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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokrntischen Staates

laßt uns leben wie die Tiere, wenn wir nur als Tiere glücklich leben!
Sie sind nicht zu widerlegen. Aber ich glaube, daß in jedem Staate,
dessen Volk nicht Physisch und geistig auf der niedrigsten Stufe der Kultur
und der Kraft steht, ehe er auf einen solchen Standpunkt sinken würde, eine
Reaktion eintreten müßte, die die Grundsätze des sozialdemokratischen Staates
verlassen und wieder zum Konkurrenzstaat zurückkehren würde, die einsehen
würde, daß der Egoismus eine notwendige Triebfeder des menschlichen
Handelns ist, eine Triebfeder, die zwar zu deu größten Übelständen sichren
kann, die aber trotzdem uicht fehlen darf, wenn nicht ebensolche Nbelstände
die Folge sein sollen. Jedes Ding hat zwei Seiten; was von der einen Seite
ein Fehler ist, ist von der andern Seite eine Tugend, und die Kunst des prak¬
tischen Lebens besteht darin, den Punkt aufzufinden, wo sich beide Seiten
möglichst das Gleichgewicht halten. Wenige Menschen werden sich sür den
abstrakten Begriff der Gemeinschaft oder Gesellschaft oder der Menschheit
praktisch begeistern oder aufopfern; die Gesellschaft und die Menschheit sind
keine Wesen, die leben oder lieben, Haß oder Liebe einflößen können, sie sind
kalte, leblose Abstraktionen des Einzelnen und erhalten Leben nnr durch die,
die mit diesem Einzelnen leben, und vor allem durch die, die dem bestimmten
Einzelnen wert und teuer sind. Kann man daher deu Einzelnen nicht durch
seinen eignen Borten oder den Vorteil derer, die ihm zunächst stehen, für etwas
interessiren, so kann man ihn dafür meist überhaupt nicht interessiren. Kann
jemand nicht für sich und die Seinen unmittelbar durch seine Mühe Vorteile
gewinnen, so wird er für die ihm unbekannten Glieder der Gesellschaft oder
der Menschheit selten anch nur einen Finger rühren. Deswegen ist es not¬
wendig, daß das egoistische Interesse des Einzelnen eine Anregung sinde, wie
sie ihm die Konkurrenz bietet; natürlich darf die Konkurrenz nicht die Kon¬
kurrenz unmöglich machen, wie das beim Großkapital der Fall ist.

Ein viertes, was der Sozialismus zu übersehen Pflegt, ist daS Be¬
dürfnis. Das Bedürfnis kann dem Genuß einer neuen Lust immer nur folgen,
nie ihm vorhergehen, durch den Genuß wird erst das Bedürfnis erzeugt; man
kann nie das Bedürfnis nach einer Lust haben, die man nicht kennt. Aller¬
dings wird eine gänzlich unbekannte Lust, außer in den Kinderjahren, nie¬
mandem entgegentreten, weil er stets imstande sein wird, sie sich nach be¬
kannten ähnlichen Luftarten wenigstens im allgemeinen vorzustellen. Das
Bedürfnis selbst aber kann psychologisch nicht weiter zerlegt werden, es ist
eine Grundthatsache des menschlichen Seelenlebens. Die Bedürfnisse eines
Menschen werden daher abhängen von den Genüssen feiner Jugend und seines
jugendlichen Mannesalters, und die Auswahl dieser Genüsse wird sich ergeben
aus seinen geistigen Anlagen und den eigentümlichen Lebensverhültnissen, in
denen er erzogen worden und thätig gewesen ist. Es ist nnn klar, daß in¬
folge dessen die Zusammensetzung der Bedürfnisse bei jedem Menschen anders


Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokrntischen Staates

laßt uns leben wie die Tiere, wenn wir nur als Tiere glücklich leben!
Sie sind nicht zu widerlegen. Aber ich glaube, daß in jedem Staate,
dessen Volk nicht Physisch und geistig auf der niedrigsten Stufe der Kultur
und der Kraft steht, ehe er auf einen solchen Standpunkt sinken würde, eine
Reaktion eintreten müßte, die die Grundsätze des sozialdemokratischen Staates
verlassen und wieder zum Konkurrenzstaat zurückkehren würde, die einsehen
würde, daß der Egoismus eine notwendige Triebfeder des menschlichen
Handelns ist, eine Triebfeder, die zwar zu deu größten Übelständen sichren
kann, die aber trotzdem uicht fehlen darf, wenn nicht ebensolche Nbelstände
die Folge sein sollen. Jedes Ding hat zwei Seiten; was von der einen Seite
ein Fehler ist, ist von der andern Seite eine Tugend, und die Kunst des prak¬
tischen Lebens besteht darin, den Punkt aufzufinden, wo sich beide Seiten
möglichst das Gleichgewicht halten. Wenige Menschen werden sich sür den
abstrakten Begriff der Gemeinschaft oder Gesellschaft oder der Menschheit
praktisch begeistern oder aufopfern; die Gesellschaft und die Menschheit sind
keine Wesen, die leben oder lieben, Haß oder Liebe einflößen können, sie sind
kalte, leblose Abstraktionen des Einzelnen und erhalten Leben nnr durch die,
die mit diesem Einzelnen leben, und vor allem durch die, die dem bestimmten
Einzelnen wert und teuer sind. Kann man daher deu Einzelnen nicht durch
seinen eignen Borten oder den Vorteil derer, die ihm zunächst stehen, für etwas
interessiren, so kann man ihn dafür meist überhaupt nicht interessiren. Kann
jemand nicht für sich und die Seinen unmittelbar durch seine Mühe Vorteile
gewinnen, so wird er für die ihm unbekannten Glieder der Gesellschaft oder
der Menschheit selten anch nur einen Finger rühren. Deswegen ist es not¬
wendig, daß das egoistische Interesse des Einzelnen eine Anregung sinde, wie
sie ihm die Konkurrenz bietet; natürlich darf die Konkurrenz nicht die Kon¬
kurrenz unmöglich machen, wie das beim Großkapital der Fall ist.

Ein viertes, was der Sozialismus zu übersehen Pflegt, ist daS Be¬
dürfnis. Das Bedürfnis kann dem Genuß einer neuen Lust immer nur folgen,
nie ihm vorhergehen, durch den Genuß wird erst das Bedürfnis erzeugt; man
kann nie das Bedürfnis nach einer Lust haben, die man nicht kennt. Aller¬
dings wird eine gänzlich unbekannte Lust, außer in den Kinderjahren, nie¬
mandem entgegentreten, weil er stets imstande sein wird, sie sich nach be¬
kannten ähnlichen Luftarten wenigstens im allgemeinen vorzustellen. Das
Bedürfnis selbst aber kann psychologisch nicht weiter zerlegt werden, es ist
eine Grundthatsache des menschlichen Seelenlebens. Die Bedürfnisse eines
Menschen werden daher abhängen von den Genüssen feiner Jugend und seines
jugendlichen Mannesalters, und die Auswahl dieser Genüsse wird sich ergeben
aus seinen geistigen Anlagen und den eigentümlichen Lebensverhültnissen, in
denen er erzogen worden und thätig gewesen ist. Es ist nnn klar, daß in¬
folge dessen die Zusammensetzung der Bedürfnisse bei jedem Menschen anders


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/252>, abgerufen am 26.08.2024.