. Nun kam? aber der sozialdemokratische Staat den Bedürfnisse!? der Ein¬ zelnen nur sehr geringen Spielraum? lassen, ist aber doch auch uicht imstande, die geistigen und physischen Anlage?? sowie die äußern Verhältnisse der Einzelnen auszugleichen. Daß der sozialdemokratische Staat die geistigen und Physischen Anlagen der Einzelnen nicht ausgleichen kaun, leuchtet von selbst ein; aber auch die außer?? Verhältnisse kann er nicht bei allen gleich gestalten, wenn er auch in wirtschaftlicher Beziehung hier viel zu leisten vermag. Die Verschiedenheit der äußern Natur hat ja doch zur Ausbildung der ver- schiednen geistigen und physischen Anlage?? sehr viel beigetragen (wenn sie sie nicht geschaffen hat), und alle drei zusammen haben die wirtschaftlichen Ver¬ hältnisse erzeugt, uicht umgekehrt, wenn auch die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Gruppen von Verhältnissen nicht zi? unterschätzen sein wird. Diese Verschiedenheit der äußern Natur bleibt aber fortbestehe?? und wird in Verbindung mit der Verschiedenheit der geistigen und physischen Anlagen auch eigentmnliche Charaktere und Bedürfnisse erzeugen. Diese Verschiedenheit der Bedürfnisse wird Verschiedenheit der Arbeit, sie wird die Berufswahl erfordern. Diese Berufswahl muß der Sozialismus wegen seiner Zentmlisirung der Arbeit, seiner einheitlichen Organisation der Arbeit außerordei?euch beschränke??. Wo ein Rad so ins andre greifen müßte, wie im sozialdemokratischen Staate, könnte es nicht den? Belieben des Einzelnen überlassen bleiben, wo er das Rad sein und ob er Rad oder Kurbel oder Schleife sein will; auch wäre es unmöglich, bei dem Einzelnen vor seiner Ausbildung zu bestimmen, wozu er taugt; auch konnte?? Versetzungen von eine??? Beruf zum ander?? uur in ge¬ ringen? Maße stattfinden, wenn nicht wieder die Einheit der Arbeit in Frage gestellt werden und eine Menge Arbeitskraft durch stets erneuerte Ausbildung verloren gehen sollte. Auch heutzutage ist zwar die Berufswahl beschränkt durch die Mittel zur Ausbildung und durch die Aussicht auf Fortkommen; aber es ist ein großer Unterschied, ob ich durch äußere Verhältnisse bewogen werde, meinen Bedürfnissen diese oder jene Richtung zu geben, oder ob ich darin einem fremden Willen gehorchen muß; das letztere ist viel unleidlicher als das erstere. Auch hier kann man wieder sagen, dasselbe, was jetzt zur Sozialdemokratie treibt, würde aus ihr hinaustreiben. Die unbemittelten Leute sind ii? ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/253>, abgerufen am 26.08.2024.